Teil 17 * Die Hoffnung stirbt zuletzt

Als Manfred nach Hause kam, blinkte es auf seinem Wandschirm dunkelrot:

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NACHRICHT!

Manfred fragte sich, welche Nachricht noch wichtig sein konnte.
Seitdem der US-amerikanische Präsident vor den Quetzals geflohen war, hatte er alle Nachrichten über sie heruntergestuft. Die würden die Welt kaputt machen, da musste ihm die Glotze nicht jede ihrer Aktionen brühwarm servieren. Außer den Quetzals gab es kaum etwas von Bedeutung. Die chinesische Wirtschaft erholte sich vom Crash, obwohl auch in Fernost der Quetzal-Wahn tobte. In den Schwellenländern Afrikas folgten schon Millionen dem neuen Gott Quetzalcoatlus, der ihnen ein besseres Leben versprach und ihre Despoten und Warlords auf den Opferstein schickte. Auch in den von Moslems bewohnten Ländern zwischen Mauretanien im Westen und Indonesien im Osten verteilten die Quetzals Geld und SPEID und huldigten der Großen Gefiederten Schlange. Weder Schlägerbanden und Mordkommandos noch Armee und Polizei konnten sie aufhalten. Die Quetzals spielten sich sogar als Vorkämpfer für die Würde des Menschen auf, die von den lokalen Tyrannen und ihrem »gefallenen Gott« mit Füßen getreten worden war.
Vielleicht rufen der Papst und irgendein Mufti oder Imam zum Heiligen Krieg gegen die Quetzals auf, dachte Manfred und wusste nicht, ob er das begrüßen oder wegen der unverbesserlichen reaktionären Kräfte bei Christen und Moslems ablehnen würde. Er zuckte mit den Schultern. Es war müßig, darauf zu hoffen, dass die Gläubigen des von den Quetzals verhöhnten einzig wahren Gottes in letzter Minute zur Vernunft kommen würden. Die demonstrierten am »Christopher-Street-Day« gegen ein Häuflein hilfloser Homos, aber nicht gegen zu allem entschlossene Wahnsinnige. Zudem hatten viele Moslems den Fall der USA, die die islamische Welt über viele Jahrzehnte mit Kriegen und Intrigen immer wieder gedemütigt hatte, ebenso gefeiert wie die Quetzals. Nun waren sie selbst an der Reihe.
Vielleicht wachten die religiösen Führer in letzter Minute auf und begriffen, dass es Wichtigeres gab als »Sittengesetze« und theologische Rabulistik.

WICHTIGE
NACHRICHT!

Manfred schaltete den Wandschirm ein.
Etterling war zurückgetreten.
Der elfte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Bruno Etterling, war überraschend zurückgetreten.
Bruno Etterling, der sich schon als »Eiserner Kanzler« in den Geschichtsbüchern gesehen hatte, war zurückgetreten und bedauerte »Fehler und falsche Orientierung« seiner Politik.
Bruno Etterling, den Manfred im Regierungsviertel stets bräsig und selbstsicher erlebt hatte, hielt eine Rede, in der er seinen Rücktritt erklärte, seine »lieben Mitbürger« für falsche Entscheidungen um Verzeihung bat und zur Bildung einer »Regierung des Neuanfangs« aufrief.
»Liebe Mitbürger«, sprach ein gebrochener alter Mann und Manfred überlegte, dass Etterling davor stets vom »deutschen Volk« gesprochen hatte, um sich dem liberalkonservativen Zeitgeist anzupassen. Sein Mobil piepte. Es war Daniela. »Er ist weg!«, sagte sie und erst jetzt konnte Manfred es glauben. Etterling war weg und der Weg frei für eine neue Regierung, die den Quetzal-Wahn stoppte. Keine Zweite Stufe! Kein Krieg mit Polen! Kein »Sponsoring« von Erwerbslosen! Der Staat würde die Massen mit Bürgergeld und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ruhig halten, massiv in die Bildung investieren, ein Zukunftsinvestitionsprogramm auflegen und so den Quetzals ihre frustrierten Anhänger wegnehmen.
