Teil 13 * Das Menetekel

»Na, da hat uns einer einen Dreck ins Netz gestellt!«
Gesundheitsministerin Manuela Leinemann verzog angewidert das Gesicht. Die nackte Frau, die sich in den Armen von vier zottigen, mit Federn behängten Kerlen wand, hatte ihr Gesicht und ihr Leib war auch etwas füllig. Ihr Bauch war makellos glatt, während Frau Leinemann dort eine feine Narbe von ihrer letzten, nicht ganz geglückten Schönheitsoperation trug.
Dass das Bild auf dem Monitor im Festsaal eine Montage war, erkannte auch Manfred. Irgendetwas daran beunruhigte ihn, nur wusste er nicht, was. Nun schleiften die Kerle die sich windende und schreiende Frau, Manfred hatte ihre Stimme schon gehört, aber wann?, auf etwas, das wie ein überdimensionaler Grabstein mit einer Abflussrinne aussah.
»Typen, die so einen Trash fabrizieren, sollte man ins Bootcamp stecken«, flüsterte Daniela, die mit einer kleinen Delegation der Konservativen zum Abschied der Ministerin gekommen war und dafür ihr bestes Kleid angezogen hatte.
»Und nicht wieder rauslassen«, ergänzte Karl-Arnold.
Einer der Kerle nahm einen großen spitzen Stein und! »Stell doch einer diesen Scheiß ab!«, schimpfte Karl-Arnold.
»Was glauben Sie, was wir hier versuchen?«, klagte Lorenz, der Haustechniker. »Der Scheiß bootet sich immer wieder selbst, wenn wir ihn ausschalten. Ich habe sogar den Stecker rausgezogen, aber jetzt läuft der Dreck mit dem Notstrom.«
»Dann schalten Sie den Notstrom aus!«
»Das Notstromaggregat ist so gebaut, dass man es nicht einfach abschalten kann, wenn ein Gerät darauf zugreift. Tut mir Leid, aber bis wir es heruntergefahren haben, ist der Film schon zu Ende.«
»Technik, wie sie leibt und lebt«, lästerte Manfred. »Hundertprozentig sicher vor den Benutzern.«
Die Frau wimmerte und schrie und immer wieder sauste der Stein auf ihren Brustkorb. Ihre Schreie gellten durch den Saal und jemand warf eine Vase nach dem Monitor. Einziges Resultat war ein Riss quer durch den Film, der weiter lief. Erneut traf der Stein die Brust der Frau, sie riss auf und die Frau wurde ohnmächtig. Der nächste Hieb weitete die Wunde und der Kerl griff hinein. Seine Hand kam wieder zum Vorschein, in ihr das noch zuckende Herz.
»Kotz weg«, meinte Karl Arnold. »Wird Zeit, dass wir an die Regierung kommen und mit so was aufräumen.«
Der Mann mit dem Herz in der Hand wandte sich zu ihm, als ob er ihn verstanden hätte, und sagte: »Mit euch wird aufgeräumt, Arschloch! Boot-Camp ist dann für euch nicht. Das ist für euch!«
Er ließ das Herz zu Boden fallen und trat darauf, immer wieder, bis es nur noch blutiger Matsch war.
»Das sind keine Video-Kids, die sich ins Regierungsviertel gehackt haben, Arnold«, flüsterte Daniela. »Die meinen es ernst.«
»Quatsch. Das ist nur eine Animation.«
Der Kerl auf dem Monitor wandte sich zu ihm und Manfred begriff, dass der interaktive Film Zugang zum Mikrofon des Saalcomputers erlangt hatte und seine KI-Komponente darauf programmiert war, auf bestimmte Schlüsselwörter die passenden Antworten zu geben.
»So? Ich bin nur eine Animation? Hahahahahahahhhaaah!« Der Mann warf den Kopf in den Nacken, dass die langen Haare über die Schultern flogen. »Natürlich bin ich nur eine Animation. Aber du bist bald weniger als das. Du bist toooot!« Sein Gelächter dröhnte durch den Saal. »Toohoot!«
»Ich werd mich von so einem Penner doch!« »Arnold, lass dich nicht von einer Filmfigur provozieren!« Daniela umklammerte seinen Arm und er stieß ihre Hand weg.
»Ich sage Penner, egal ob echt oder gefilmt! Ach was Penner! Ein Mörder ist er, aufgehängt gehört er!«
»Ja, sicher, ich bin ein Mörder. Ich und meine Kumpels sind Mörder! Und weißt du was, Arschloch: Es ist uns scheißegal. Wir sind Diener der Großen Gefiederten Schlange Quetzalcoatlus, die gekommen ist, Schweine wie euch zu vertilgen. Mit einer Sau hat sie schon angefangen. Seht gut her!«
