Teil 32 * The Show must go on!

Mercy hockte vor ihrem aufgeklappten Koffer und warf Kleider, Körperpflegemittel und Kosmetik hinein. Sie trug bereits den beigen Hosenanzug für die Reise. Sie überlegte, ob sie noch in Tenochtitlan vorbeischauen sollte, war sich aber nicht sicher. Wie sie diesen Quetzal-Schund hasste! Alle grinsten und fanden sich unglaublich toll, mittels eines Haufen Wahnsinniger die verhasste Alte Ordnung beseitigt zu haben. Sie »vergaßen« dabei ganz selbstverständlich, dass sie in dieser Alten Ordnung willige Rädchen im Räderwerk von »Reformen«, »Globalisierung« und »Wettbewerb« gewesen waren. Sie ja auch, sie war zuletzt Staatssekretär gewesen.
»Scheiße!«, schrie Mercy. »Hört das denn niemals auf?«
»Nein. Nicht, wenn du dich vor deiner Pflicht drückst.«
Das sagte ein stämmiger Mann in Kaftan und mit einem Turban auf dem Kopf, der in ihrem Zelt stand. Am Eingang war eine bunt zusammengewürfelte Menge, Menschen, die aus aller Welt nach Teotihuacan gekommen waren.
»Wer sind Sie?«, fragte Mercy ungehalten.
»Ich bin Nâsir, aus dem Irak.« Er lachte zynisch. »Einem von ungefähr zwanzig Ländern, in denen die Menschen behaupten, unter der Alten Ordnung am meisten gelitten zu haben.«
»Sind es nicht zweihundert Länder, wo sie am meisten gelitten haben? Und werden sie jetzt nicht behaupten, unter den Quetzals gelitten und das nie gewollt zu haben?«
»Das mag sein. Aber es ist deine Pflicht, dafür zu sorgen, dass das Leiden nicht wieder von Neuem beginnt, weil die Menschen nichts mehr haben, woran sie glauben können.«
»Wie soll ich das machen?«
»Stell keine Frage, auf die du schon die Antwort weißt. Du hast immer gewusst, was zu tun ist, damals in Berlin und heute bei Thompson.« Er sah auf ihren offenen Koffer. »Oder willst du einfach so davonlaufen?«
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Mercy und sah zu dem Faltschrank, in dem noch Kleider von ihr hingen. »Bitte geht jetzt. Ich muss mich vorbereiten. The show must go on!«
Nâsir nickte: »The show must go on!«

Vor Mercy loderte auf der Spitze der Sonnenpyramide das Große Feuer und der Vollmond ging auf, während die Sonne im Westen versank. Sehr gut. Sie trug ein bis zum Boden reichendes rotes Kleid mit langen Ärmeln. Plateauschuhe und der Kopfputz machten sie zwei Meter groß, doch sie musste auf jeden Schritt achten, um nicht würdelos zu stürzen. Ihren Kopf schmückte ein Diadem mit roten, goldenen und schwarzen Federn.
Langsam stieg Mercy die Sonnenpyramide empor, auf der diesen Abend weder Thompson noch ein anderer Mensch warteten. Vielleicht würden ihr andere folgen und ihre Geschichten erzählen, so dass alte und neue Lügen keine Chance mehr hatten. Doch sie war die Erste und die Menschen, die ihr zuhören wollten, erstreckten sich bis zum Horizont. An hohen Masten sitzende Kameras verfolgten jede ihrer Bewegungen und übertrugen alles ins Netz.
Mercy trat von der Treppe auf die Plattform, drehte sich um und sprach:

Alle haben gelogen. Die Indianer, als sie ein Wesen zum Gott machten und es Quetzalcoatl nannten, das über ihre Menschenopfer entsetzt war. Die Weißen, als sie mit einem Gott der Nächstenliebe in dieses Land kamen und ein Blutbad an seinen Einwohnern veranstalteten. Quetzalcoatlus, die Große Schlange, log, als sie sich an den Weißen und ihrem Gott rächte, indem sie zum Idol einer Horde Schlächter wurde. Die Quetzals logen, als sie sich auf Riten beriefen, von denen die Indianer nichts mehr wissen wollten. Am meisten gelogen haben die Diener der Alten Ordnung. Alle! Die Diener der Gefallenen Götter haben mit ihrem Treiben diese Götter mehr verhöhnt und lächerlich gemacht, als es die Quetzals mit ihren Blasphemien je vermocht haben. Die Diener der Alten Ordnung haben ihren Völkern Frieden und Wohlstand versprochen und die Welt in ein Irrenhaus verwandelt. Gelogen haben auch die Gegner der Alten Ordnung, die zu schwach waren, um sie zu überwinden. Deshalb haben sie die Quetzals auf die Diener der Alten Ordnung gehetzt.

Mercy breitete die Arme aus.