Während diese Gedanken durch Manfreds Kopf rasten und Etterling ungewohnt leise und sanft sprach, plante er am Mobil mit Daniela, Karl-Arnold und anderen Unzufriedenen die Rettung Deutschlands: »Wir müssen auch die Linksparteiler in die Regierung holen, die haben am meisten Ahnung von Sozialpolitik. Ihr Nationalen könnt gern mit Österreich und der Schweiz über die Wiedervereinigung verhandeln. Aus Angst vor den Quetzals machen sie das vielleicht sogar. Zwölf Jahre Schulpflicht und kleine Klassen. Weiß jemand, wie man die verdammten Mobils zu einer Konferenz zusammenkriegt? Huhu, Daniela, ich habe dich auf dem Monitor. Aus welcher EU austreten? Die ist doch nur ein Trümmerhaufen. Lasst uns in mein Büro kommen, noch heute Abend. Morgen muss die neue Regierung stehen! Es lebe das heilige deutsche Vaterland! Karl-Arnold, du siehst zu viele Schnulzenfilme. Außerdem heißt es: Es lebe die Räterepublik! Ach ihr rotbraunen Politromantiker, lasst uns lieber eine Bundesfickparty machen, damit sich der Pöbel nicht mehr mit SPEID zudröhnen muss. Have Sex, Money and Fun! Damit locken wir die Massen.«
»Über die Parolen können wir später abstimmen«, erklärte Manfred. »Wir sind uns doch alle darin einig, nicht als Schlangenfutter enden zu wollen, oder?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, legte er auf und rief ein Taxi: »Ins Regierungsviertel. Es ist eilig und Sie kriegen hundert Euro, wenn Sie flott machen.«
»Etterlings Rücktritt, richtig?«
»Ja.«
»Na, dann!«
Am Straßenrand stand schon das Taxi mit offener Tür, als Manfred aus dem Haus trat. Er sprang hinein und noch ehe er die Tür schloss, raste das Taxi los. Der Taxifahrer hatte die Geschwindigkeitskontrolle ausgeschaltet und im Zickzack rasten sie mit lautem Hupen durch die Straßen. Sie schossen zwischen den Säulen des Brandenburger Tors hindurch, hinter denen der Taxifahrer mit quietschenden Reifen bremste. Eine von einem Trupp Schwarzer Polizei gesicherte Barrikade versperrte den Weg. Manfred stieg aus. Forsch trat er auf die Sicherheitsleute zu und zückte seinen Dienstausweis: »Manfred Limberg, Staatssekretär. Ich bin zu einer wichtigen Sitzung unterwegs.«
»Sind wir das nicht alle?«, sagte ein Wächter. »Aber Sie können hier mit dem Taxi nicht durch. Kanzler Etterling gibt eine Erklärung ab. Wegen dem Fake, Sie wissen schon. Deshalb wurden die Sicherheitsmaßnahmen verschärft.«
Etterlings Rücktritt war ein Fake. Manfred schlich zum Taxi zurück und ließ sich in den Rücksitz fallen. Langsam fuhr das Taxi an und der Fahrer fragte: »Nach Hause?«
»Ja.«
Manfreds Gedanken rasten. Er überlegte, sich eine Waffe zu beschaffen, die den Weg durch die Kontrollen, die jetzt im Regierungsviertel vorgenommen wurden, schaffte. Dann Etterling. Sinnlos. Es war sinnlos. Etterling würde jetzt so gut bewacht werden, dass kein Attentäter auch nur den Hauch einer Chance hatte. Ob Etterling seinen Rücktritt selbst gefakt hatte, um die Unzufriedenen im Staatsapparat aus der Reserve zu locken? Wenn ja, war ihm das hervorragend gelungen. Manfred und die anderen hatten sich bei ihrer Konferenz per Mobil wie kleine Kinder aufgeführt!