Der nackte weiße Leichnam veränderte sich. Das Gesicht wurde schmaler, die Haut milchkaffeebraun und die mausgrauen Haare tiefschwarz. Manfred wusste schon, wer sie war, ehe die Veränderung abgeschlossen war. Am rechten Arm der Leiche war ein silbernes Armband mit Halbedelsteinen. Manfred hatte es zuletzt am Arm von Ms. Samantha Tennyson gesehen, einer republikanischen Kongressabgeordneten. Er hatte sie auf dem vorletzten Neujahrsempfang der US-amerikanischen Botschaft kennen gelernt, als sie für ein paar Tage vor Kälte und Schneesturm an der amerikanischen Ostküste nach Berlin geflohen war. Da sie nicht über Politik sprachen, war es ein herrlicher Abend gewesen. Nur hatte er damals plötzlich den Wunsch gehabt, in ihr dunkelviolettes Abendkleid zu schlüpfen.
Nun war sie tot.
»Mene mene tekel u-parsim. Alle von euch, die noch an den falschen Gott glauben, den mein Herr Quetzalcoatlus vom Thron stoßen wird, sollten wissen, was das bedeutet.«
»Dass wir dich hängen, Schwein!«, rief Karl-Arnold. Es klang hilflos und prompt höhnte die Animation: »Ja, jetzt schreit ihr nach meinem Blut und windet euch in Angst, Hilflosigkeit und Entsetzen. Das wird noch schlimmer werden und wo ihr Wind gesät habt, werdet ihr Sturm ernten. Wo ihr einen lauwarmen Kult eines erfundenen Gottes gepredigt habt, um die Massen niederzuhalten, werden die Massen mit heißem Herzen und zornigem Blick dem wahren, lebendigen Gott Quetzalcoatlus folgen! Wo euer falscher Gott unsichtbar und nie zu sprechen war, wird die Große Schlange ihr Haupt erheben und die Bitten der von euch gequälten Menschen erhören!«
»In die Irrenanstalt werdet ihr eurem Reptil folgen!«, schrie Karl-Arnold, sprang hoch, ergriff eine Kante des Monitors und riss ihn herunter. Immer wieder trat er mit seinen teuren Schuhen auf das Glas, um die Animation endlich zum Schweigen zu bringen. Der Schirm zersplitterte in tausend Scherben und jede zeigte ein lachendes bärtiges Gesicht.
Die Abschiedsfeier für die vom Gesundheitsministerium zu Health Pro wechselnde Ministerin war vorbei, noch ehe sie begonnen hatte. Politiker und ihre Vermittler zur Privatwirtschaft, Prominente und Journalisten standen da und sagten nichts. Für Manfred sahen sie aus wie begossene Pudel.
»Mene mene tekel u-parsim«, flüsterte Daniela. »Gott hat die Tage deiner Herrschaft gezählt und ihr ein Ende gesetzt. Gewogen wurdest du und zu leicht befunden. Dein Reich wird den Medern und Persern gegeben.« Sie zischte verächtlich: »Was hatten sie nicht für eine große Klappe, als sie die Zweite Stufe feierten. Lachend und schenkelklopfend bei Jürgens-Talk, als es ums Sponsoring für ACler ging.« Sie nahm Karl-Arnold bei einer und Manfred bei der anderen Hand: »Kommt, die Party ist vorbei.«
»Nicht nur diese Party ist vorbei!«, tönte es aus einem Lautsprecher, der Karl-Arnolds Fußtritten widerstanden hatte. »Mit euch ist es vorbei!«
Die Kugel eines Sicherheitsmannes brachte den Lautsprecher zum Verstummen. Er und seine Kollegen schwärmten aus und suchten nach versteckten Bomben und Mikroelektronik. Sie fanden nichts, doch im Regierungsviertel herrschte Beunruhigung. Das waren keine von den USA und Israel über verdeckte Kanäle oder offen von Saudi-Arabien, Iran und Pakistan unterstützte Islamisten oder der »Himmlische Pfad« aus dem krisengeschüttelten Ostasien. Diese Terroristen ließen sich leicht instrumentalisieren und auf das einfache Volk hetzen, um ihm Angst einzujagen und es gefügig zu machen.
»Die haben es auf uns abgesehen«, klagte Karl-Arnold in kleiner Runde mit Daniela und Manfred in der Bundestagskantine.
»Ja, sie haben es auf uns abgesehen«, echote Daniela. »Und das da wird auch nichts nützen.«
Verächtlich deutete sie auf eine Ausgabe von »BLICK«, die in überdimensionalen Lettern titelte:

