Teil 18 * Der Eiserne Kanzler

Kaum trat Manfred aus dem Regierungsgebäude, rollte lautlos ein anthrazitfarbener Maybach Vision vor. Der Chauffeur sprang heraus und öffnete die Tür: »Herr Staatssekretär, steigen Sie ein.«
Manfred schickte ihn weg: »Danke, ich nehme die M-Bahn. Sollen sich andere in ihren Limousinen vor der Wirklichkeit verkriechen.«
Die Wirklichkeit der M-Bahn erlebte Manfred diesmal in Gestalt zweier Quetzals mit Vollbart und schulterlangen Haaren, die lange blaugraue Gewänder trugen. Auf dem Rücken trugen sie Säcke, bei deren Anblick Manfred an Weihnachtsmänner denken musste. Weihnachten war bald und gewöhnlich zogen dann Heerscharen dienstbarer ACler durch die Straßen und machten Reklame für die großen Konzerne. Dieses Weihnachten sollten es nach dem Willen des neuen Arbeitsministers so viele wie nie zuvor sein, denn schließlich galt es, die »Angestellten« der ACs durch die Umstellung auf Sponsoring zu »aktivieren«.
Einer der beiden Quetzals ließ seinen Sack auf den Boden fallen und öffnete ihn. Zum Vorschein kamen hellgrüne Ein-Dollar-Noten. Er griff mit beiden Händen hinein und warf sie in den Waggon. »Die Große Schlange liebt euch alle!«, schrie er. Die Fahrgäste sprangen auf und sammelten eilig die Geldscheine auf. »Mann, das ist ja mal was!« »Echt geil. Hauptsache, sie sind echt.« »Sind die denn noch gültig?«, fragte eine dicke Frau und Manfred antwortete leise: »Ja. Die Quetzals haben Amerika in ein Irrenhaus verwandelt, aber der Dollar wird noch immer benutzt. Sogar mehr als früher, auch in Kanada und Lateinamerika. Hier können Sie ihn tauschen oder direkt damit kaufen. Viele Händler nehmen Dollar, wenn ihre Kunden keine Euro haben.«
»Na danke«, sagte sie und schwenkte das Geldbündel. »Aber Sie machen so ein unglückliches Gesicht. Freuen Sie sich denn gar nicht?«
»Worüber? Dass die Quetzals kommen?«
»Er ist ein Diener der Alten Ordnung!«, rief der Quetzal und deutete auf Manfreds teuren dunklen Anzug.
»Wessen Diener bist du?« Manfred sprang auf und deutete auf den Sack mit Geld. »Woher hast du das? Na, sag schon! Wer finanziert den ganzen Quatsch?« Er griff in den Sack und hielt eine Handvoll Scheine hoch. »Frisch gedruckt. Na, von wem sind die? Sag schon, wer bezahlt euch?«
»Die Große Schlange gibt den Reichtum der Gefallenen USA an die von ihr geknechteten Völker zurück.«
»Papperlapapp! Außer für Randale und Lynchmorde seid ihr für alles zu blöd! Gegen euch waren selbst die Nazis noch Denker.« Manfred hielt das Geldbündel dem Quetzal vor die Nase. »Ich will euch mal sagen, was Sache ist: das, was vom NSS, den Zweihundert Familien, Hoboken und dem Ruderclub noch übrig ist, hat euch mit SPEID und Dollars vollgestopft, damit ihr den Rest der Welt genauso kaputt macht wie die USA. Damit nicht Bruno Etterling, Größter Bundeskanzler aller Zeiten, auf die Idee kommt, nach dem gewonnenen Polenfeldzug die feuchten Träume der Roten und Braunen zu erfüllen und in das einzumarschieren, was früher mal die USA waren. Die Revisionisten hofften auf das Ende der USA, damit die sie nicht an einem Einmarsch in Polen hindern und ein paar versprengte Intriganten aus Amiland sorgen dafür, dass wir deren Schicksal teilen. So frisst sich das Ungeziefer gegenseitig auf.«