»Ich war es nicht, der dem Leiter der Aufruhrbekämpfungszentrale das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen hat. Das waren diese mit SPEID vollgepumpten Irren.« In meinem Heimatland hatte es die Polizei satt, gegen das Chaos anzukämpfen, das die Alte Ordnung verursachte. Männer und Frauen, die Recht und Gesetz schützen sollten, haben zugesehen, wie die Quetzals Recht und Gesetz verhöhnten. Ja, sie haben ihnen sogar geholfen, damit eine Ordnung fällt, der sie nicht länger dienen wollten.

Sie lachte.

Die korrupten Herrscher meines Landes zweifelten an der Zuverlässigkeit ihrer Polizei, doch sie zweifelten nicht genug! Da sie den Polizisten in grünen Uniformen nicht mehr trauten, schufen sie eine Polizei mit schwarzen Uniformen und fühlten sich sicher. Ich habe selbst erlebt, wie diese neue Polizei auf einer Kabinettssitzung das Gerücht verbreitete, Kanzler Etterling sei ermordet worden. Einer der Polizisten öffnete die Tür zum Sitzungssaal und rief: »Etterling ist ermordet worden!«, einer der im Saal Wache haltenden Polizisten filmte das Chaos, das diese Meldung auslöste und stellte es ins Netz. Ja, sicher, die neue Polizei war gut bezahlt. Aber jemand hatte sie noch besser bezahlt als unsere Regierung.

Sie machte einige Schritte und sagte:

Aber wem erzähle ich das? Hier werden viele sein, die Ähnliches zu berichten haben wie ich. Ein Mann, dessen Namen auszusprechen, mir schwer fällt, hat mir heute gesagt, dass die Quetzals von der Regierung der Gefallenen USA unterstützt wurden, um die Sozialisten in Lateinamerika zu bekämpfen.

Ein Raunen ging durch die Millionen am Fuße der Sonnenpyramide und es wurde lauter, als Mercy fortfuhr:

Ja, auf dem Stein sollten nicht die Diener der Alten Ordnung liegen, sondern Intellektuelle und Gewerkschafter, Mitglieder von Volksinitiativen und Genossenschaften, um einmal mehr den Kommunismus zu bekämpfen.

Der Lärm der Menge unter ihr war ohrenbetäubend. Mercy hob die Hände hoch über den Kopf und die Menschen wurden ganz still. Kann das sein, dass ein Mensch so viel Macht hat?, schoss es ihr durch den Kopf, doch sie verbannte den Gedanken sofort.

Die USA gibt es nicht mehr.

Die Menschen tief unter Mercy jubelten.

Deutschland gibt es nicht mehr. Mexiko gibt es nicht mehr. Staaten und Regierungen sind gefallen!

Konnten selbst Millionen Menschen so viel Lärm machen? Am liebsten hätte sich Mercy die Ohren zugehalten, aber das durfte sie nicht. Sie musste weiter sprechen.

Es gibt nur noch euch, die Menschen und Völker der Welt. Das ist es, was ich euch sagen will.« Sie deutete zu dem riesigen Feuer hinter ihr. »Lasst die Flamme brennen, damit wir nie vergessen, was wir waren und was wir sind. Lasst die Flamme brennen!

Langsam und würdevoll schritt sie die Treppe der Sonnenpyramide herab. Die Menschheit hatte in ihr ein Zeremonien-Zentrum mit der richtigen Mischung aus ehrwürdigem Alter und neuem Pathos bekommen. Mercy lächelte. Die Menge teilte sich vor ihr und alle riefen, schrien und jubelten.
Mercy ließ sich in die Rikscha fallen, mit der sie an den Fuß der Pyramide gefahren war. Der Fahrer trat in die Pedale und brachte sie zu ihrem Zelt. Irgendwie befreite sie sich aus ihrem Kleid und den Schuhen und ließ sich auf ihr Bett fallen, um sofort einzuschlafen.

Am nächsten Tag schien die Sonne wieder auf die ihr geweihte Pyramide herab. Ein leichter Wind ging und blähte den an einer Stange befestigten Windbeutel mit der Gestalt der Großen Gefiederten Schlange auf, so dass sie über dem Platz vor der Pyramide zu schweben schien. Die Große Flamme war am helllichten Tag kaum zu sehen und sie war nicht so groß wie bei Nacht. »Wenn kein Fest ist, drehen wir sie herunter«, sagte ein Mitarbeiter der Altertümerverwaltung zu Mercy.
Er war ein dicklicher Mexikaner mit brauner Haut und glänzenden schwarzen Haaren und Schnurrbart. Blasser Sprühverband auf seiner Wange deutete auf eine bewegte Nacht hin. Doch heute war ein ganz normaler Tag. Überall im Lager packten die Menschen ihre Sachen zusammen und reisten ab. Bus auf Bus fuhr durch die Straßen und brachte die Menschen zur nächsten Haltestelle der neu erbauten Einschienenbahn. Auch Mercy hatte schon ein Ticket für die Fahrt nach Tenochtitlan. Das Leben ging weiter und diesmal war es keine Drohung, sondern ein Versprechen.
 



 
Oben Unten