Manfreds Mobil piepte. Es war Außenminister Sutterling: »Herr Limberg, kommen Sie sofort ins Regierungsviertel. Große Runde, da darf keiner fehlen!«
»Bin schon unterwegs«, sagte er und wandte sich an den Taxifahrer: »Drehen Sie um. Wieder bis zur Barrikade, den Rest werde ich laufen.«
Manfred musste einen »Sicherheitstunnel« mit Röntgen, Kernspin-Tomografen und Sonar passieren, ehe er das Regierungsviertel betreten konnte. Vom Sonar summten seine Zähne und kaum war es abgeschaltet, schien sich sein Magen umzustülpen und seine Knie knickten ein. Ein Sicherheitsmann machte sich daran, in den Tunnel zu steigen, um ihm zu helfen, da rief eine Wächterin: »Umd puff!«
»Scheiße, fast vergessen«, sagte der Sicherheitsmann und legte seinen Gurt mit geladener Pistole und Munition ab. Während er Manfred heraus zog, begriff Manfred, dass in dem Tunnel ein Katalysefeld war. Die Schwingungen des Feldes brachten Sprengstoff zur Explosion und sollten dadurch Attentäter ausschalten. Ein Katalysefeld löste im menschlichen Körper chemische Reaktionen mit unvorhersehbaren Folgen aus und deswegen war seine Verwendung bislang verboten gewesen.
»Das ist wohl ein ganz Empfindlicher«, spottete die Wächterin. »Aber sauber. Sie können passieren.«
Als sich der Konferenzsaal mit Beflissenheit vortäuschenden Politikern und Beamten füllte, erinnerte sich Manfred wieder an den »Scherz« mit Etterlings Ermordung. Erst das, dann der fingierte Rücktritt. Manfred verwarf seine Idee, dass Etterling den selbst vorgetäuscht hatte. Jemand trieb ein Spiel mit ihm und mit denen, die insgeheim mit seiner Politik unzufrieden waren. Zweimal wurde Etterlings Abgang vorgetäuscht, nur damit er wieder auf der Bühne erschien und die Unzufriedenen gute Miene zum bösen Spiel machen mussten. Die Botschaft war klar: Etterling werdet ihr nicht los! Ihr Absender auch: die Quetzals, die so signalisierten, dass sie kommen würden, weil Etterlings Beseitigung unabdingbare Voraussetzung war, um sie in letzter Sekunde zu stoppen. Oder doch nicht? Was, wenn Etterling jetzt, wo es keine USA mehr gab, immer mehr »Global Player« zu Schlangenfutter wurden und die Globalisierung ihre Träger verlor, selbst den Wechsel vollzog?
Manfred beugte sich vor, um kein Wort von dem zu versäumen, das der dickliche Mann mit Vollbart sprach: »Nachdem offenkundig irregeleitete Kräfte über die Massenmedien meinen angeblichen Rücktritt erklärt haben, trete ich nun vor Sie, um zu erklären, dass ich an meiner Politik festhalten werde. Wir stehen vor großen Herausforderungen, die es mit Mut und Zuversicht anzupacken gilt. Das Ausscheiden der Vereinigten Staaten aus der Weltpolitik und ihre Konzentration auf innere Belange geben Deutschland eine neue, große Verantwortung. Sie ist mit neuen Verpflichtungen verbunden, eröffnet aber auch wieder Freiräume für raumorientierte Politik. Vor diesem weltpolitischen Hintergrund stelle ich klar, dass ich an der wirtschafts- und sozialpolitischen Grundlinie festhalte. Die Reform der Arbeits-Center war ein mutiger Schritt, durch den die steuerzahlenden Bürger entlastet wurden. Dies muss gekoppelt werden mit einer Stärkung des nationalen Zusammenhaltes unter geostrategischen Gesichtspunkten.«
Manfred sackte mit jedem Satz immer tiefer in seinem gepolsterten Sessel zusammen. Rings um ihn sprangen die Konferenzteilnehmer auf und riefen: »Et-ter-ling! Et-ter-ling!« Dazu rhythmisches Klatschen, seit den Tagen der DDR das Bekenntnis der Apparatschiks zu ihrem Obersten Dienstherrn und Pfründengeber. In ihren schwarzen Anzügen, weißen Hemden und roten Krawatten erinnerten sie an Pinguine. Pinguine in der Antarktis, kurz bevor sie der Orkan über die Klippen ins tobende Meer fegt, dachte Manfred. Einige der Konferenzteilnehmer hatte Manfred bisher nur in Begleitung von Daniela gesehen, es waren konservative Parteifreunde von ihr. Etterling hatte das Wort »raumorientiert« verwendet, das war die Chiffre der Revisionisten für die Wiedereroberung der ehemaligen deutschen Ostgebiete. Das war Etterlings Antwort auf die Bedrohung durch die Quetzals: einen Krieg mit Polen beginnen, um die Menschen hinter sich zu einen.
