Teil 29 * Tut Buße!

Auf dem Alexanderplatz tummelten sich wieder die Bauarbeiter und drei gigantische Cargolifter verdunkelten den Himmel. Das Fundament des neuen Fernsehturms war schon fertiggestellt und jeden Tag wuchs er einen bis zwei Meter in die Höhe. In wenigen Jahren würde er die geplante Höhe von 1244 Metern erreicht haben, entsprechend dem Jahr 1244 des Alten Kalenders, als Berlin das erste Mal urkundlich erwähnt wurde. Für einige Zeit machten 1244 Meter den Fernsehturm zum höchsten Bauwerk der Welt, doch nach dem Brand der Pyramiden gab es auch in anderen Städten ehrgeizige Bauprojekte: In Moskau sollte sich auf den Trümmern des niedergebrannten Kremls ein 1917 Meter hoher Turm erheben, der Himmelsturm in Peking war mit avisierten 1948 Metern dabei und die Zwillingstürme des wieder errichteten World Trade Centers in New York sollten eine Höhe von 1776 und 2001 Metern erreichen.
Überall Riesentürme, um möglichst schnell zu vergessen, was sich an den Pyramiden abgespielt hat, dachte Mercy. Die Trümmer der Großen Pyramide zu Berlin waren restlos beseitigt worden. An das, was auf ihr geschehen war, erinnerte ein schlichter grauer Stein mit der Inschrift:

Den Opfern
der Quetzals

An seinem Fuß lag ein Kranz mit Binden in Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot, den Farben des Gefallenen Deutschlands. Davor stand eine Gestalt in härenem Gewand mit einem Strick anstelle eines Gürtels.
»Tut Buße! Tut Buße, auf dass ihr errettet werdet!«
Lukius van Wright war in den Schoß der Kirche zurückgekehrt. »Tut Buße, so wie ich Buße tue!«
Alle sieben Tage stand er mit einem Häuflein seiner Anhänger an der Gedenktafel und predigte.
»Ich tue Buße, nachdem ich schwer gesündigt habe. Wie einst Eva ließ ich mich von einer Schlange zur Sünde verleiten. Einer Schlange, welche die Ausgeburt der Hölle ist! Einer Schlange, die der Antichrist ist. Aber die Zeit des Antichrist ist vorbei!«, rief van Wright und zitierte aus der Bibel: »Und es wurde gestürzt der große Drache, die alte Schlange, die da heißt Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt.«
»Der Gott, den du verraten hast, lebt!«, schrie ein Quetzal. »Der Gott, unter dessen Rockzipfel du zurückgekrochen bist, ist eine Illusion von Memmen und Weichlingen!«
»Schweig, Diener der Hölle!«, donnerte van Wright. »Die Zeit des Antichrist, die Zeit der Großen Schlange ist vorbei und kommen wird die Herrlichkeit Gottes!«
Schon hatte sich eine große Menschenmenge um den Quetzal und van Wright versammelt, da konnte Mercy nicht mehr an sich halten: »Schweigt beide, Deppen!« Sie deutete auf die grinsenden und feixenden Zuschauer. »Merkt ihr nicht, dass ihr euch für die nur zum Narren macht? Van Wright, ich hätte dich für klüger gehalten!«
»Von so einer!«
»Halts Maul, Prediger!«, sagte einer der Zuschauer. »Sie hat im Minirock mehr Mut als du mit Papstkrone!«
Van Wright starrte ihn an, räusperte sich und rief: »Ja, ich habe gefehlt, dochhhHHH!«
Mercy hörte nicht mehr zu. Da begriff einer nicht, dass seine Zeit vorbei war und sie selbst hatte sich mal wieder hinreißen lassen. Armer Irrer, dachte sie. Hält sich für Berlins Savonarola und wird als Witzfigur für den Pöbel enden.
»Mein Gott lebt und hat uns in ein neues Zeitalter geführt!«, schrie der Quetzal. »Mein Gott hat sich nicht wie dein Jesus in den Himmel verdrückt und seine Gläubigen allein gelassen! Ihr habt unter eurem blutrünstigen Gott zweitausend Jahre die Völker gegeneinander gehetzt. Mein Gott hat die Völker der Welt in zehn Jahren geeint! Mein Gott war streng, euer Gott war sadistisch! Mein Gott wusste, wann seine Diener ihr Werk getan haben und hat sie nicht zweitausend Jahre lang schmarotzen und Blut saugen lassen wie deine Kirche! Du faselst von Buße und willst nur wieder an die Futterkrippe. Ich tue Buße und gehe jeden Werktag vier Stunden arbeiten wie jeder anständige Mensch. Tu du nicht Buße, weil du zehn Jahre dem wahren und wirklichen Gott gedient hast. Tu lieber Buße, weil du und deinesgleichen zweitausend Jahre einem Monster gedient haben!«
Viele der Umstehenden nickten beifällig und Mercy verzweifelte. Ließ sich dieser Unsinn nie ausrotten? Das Wüten der Quetzals sollte allen gezeigt haben, dass Religion immer in Terror und Gehirnwäsche endete.
Bald schrieben die Menschen das Jahr Zwanzig und nur wenige hatten Lust, zu den alten Kalendern zurück zu kehren. »Damals hatte doch jeder seine eigene Zeitrechnung«, meinte Ulf. »Die Moslems einen anderen als die Christen und für die Juden ist jetzt das Jahr Sechstausend oder so. So ist es viel besser.« Er lächelte verschmitzt.
»Fandest du gut, was du gemacht hast?«, fragte Mercy. »Du weißt schon, was.«
Er schwieg, denn er wusste genau, wovon sie sprach. Ulf war es gewesen, der zusammen mit Polizisten auf dem Bahnsteig stand, von dem Züge voll mit SPEID und Geld nach Polen fuhren, um das Land der Großen Schlange zu unterwerfen.
Um zu vergessen, stürzte sie sich in die Arbeit. Das »Wissen der Welt« war von einer Idee zu einer erdumspannenden Einrichtung mit Hunderttausenden Mitarbeitern geworden. In Kleinstädten und Metropolen waren seine frei zugänglichen Bibliotheken und geheimen Archive. Alles, was Menschen je geschrieben, gemalt oder auf eine andere Art und Weise aufgezeichnet hatten, bewahrte die Stiftung in Datenkristallen auf. Die hielten Jahrmillionen, doch waren sie gegenüber Subquantenspeichern veraltet. Nun suchte die Stiftung nach Möglichkeiten, die schier unbegrenzte Kapazität von Subquantenspeichern mit Robustheit und langer Lebensdauer zu vereinen. Damit zukünftige Generationen von Menschen oder auch Nichtmenschen nicht in einer Fülle an Belanglosigkeiten ertranken, musste das Wissen geordnet werden. Vom Allgemeinem zum Besonderem, vom Wichtigem zum Belanglosem, vom Einfachem und leicht Verständlichem zum Komplexem.
Die Menschen hatten Mercys Rolle beim Brand der Großen Pyramide nicht vergessen und auch ihr völlig Unbekannte grüßten sie auf der Straße. Erhielt sie Einladungen zu Talkshows, lehnte sie immer ab: »Ich habe meine Rolle gespielt, nun sollen andere weiter machen.«
Doch im Frühling nach dem Brand standen Ulf, Sina, Daniela und Karl-Arnold in ihrem Büro. »Du bist als Vertreterin Deutschlands am Großen Feuer ausgewählt worden«, erklärte Karl-Arnold.
»Gibt es denn wieder ein Deutschland?« Mercy war bei dem Gedanken nicht wohl.
»Es hat immer ein Deutschland gegeben, auch im finstersten Quetzal-Wahn. Nur hat sich der Unfug, den wir tausend Jahre lang für Ordnung hielten, gottlob erledigt.«
»Mercy, du musst annehmen!«, erklärte Sina. »Nicht nur für dich, auch für alle Transen. So eine Chance kommt nie wieder.«
So eine Chance kam nie wieder. Beim Großen Feuer auf der Sonnenpyramide in Teotihuacan würde auch Thompson da sein. So eine Chance kam nie wieder!
 



 
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