Teil 19 * Dienstschluss

Etwas fiel auf den Kragen von Manfreds Mantel. Er langte danach und hielt einen Ein-Dollar-Schein in der Hand. Rings um ihn fielen weitere Geldscheine wie riesige Schneeflocken aus dem trübgrauen Himmel. Die Menschen bückten sich und sammelten sie ein. Was wie Hagel auf Straßen und Bürgersteige prasselte, waren Kapseln mit SPEID. Die meisten blieben unbeachtet liegen, doch hier und da stopfte sie sich ein Passant in die Taschen. Über der niedrigen Wolkendecke schwebte ein Zeppelin und die Quetzals ließen von ihm Geld und Drogen auf die Berliner regnen.
Sirenen heulten, Luftalarm, den keiner beachtete. Auch Manfred radelte weiter. Ab und zu fielen noch Geldscheine herab, dann war alles ruhig. Vermutlich hatte die Luftwaffe den Zeppelin abgeschossen, aber das machte keinen Unterschied. Herunter kamen Dollar und SPEID so oder so und den zugedröhnten Quetzals im Zeppelin war ihr Leben egal. Rief da nicht jemand »Gro-ße Schlan-ge«? Jetzt hörte es auf. Langsam wurde es dunkel, die Reklamelichter gingen an und Weihnachtsmänner in beleuchteten Kostümen erschienen. In Manfred erschien das Bild, wie einer von den zu dieser Arbeit gepressten AClern eine Pumpgun aus seinem Sack nahm und wild um sich ballerte. »Staatssekretär vom Weihnachtsmann erschossen!«, würde Springbrinck titeln und Etterling das Verbot des Weihnachtsfestes fordern.
Es war absurd! Nur noch absurd!
Durch die Korridore des Außenamtes dröhnte etwas, in dem Manfred Elemente von Wagner-Opern, Pagan-Rock, einem in Volllast laufendem Hyperschalltriebwerk, Klingonischer Oper und einfach nur Krach ausmachte. »Herr Limberg!«, kam die Empfangschefin auf ihn zu. »Es ist Frau Senfft. Sie ist in Ihrem neuen Büro und, nun, Sie hören ja selbst.«
Das weitläufige Büro des frischgebackenen Staatssekretärs Manfred Limberg, das Manfred bisher noch nie betreten hatte, schien in die Kulisse für eine Mischung aus »Deutschland XXL« und »Star Trek« verwandelt worden zu sein. An den Wänden hing die geballte Faust im weißen Kreis auf blutrotem Grund, das Banner der Nationalrevolutionäre, neben dem dreizackigen Stern: das Emblem des Klingonischen Reiches. Kapla! Hammer und Sichel waren ebenso vertreten wie das A im Kreis und in einer Ecke entdeckte Manfred sogar ein hingesprühtes Hakenkreuz.
»Das war Atze«, erklärte Daniela und machte eine Kopfbewegung zum Hakenkreuz. »Er meinte, beim finis germania sollte das prominenteste Symbol der deutschen Geschichte nicht fehlen.« Sie drückte Manfred ein Glas Kroyy in die Hand. »Prost. Auf deine Beförderung, auch wenn sie nicht von Dauer sein wird.«