»Was? Etterling will in Polen einmarschieren?«, fragte ein dicker Mann spöttisch.
»Ja, damit Trottel wie Sie eine Ablenkung haben und ihn weiterhin wählen.«
»Sowas lass!« »Max, du bist ein Trottel und du hast den Etterling gewählt«, sagte die dicke Frau gemütlich. »Ich übrigens auch.« Sie wedelte mit dem Geldbündel. »Aber solche Wahlgeschenke hat der nie gemacht. Wenigstens nicht uns kleinen Leuten. Immer nur Opfer, Blut, Schweiß und Tränen. Aber Sie«, sie wandte sich an Manfred, »sollten sich nicht so aufregen. Sie können eh nichts daran ändern.«
»Ich weiß«, antwortete Manfred leise. »Ich weiß.«
Kaum schloss sich seine Wohnungstür hinter ihm, warf er sich auf das Bett und ließ den Tränen freien Lauf. Es war alles sinnlos, so sinnlos! Sein Blick ging durch die 45 Quadratmeter Neukölln-Süd, in denen er seit zehn Jahren lebte. Die Wohnung war für einen vollwertigen Staatssekretär viel zu klein, doch Manfred beschloss, sie zu behalten. Bevor das alles angefangen hatte, war es hier so schön gewesen. Er fing wieder an, zu weinen. Als er sich endlich beruhigt hatte, schaltete er den Wandschirm ein. Ein Kanal aus Nordamerika zeigte einen Park, der Manfred seltsam vertraut war. Da war er vor einigen Jahren selbst gewesen und an die Bäume konnte er sich noch erinnern. Warum war der Park so leer? Es waren der Rasen und die Bäume um das Weiße Haus in Washington. Ohne Weißes Haus! »Die Schweine haben es abgerissen!« Manfred sprang auf. »Sie haben es abgerissen! Einfach so.«
Manfred zappte weiter. Auf einem anderen Kanal sprach der Bürgermeister des ältesten Ortes in Nordamerika, einem tausend Jahre alten Indianerdorf. »Wir fühlen uns durch das Angebot der als Quetzals bekannten Religionsgemeinschaft, unseren Ort zur neuen Hauptstadt zu machen, sehr geehrt. Trotzdem müssen wir es ablehnen, auch da wir glauben, dass die Welt keine Hauptstädte mehr braucht. Wir haben Aufstieg und Fall der Reiche unserer Völker erlebt. Nach Mayas, Azteken und Inkas kamen die Weißen und nun erleben wir den Fall ihrer Reiche unter Umständen, die uns sehr bestürzen. So erleben wir das Wiederaufleben von Gebräuchen, die wir selbst als barbarische Entgleisungen einiger unserer Vorfahren verurteilen.«
Teilte da jemand durch die Blume mit, dass er die Quetzals für eine Bande wahnsinniger Irrer hielt? Einen Indianer konnten sie deswegen nicht angreifen, damit untergruben sie den abstrusen Unfug, der bei ihnen als Ideologie diente. Trotzdem seltsam, dass das weltweit ins Fernsehen kam. Praktizierten die Quetzals keine Zensur? Manfred ging durch amerikanische Kanäle und fand Berichte über Bürgerinitiativen, Bandenkriege, von ihren Beschäftigten übernommene Konzerne und nunmehr legalen Drogenhandel. Viele neue Kanäle waren entstanden und der Pornosektor so randvoll mit Fleisch in allen Kombinationen und Stellungen, dass Manfred glaubte, zumindest hier war jede Zensur abgeschafft. Dafür verdeckten bunte Buttons mit Preisangaben die interessantesten Stellen. Manfred lachte. Im Familienministerium arbeiteten sie an verschärften Jugendschutzrichtlinien, welche die Erotik-Branche noch mehr knebeln würden, und die Amerikaner boten das Fleisch terabyteweise an! Manfred wechselte den Kanal, da wurde der Wandschirm schwarz.