Außenminister Sutterling tippte Manfred auf die Schulter: »Herr Staatssekretär, auf uns kommt Arbeit zu. Viel Arbeit.«
Staatssekretär ohne die Vorsilbe »Unter«? Dann waren die Ökolibs weiterhin in der Regierung und Manfred überraschend befördert. Staatssekretär, bald vielleicht Minister. Wenn es noch ein »bald« gab. Sutterling kam schnell zur Sache: »Etterling holt die Konservativen in die Regierung und lässt uns drin. Das ist das Gescheiteste, was er tun kann: die Rechten einbinden, ohne ihnen nachzugeben.«
»Tut er das nicht mit seinen revisionistischen Andeutungen?«
Sutterling schürzte die Lippen: »Ja und nein. Es hängt davon ab, wie lange es noch ein Polen geben wird. Wenn sich in Polen die gleichen Erscheinungen ausbreiten wie in anderen Teilen der Welt, kann angesichts des damit einhergehenden Zerfalls staatlicher Ordnung eine äh Wiedereingliederung durchaus harmonisch erfolgen.«
»Ja, sicher.«
»Ich sehe, Sie sind skeptisch und das ist auch gut so.« Sutterling machte eine Kopfbewegung zu einigen Konservativen, die nun abwechselnd »Et-ter-ling!« und »Deutsch-land!« grölten. »Die da sind für so eine Aufgabe zu ungestüm, sie würden gleich mit ethnischen Säuberungen anfangen. Deshalb müssen wir weiter Regierungsverantwortung tragen, um Schlimmeres zu verhindern.«
»Ja, klar.« War das noch derselbe Sutterling, der UNO und EU hatte verschmelzen wollen, um so eine neue, gerechte Weltordnung zu schaffen? Aus dem letzten Idealisten bei den Ökolibs war ein aalglatter Apologet von Nazi-Ideen geworden.
»Auf Sie, Herr Limberg, warten neue Aufgaben. Dass es jenseits des Atlantiks keinen starken Partner mehr gibt, heißt nicht, dass Transatlantisches überflüssig geworden ist. Wo früher starke Bande geknüpft wurden, gilt es nun, uns sozusagen den Rücken frei zu halten.«
»Ja, damit nichts unserer neuen alten Rolle in Europa in die Quere kommt.«
Das hatte Manfred sarkastisch gemeint, doch Sutterling nickte heftig: »Ich sehe, Sie lernen schnell.« Beschwörend sah er Manfred in die Augen: »Wir müssen durchhalten, nur die nächste Zeit!«
Etterling spielte den Ball zurück, den ihm die Quezals mit ihren fingierten Absetzungen zugeworfen hatten: entweder ich oder die Quetzals. Sutterling schien zu ahnen, was Manfred durch den Kopf ging und er schüttelte den Kopf: »Der Deutsche macht keine Revolution. Auch mit SPEID nicht.«
 



 
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