»Prost«, sagte Manfred und sah sich um. Daniela hatte ihm einmal gesagt, im »Star Trek«-Universum wäre sie gern Klingonin und Kriegerin geworden. Das erklärte das vermutlich auf dem Flohmarkt ergatterte Emblem. An den Wänden hingen auch ihre Ikonen aus der deutschen Geschichte: Friedrich II., König von Preußen, Ludwig II. von Bayern und Bismarck einträchtig neben Marlene Dietrich, Zara Leander und Rosa Luxemburg. Der Rotarmist, der vor der Kulisse des brennenden Berlins die Sowjetflagge auf den Reichstag setzte, nahm eine Schmalseite von Manfreds Büro ein. Daniela registrierte seinen Blick und erklärte: »Wir feiern Deutschlands Untergang, da muss er dabei sein.«
»Was?«
»Deutschland ist verloren, so oder so. Schafft es Etterling, die Quetzals zurück zu drängen, führt er Deutschland in die reaktionäre Tyrannei. Was haben sie bei den Konservativen gegrient, als die neue Kabinettsliste rumging! Es ist keine einzige Frau drauf. Nicht bei den Ministern und auch nicht bei den Staatssekretären. So will Etterling ein Zeichen setzen.«
»Die Frauenemanzipation ist vorbei.«
»Richtig. Nachdem man den Pöbel auf seinen Platz verwiesen hat, wird innerhalb der Herrenklasse gesäubert. Und dabei wird den Frauen bedeutet, dass ihre Zeit abgelaufen ist. Der gute alte Feudalismus kehrt zurück. Das haben die Leute hier 1200 Jahre ertragen, da ist es noch für weiter 1200 Jahre gut.«
»Der Deutsche macht keine Revolution«, flüsterte Manfred.
»Wie oft hast du diesen Satz schon gehört?«
»Oft.«
»Genau. Dabei brauchen wir jetzt die Revolution. Nicht, weil Blutvergießen so geil ist, sondern um wieder normal zu werden. Eine kollektive Erfahrung, die befreit, Untertanen-Sozialisation und Lebensuntüchtigkeit hinwegfegt.«
»Die kollektive Erfahrung wirst du bald bekommen.«
»Richtig. Die Quetzals: noch perverserer Müll als die Nazis. In Paris haben sie schon den Präsidenten vom Eiffelturm geschubst, dann werden sie es auch nach Berlin schaffen. Aus! Vorbei! Fin!« Sie riss die Hände auseinander, um dann Manfred zu umarmen. »Deswegen habe ich mich entschlossen, die Feier deiner Beförderung mit einer Abschiedsfeier für unser Vaterland zu verbinden.«
Außer ihr waren noch drei Konservative da. Die Jacketts hatten sie achtlos auf Manfreds Schreibtisch geworfen und ihre Krawatten hingen über der Stuhllehne. Iris, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ökolibs, steckte den Kopf zur Tür rein: »Ey, grell. Ist Party. Semra, lass den Scheiß. Manfred macht eine Party!«
Schon waren die beiden Frauen da und tanzten mit zwei der Männer. Manfred nahm sein Mobil und rief Sina an: »Sina, wenn du Zeit hast, ich mache eine Party.«
»Wird auch Zeit. Was feierst du?«
»Deutschlands Untergang, also komm!«
Manfreds Büro füllte sich: Laisseristen, Konservative, Rechte, Linke oder Leute ohne politische Orientierung. Alle soffen, tanzten und fickten (in einem Nebenraum) einträchtig. Karl-Arnold, sonst der sturste der Konservativen, legte »Verschnitt« auf und alle sangen:

Deutsch-land! Deutsch-land!
Es ist vorbei! Vor-bei! Bei! Bei! Bei!
Bye, bye Deutschland!

Dem Rausch folgte der Kater, der Party die Ernüchterung, dem wilden Exzess der zähe Trott.
Das Schlimmste an Ende und Untergang war das »Danach«.
Der Satz »Das Leben geht weiter« erwies sich nicht als Trost, sondern als Drohung mit neuem Leid.
Jeden Tag radelte Manfred ins Büro, um Berichte zu schreiben, die keiner las und Kontakte zu Menschen in Nordamerika zu »pflegen«, die entweder tot, untergetaucht oder zu den Quetzals übergelaufen waren. Nur wegen seinem üppigen Gehalt, das am Monatsende pünktlich auf seinem Konto einging, arbeitete er noch weiter.
Einige Tage vor Weihnachten fand er einen Zettel auf seinem Schreibtisch:

Ich gehe
D.


Manfred fragte sich, was Daniela machen würde. Ihm fiel nichts ein. Um sich abzulenken, trat er an das Panoramafenster. Das Panzerglas hatte einen Sprung, die Folge einer Attacke besonders eifriger Quetzals. Das Fenster hätte schon vor Tagen ausgetauscht werden sollen, doch noch immer war nichts geschehen. Es war kalt und eine einsame Schneeflocke zog vorbei. Manfred drehte die Heizung höher und fasste an den Heizkörper. Kalt. War die Heizung ausgefallen?
Manfred beschloss, nach Hause zu fahren und vorher noch seinen Weihnachtsurlaub einzureichen. In der Personalabteilung war niemand da. Vielleicht morgen, dachte er.
Am nächsten Tag stand im Bundestag die Abstimmung über die Grundgesetzänderung zur Einführung der Todesstrafe auf der Tagesordnung. Manfred hatte einen Platz auf der Zuschauertribüne bekommen und sah auf viele leere Abgeordnetensitze. »Ich beantrage die Feststellung der Beschlussunfähigkeit«, sagte Manuela Sharif-Jedeborg, eine Abgeordnete der Ökolibs. Träge sahen die anderen Abgeordneten zu ihr, der Bundestagspräsident fragte: »Gegenrede? Nein? Wünscht jemand eine Abstimmung? Nein? Dann stelle ich die Beschlussunfähigkeit fest. Die Sitzung ist geschlossen.«
Benommen stand Manfred auf. Er musste sich auf dem Weg hinaus am Geländer festhalten, um nicht zu fallen. Draußen sah er sich noch einmal um, blickte die Fassade des Reichstages hoch. Es war nur noch einer der Klötze aus der Kaiserzeit, von denen viele in Berlin herumstanden. Mehr nicht.
»Es ist vorbei, bei, bei!«, sang Manfred leise. »Bye, bye!«
»Bitte?«, fragte ein Passant, an der Kamera unschwer als Tourist zu erkennen.
»Ach nichts«, antwortete Manfred. »Ich rede nur mit mir selbst.«
Ein Pulk nackter, federngeschmückter Gestalten kam durch das Brandenburger Tor und sofort richtete der Tourist seine Kamera auf sie. »Lisa, komm, hier sind Quetzals«, rief er. »Die wolltest du doch unbedingt sehen.«
»Ja, die sind lustig«, meinte seine Frau.
Die Quetzals stellten sich vor dem Reichstag auf und begannen zu singen: »Frei-heit! Frei-heit!«
Viele der Menschen auf dem Platz fielen ein: »Frei-heit! Frei-heit!«