ALLGEMEINE
STÖFUNG

meldete das System, auch egal. Er war müde und wollte nur noch schlafen und vergessen.

»Ihren Ausweis bitte«, sagte der schwarz uniformierte Polizist, dessen Gesicht hinter einem Helmvisier aus nur von innen durchsichtigen Schwarzglas verborgen war. Wegen der verschärften Kontrollen im Regierungsviertel hatte Manfred ihn immer dabei, während viele andere Fahrgäste umkehren mussten.

ETTERLING
GREIFT
DURCH!

titelten die Papiergazetten der Springbrinck-Presse in zwanzig Zentimeter hohen Buchstaben und so war es! Millionen Fernsehzuschauer hatten wie Manfred einen schwarzen Bildschirm gehabt, weil die Bundesregierung in Absprache mit den Medienkonzernen den Sendebetrieb eingestellt hatte. Die Regierung versprach, im Laufe des Tages einen von Springbrinck betriebenen Kanal wieder frei zu schalten. Nach und nach sollten andere Kanäle folgen, sorgfältig zensiert, um Propagandasendungen der Quetzals abzufangen.
In der M-Bahn war es ruhig. Keine Quetzals und angesichts zweier Schwarzer Polizisten in jedem Waggon herrschte bedrücktes Schweigen. In einer Ecke standen drei junge Einwanderer, zwei Männer und eine Frau, und warfen verstohlene Blicke zu den Sicherheitsleuten. Die hochgewachsene Frau kannte Manfred vom Sehen. Sie hatte vor einigen Monaten den ganzen Zug mit einem übers Mobil ausgetragenen Streit mit ihrem Liebhaber unterhalten. Schneller als Manfreds Auge folgen konnte, war ein Messer in ihrer Hand und noch schneller steckte es in der Kehle des Sicherheitsmanns. Blut spritzte heraus und schoss durch den Waggon. Sie hatte zielsicher die Lücke zwischen Brustpanzer und Helm getroffen. Von oben bis unten mit Blut bespritzt schrie sie: »Deutschland wird fallen!«
Der zweite Sicherheitsmann begann zu schießen, Schreie und Blut erfüllten den Zug, dann setzte die Zugkontrolle Schlafgas frei und Manfred rutschte ohnmächtig von seinem Sitz.
Überall war getrocknetes Blut und nun kam noch Manfreds Frühstück dazu, das er auf den Boden des Waggons erbrach. Danach fühlte er sich besser, langte nach einer Stange und zog sich an ihr hoch. »Sie sind Staatssekretär Manfred Limberg«, sagte ein Sicherheitsmann, der Manfreds Personal- und Dienstausweis in der Hand hielt. »Dann einmal Biometrie bitte.«
Der Scanner ermittelten Manfreds Biodaten und verglich sie mit den Angaben in seinen Ausweisen. »Perfekt«, sagte der Sicherheitsmann. »Aber warum fahren Sie M-Bahn?«
»Ich will den Kontakt zur Wirklichkeit nicht verlieren.«
Sein Anzug war verdreckt, so musste er mit der M-Bahn nach Hause fahren. Die Springbrinck-Gazetten hatten den Angriff auf den Sicherheitsmann aufgegriffen und titelten in einem Extrablatt:

TÜRKIN
ERMORDET
POLIZISTEN!

Das BRD-System funktionierte mit gnadenloser Präzision. Manfred wusste nicht, ob er erleichtert oder bedrückt sein sollte. Vielleicht rottete Etterling den Quetzal-Wahn aus, aber was dann?
Als er im frischen Anzug vor der M-Bahn-Station stand, waren ihre Zugänge verschlossen. Ein Sicherheitsmann trat auf ihn zu: »Die M-Bahn fährt nicht!« Manfred ersparte sich die Frage nach Gründen. Vielleicht war die Einwandererin nicht die einzige, die in der M-Bahn Amok gelaufen war. Wie zur Arbeit kommen? Manfred erwog, seinen Dienstwagen zu rufen. Doch im Maybach lief er Gefahr, vom nächsten Verrückten bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden. Ein Taxi? Die Straßen waren voll, jetzt wo keine M-Bahnen fuhren. Egal ob im protzigen Maybach oder im dezenten Taxi, er würde Stunden im Stau verbringen.
So kehrte Manfred wieder nach Hause zurück, zog einen Mantel über den Anzug, holte sein Fahrrad aus dem Keller und radelte los. Überall waren Panzer und Mannschaftswagen Schwarzer Polizei und auf eine Straßensperre mit Kontrolle, Scan und Sicherheitstunnel folgte die nächste. Die Pressen des Springbrinck-Konzerns arbeiteten auf Hochtouren und produzierten das nächste papierne Extrablatt mit so riesigen Buchstaben, dass Manfred sie vom Fahrrad aus lesen konnte:

ETTERLING
WILL TODES-
STRAFE!

Er hielt am Kiosk und kaufte zum ersten Mal in seinem Leben »BLICK«. Da stand:
»Nachdem eine Türkin in der Berliner M-Bahn einen Polizisten ermordet hat, verlangt Bundeskanzler Bruno Etterling die Einführung der Todesstrafe. Er werde mit den Spitzen der Koalition aus Neuer Mitte, Ökolibs und Konservativen sowie der in der Opposition befindlichen Sozialunion und den Laisseristen Gespräche über eine Änderung des Grundgesetzes aufnehmen, erklärte der Kanzler. Konservative und Sozialunion haben ihre Bereitschaft zu einer Grundgesetzänderung signalisiert.«
Manfred warf die Zeitung weg und murmelte: »Er wird seine Todesstrafe bekommen.«
 



 
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