ACler RAN-
DALIERT IM
BUNDESTAG!

Das Informationsamt hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um jeden Bericht über den Vorfall bei der Abschiedsfeier aus den Medien herauszuhalten. Bis zum letzten Mann und zur letzten Frau hatten die bei der Feier anwesenden Journalisten die Regierung dabei unterstützt, beflissen alle Aufzeichnungen abgegeben, Unterlassungserklärungen unterzeichnet und belanglose Randnotizen über den »Abschied einer erfolgreichen Politikerin« in Papier- und Digitalmedien lanciert. Der Springbrinck-Konzern lieferte zur Ablenkung einen Bericht über einen Angestellten eines Arbeits-Centers, der auf der Zuschauertribüne des Bundestags einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.
»Wieso?«, fragte Karl-Arnold. »Die Journaille spurt doch. Wenigstens etwas, was in diesem Sauladen noch klappt.«
»Ja, sicher, die Massenmedien sind auf unserer Seite«, entgegnete Daniela säuerlich. »So lange, bis wir selbst ihnen zum Fraß vorgeworfen werden. Da sitzt allerfeinste BRD in den Redaktionen, die lügen schon, wenn sie nur Guten Tag sagen.«

Bedrückt fuhr Manfred nach Hause. Auf dem Weg in seine Wohnung leerte er noch den Briefkasten, was er nur alle paar Tage machte. Wichtige Informationen erhielt er über Computer oder Mobil. Im Gegensatz zu vielen anderen musste er nicht befürchten, dass in der Papierpost Briefe vom Arbeits-Center, Mahnungen wegen unbezahlter Rechnungen, Briefe der Bank wegen überzogener Konten oder unerfreuliche Bescheide des Finanzamtes waren. Die Hausverwaltung ging mit einem hohen Regierungsbeamten respektvoller um als mit kleinen Angestellten oder gar AClern. Die Sorgen von Selbstständigen wegen Abmahnungen und Klagen waren einem gut situierten Angehörigen des Staatsdienstes ebenso fremd wie Bangen und Barmen um die Bewilligung einer wichtigen Behandlung durch die Krankenkasse.
Neben Werbung fand Manfred einen länglichen weißen Brief ohne Absender. Sein Name und die Adresse waren auf den Umschlag gedruckt und auf ihm stand:

WICHTIG!
GUTE NACHRICHTEN!

Welche guten Nachrichten gibt es heutzutage noch?, fragte sich Manfred und riss den Brief auf. Heraus fiel ein Fünfzig-Euro-Schein! Hey, da schickt jemand Geld! Es würde ausreichen, um mit Rhea, Dione und Philoxena wieder in den arabischen Imbiss zu gehen, in dem sie auch zu Transen nett waren. Dann sah Manfred das Begleitschreiben:

Lieber Manfred Limberg,

wie alle Menschen in Deutschland erhalten auch Sie in diesen Tagen 50 Euro von uns geschenkt. Das Geld, das Ihnen Ihr beschwerliches Leben erleichtern soll, ist der Vorbote einer neuen Zeit ohne die drückenden Sorgen, die Ihnen und Ihren Mitmenschen das Leben oft so schwer machen.

Herzlichst!