Verzweifelt radelte Manfred zum Hauptbahnhof. Ihm blieb nur noch die Flucht nach Polen, wo die nationalkonservative Regierung unterstützt von Emigranten aus den früheren USA bis jetzt die Quetzals hatte abwehren können. Womit Etterling gescheitert war, hatte sein Kollege Krasznev Erfolg: Gewalt!
Besser, als auf dem Opferstein zu landen, dachte Manfred.
Die Angestellte am Schalter sagte: »Nach Warschau? Gleis Zwei bis Sechs, da geht immer ein Zug. Bezahlen brauchen Sie nichts, die Große Schlange schenkt Ihnen die Reise.«
Was soll das denn?, fragte sich Manfred.
Auf den Bahnsteigen standen mit Federn geschmückte Züge. Über ihre ganze Länge waren Bilder der Großen Schlange gemalt, auch hier mit vier Augen. Ob sie diesen Quatsch aus dem Buddhismus haben?, überlegte Manfred. Überall drängten sich Reisende und es waren auch viele grüne Polizisten da. Einem untersetzten schwarzhaarigen Mann platzte der pralle Koffer und heraus quollen Bündel mit Dollar- und Euroscheinen und Päckchen voller Tabletten. SPEID!
»Warte, ich helfe dir«, sagte ein Polizist, suchte schnell die Geldbündel und SPEID-Päckchen zusammen und stopfte sie in den Koffer. »Soll ja alles dahin, wo sie es noch nicht haben.« Er lachte und seine Kollegen fielen ein, während der Mann in den Zug hastete. Ein Zug randvoll mit Drogen und Geld für Polen, damit auch dort die Große Schlange herrschte.
Manfred zweifelte keinen Augenblick, dass auch Polen fallen würde. Viele Polen waren so arm, dass sie nicht genug zu essen hatten und selbst, wer als Katholik die Quetzals verabscheute, würde ihr Geld annehmen, damit er und seine Familie sich satt essen konnten. »Ein mit Gold beladener Esel kommt über jede Mauer«, hatte der makedonische König Philipp gesagt. Die Quetzals, so dumm sie auch waren, nutzten diese Strategie konsequent. Da konnte Krasznev noch so viel schießen lassen, er würde das Ende nur hinauszögern. All die US-Exilanten, die sich in Warschau, Danzig oder Krakau in Sicherheit fühlten, würden feststellen, dass ihnen die Große Schlange gefolgt war. Diesmal von den »Krauts« gefüttert, grüner Polizei und Überresten des Staatsschutzes, die so verhindern wollten, dass Krasznev als umgekehrter Revisionist »urslavische« Gebiete an Spree und Elbe entdeckte und nach Polen geflohene GIs in sie einmarschieren ließ.
Ein Zug fuhr an, was von den Polizisten mit beifälligem Kopfnicken kommentiert wurde. »Bald ist Poolen auch verlooren«, sang einer und wieder lachten sie. Bei den Polizisten und Polizistinnen stand ein dünner Mann in Jeans und rotem Pullover, mit langen blonden Haaren und Stirnband. Dem Outfit nach nicht die Sorte, die gut mit der Polizei stand, doch nun plauderte und scherzte er, als ob sie die besten Freunde wären. Wortfetzen kamen zu Manfred: » haben wir Ruhe keine Grenzen, keine Revis neu Ordnung ein bisschen hart aber not «
Einige Quetzals auf dem Bahnsteig riefen »Gro-ße Schlan-ge!« und alle fielen ein: »Gro-ße Schlan-ge!« Auch die Polizisten riefen »Gro-ße Schlan-ge!« und einer von ihnen sah zu Manfred hinüber. Hastig lief Manfred die Treppe vom Bahnsteig hinunter und verließ den Bahnhof. Niemand folgte ihm, um ihn zu fragen, warum er nicht »Gro-ße Schlan-ge!« gerufen hatte. Aber das würde nicht so bleiben..
Die Welt war voll von diesen Irren, die jeden abschlachteten, den sie für einen »Diener der Alten Ordnung« hielten. Sie traten im Namen ihres Götzen die Weltherrschaft an und für ihre Opfer gab es auf der Erde keinen sicheren Platz mehr.
Bei seinen Recherchen zum Gagarin-Armstrong-Projekt war Manfred auf Berichte gestoßen, nach denen noch nach der Jahrtausendwende Reiche und Superreiche zwanzig Millionen Dollar für einen Flug zur Internationalen Raumstation bezahlt hatten. Sowas könnte ich gut gebrauchen, dachte er. Irgendwie das Geld zusammenkratzen, sich zur nächsten Startrampe durchschlagen und ab ins All! Hoffen, dass ihm beim Start nicht die Rakete unterm Hintern explodierte! Weg vom irdischen Irrenhaus und da draußen ganz neu anfangen!
Für viele, die jetzt um ihr Leben bangten, wären zwanzig Millionen Dollar für einen Raumflug nur ein Trinkgeld. Wenn es Raumfahrt, Raumstationen im Erdorbit und eine Kolonie auf dem Mond gäbe.
Sind Sie zufrieden, Frau Rose?, dachte Manfred. Wir brauchen ja keine Raumfahrt, weil es keine Irren gibt, die auf der Welt jeden abschlachten, den sie für reich und privilegiert halten. Glückwunsch, Frau Rose. Sie und Ihresgleichen haben dafür gesorgt, dass die ehemals herrschende Klasse des Planeten nicht mehr von ihm flüchten kann, jetzt, wo ihre Schlächter die Messer wetzen.
Mangels Raumfahrt flüchtete Manfred vor den Quetzals nicht in einer Rakete zum Mond, sondern fuhr mit dem Fahrrad in seine Wohnung in Neukölln.
 



 
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