[ 4]Die Große Gefiederte Schlange Quetzalcoatlus

und ihre treuen Diener​

Während er las, rechnete Manfred. 82 Millionen Einwohner mal 50 Euro ergaben 4,1 Milliarden Euro. Für einen Haufen Verrückter eine Menge Geld, doch verschwindend wenig, wenn hinter diesen Verrückten ein Plan stand. Ein Plan, Deutschland zu erobern.
»Herr Limberg, haben Sie endlich auch Ihr Geld gekriegt!« Frau Martens, die mit ihrem Verlobten im Dachgeschoss wohnte, strahlte ihn an. »Ich habe meines schon gestern gehabt. Das war echt eine Überraschung! Wer gibt einem schon Geld?«
»Ja, wer gibt einem schon Geld?«, murmelte Manfred.
Der vorauseilende Gehorsam war in den Massenmedien so sehr verinnerlicht, dass weder in den Nachrichten noch in der »Abendschau« ein Wort über den Geldsegen gesagt worden war. Die Springbrinck-Blätter und ihre Konkurrenten vom YusiMurdoch-Konzern hatten keine Zeile über das großzügige Geschenk der Großen Schlange geschrieben. So traf Manfred ihr Brief wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Am ganzen Körper zitternd und mit Armen schwer wie Blei schleppte er sich die Treppe hoch. So mussten sich ACler fühlen, denen das Arbeits-Center eine Abmahnung oder die Kündigung geschickt hatte.
»Herr Limberg, Ihr Geld!«
Manfred hatte nicht gemerkt, dass er den Geldschein hatte fallen lassen. Frau Martens drückte ihn ihm in die Hand. »Auch, wenn Sie es nicht so nötig brauchen, haben Sie bestimmt welche, denen Sie damit eine Freude machen können.« Sie strahlte ihn an und meinte es ehrlich. Sie hatte nicht gesehen, wie die »treuen Diener« der Großen Schlange Samantha das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen hatten.
»Ja.« Manfred nickte. »Entschuldigen Sie, ich bin durcheinander. Ich habe vom Tod einer guten Freundin aus Amerika erfahren.«
»Oh, tut mir Leid.« Frau Martens nickte ihm zu und eilte davon.
Kaum in der Diele seiner Wohnung angekommen, holte Manfred sein Mobil heraus und rief Karl-Arnold und Daniela an. Karl-Arnold nahm nicht ab, so hinterließ er ihm eine Nachricht: »Ich habe einen Brief von den Quetzals erhalten. Mit fünfzig Euro. Wie alle Deutschen, also schau in deinem Briefkasten nach.«
Daniela meldete sich und er sagte: »Die Quetzals schicken Geld. Mit der Post. An alle!«
»Wie viel?«
»Fünfzig Euro.«
»Uff«, machte sie. »Moment!«
Er hörte die Absätze ihrer Pumps klappern, dann meldete sie sich wieder: »Stimmt. Bei mir war auch ein Brief mit Geld im Briefkasten. Mit Herzlichst! Die Große.« »Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Manfred sie. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Entschuldige, aber ich bin fertig. Erst das mit Samantha und jetzt das! Müssen wir wirklich über die Implikationen diskutieren?«
»Schon Philipp von Makedonien hat gesagt, dass ein mit Gold beladener Esel über jede Mauer kommt.«
»So ist es.«
»Und es hat im Regierungsviertel keiner für nötig gehalten, kleine Lichter wie uns zu informieren!«, schimpfte Daniela. »Früher hätten wir von den Geldbriefen wenigstens aus der Zeitung oder dem Fernsehen erfahren.«
»Vergiss es«, murmelte Manfred tonlos. »Die Zeiten sind schon lange vorbei.«

Im Regierungsviertel und in den Konzernzentralen wurden Pläne geschmiedet, die vier Milliarden Euro abzuschöpfen.
»Artens hat Etterling davon abgeraten, die Bundeszuschüsse für die ACs und die Renten zu senken«, erzählte Karl-Arnold. »Es klang so schön: Diese Typen schicken uns nach ihrem Drecksvideo vier Milliarden, wir streichen bei AC und Rente je zwei Milliarden und haben dann deren Geld!«
»Wenn die Leute dahinterkommen, lynchen sie uns«, meinte Daniela.
»Das hat Artens Etterling auch gesagt.«
»Was hat dein Artens unserem Kanzler noch gesagt?«, fragte Manfred säuerlich. Hanns Artens, Fraktionsvorsitzender der Konservativen, war offiziell Oppositionsführer, galt aber als Graue Eminenz der Regierung.
»Abzuwarten«, antwortete Karl-Arnold.
Abwarten, dachte Manfred. Diese Runde ging an die Große Schlange!
 



 
Oben Unten