Teil 8 * »Homos raus!«

Der Regen hörte am Vormittag auf und Lucia faltete ihren bunten Schirm, den sie bei einem fliegenden Händler gekauft hatte, zusammen. Am Munzingerdamm, der nach Verenas Erzählungen früher den Namen »Kudamm« gehabt hatte, aber nun nach einem Stadtsponsor benannt war, hatten sich einige hundert Schwule, Lesben und Transen versammelt. Früher waren es Hunderttausende gewesen. Der Grund, warum nur noch so wenige zum »Christopher Street Day« kamen, stand rings um die Papst-Benedikt-Kirche, die den Platz der bei einem Bombenanschlag zerstörten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche einnahm.
Menschen, die so unscheinbar waren, dass es Lucia schon wieder seltsam und erschreckend schien, schwenkten Schilder und Transparente mit Aufschriften wie: »Sodomisiere nicht Berlin!«, »Schande!« und »Homos raus!« Viele trugen Schilder mit rot durchgestrichenen Strichmännchen beim Analverkehr, unter denen »Sodomie STOPP!« stand. Ein Polizist trat zu den Demonstranten und deutete auf die Schilder: »Die dürfen Sie nicht zeigen!«
»Was?«, fragte ein dürrer Mann mit Hakennase, verkniffenem Mund und grauem Gesicht. »Wir?«
»Solche Darstellungen verstoßen gegen die Jugendschutzrichtlinien!«
Einige Passanten lachten, eine dicke Frau meinte: »Die janzen Kreuzler verstoßen gegenne Jugendschutz. Buchten se se ma alle ein!«
Irritiert sah der dürre Mann zu ihr: »Wir demonstrieren auch für Sie, für.« »Nen Scheißdreck tut ihr!« Nicht mehr ganz nüchtern torkelte die Frau weiter.
»Die Schilder müssen weg!«, erklärte der Polizist. »Ich sagte bereits: Jugendschutz! Sie sollten sich besser mit Ihren Oberen abstimmen. Schließlich hat die Kirche mit dafür gesorgt, dass der Jugendschutz verschärft wurde.«
»Nachdem die Pfaffen Kinder misshandelt haben!«, rief ein Teilnehmer am »Christoper Street Day« herüber. »Kirche und Jugendschutz. Den Bock zum Gärtner machen!«
»Also!«, erklärte der Polizist. »In fünf Minuten ist kein Schild mehr zu sehen, sonst muss ich Ihre Demonstration auflösen.«
»Also gut.« Der Mann klatschte in die Hände. »Liebe Brüder und Schwestern, liebe Mitkämpfer aus anderen Glaubensgemeinschaften. Wir müssen unsere Sodomie-STOPP-Schilder verbergen, sie verstoßen gegen geltende Bestimmungen.«
Die Demonstranten, unter denen Lucia neben biederen Deutschen auch langbärtige Islamisten und orthodoxe Juden in schwarzen Gewändern erblickte, verbargen die Darstellungen arschfickender Männer im rotem Kreis unter Stoff, überklebten sie oder warfen sie auf den Boden, ohne dass sich jemand darum kümmerte. Nun formierten sie sich quer über den Munzingerdamm, um der Christopher-Street-Day-Parade den Weg abzuschneiden, da brauste ein rotes Motorrad heran. Auf ihm saßen zwei ganz in Rot gekleidete Männer. Der Beifahrer nahm ein Megafon zur Hand und rief: »Tod den religiösen Reaktionären. Zion ist rot, ihr seid tot! Tote Idioten! Rote Zeloten!«
»Schwein eines Goi!«, brüllte ein orthodoxer Jude und warf einen Molotow-Cocktail nach dem Motorrad. Der Fahrer startete rechtzeitig, die brennende Benzinflasche verfehlte ihn und zerplatzte mitten auf dem Damm. Kaum hatte er die Benzinflasche geworfen, stürmte der orthodoxe Jude vor und schleuderte eine Eisenkette. Sie verfing sich in den Speichen des Hinterrades und das Motorrad kippte um. Die beiden Roten Zeloten purzelten aus den Sitzen und rollten über den Asphalt. Sie rappelten sich auf, warfen einen Blick auf ihr nach dem Treffer eines zweiten Molotow-Cocktails lichterloh brennendes Motorrad und rannten zur M-Bahnstation Doisenberg, dem früheren »Zoo«.
»IHM entkommt ihr nicht!«, schrie der orthodoxe Jude den Roten Zeloten nach, machte aber keine Anstalten, sie zu verfolgen.
Seine Mitdemonstranten warfen die Schilder, die sie nicht zeigen durften, auf das brennende Motorrad und schufen so zwischen sich und dem Christopher-Street-Umzug eine provisorische Barrikade.
»Dieses Jahr ist es noch harmlos«, sagte Dione zu Lucia. »Letztes Jahr haben sie richtig geprügelt, deswegen kommt Philoxena nicht mehr. Warte mal, ich habe da eine Idee.«
Sie entledigte sich ihres schrillen und bunten Kostüms aus Pappmaché und warf es auf das Feuer, das sich jetzt quer über die Straße zog. »Die Feuer der Hölle, in denen ihr Teufelsanbeter und Schweineficker brennen werdet!«, rief sie. Ehe die Gegendemonstranten darauf reagieren konnten, schoben andere Christopher-Street-Demonstranten ihre Umzugswagen zur Barrikade und quer über die Straße. Rasch fingen sie Feuer und bildeten eine undurchdringliche Flammenwand. »Teu-fels-an-be-ter!« »Schwei-ne-fik-ker!«, riefen Schwule und Lesben, Bis und Transen. »Schwei-ne-fik-ker!« Alle jubelten. »Flam-men der Höl-le!« »Flam-men der Höl-le!« »Sa-tans-jün-ger!« »Sa-tans-bra-ten!« Alle lachten. »Sa-tans-bra-ten!« Und wieder: »Schwei-ne-fik-ker!« Ein Schuss peitschte, doch Dione schüttelte den Kopf: »Das war nur das Signal. Los!«
Sie nahm Lucia an der Hand und rannte mit ihr den Damm entlang und in die M-Bahnstation Munzingerdamm. Ein Zug fuhr in den Bahnhof und die beiden Transen rannten hinein. Einige Gegendemonstranten rannten schon die Treppe zum Bahnsteig herunter. »Zurückbleiben!«, sagte das Expertensystem, das den Zug steuerte, und Dione rief den herbeistürmenden Fanatikern fröhlich zu: »Fickt die Sau!«, da schlossen sich die Türen und der Zug fuhr los. In ohnmächtiger Wut schlugen ihre Verfolger gegen die Zugtüren und zuckten zurück. Ein Security-Mann hatte die Außenhaut des Zuges unter Strom gesetzt.
»So ein Dreckspack!«, murmelte ein bleicher Mann, der nicht viel anders aussah als Lucias und Diones Verfolger. »Wegen solcher Scheißer bin ich aus der Kirche ausgetreten!«
»Aber wir brauchen doch eine Religion«, wandte die Frau neben ihm ein. »Schon wegen dem Islam.«
»Unsere Pfaffen machen doch mit den Musis gemeinsame Sache, wenn es drauf ankommt«, entgegnete er. »Haste doch gesehen, beim Christopherdingsbums. Schimpfen über die Schwulen, sind aber selbst Arschlöcher. Ja, wir brauchen eine Religion. Aber eine ganz andere!«
»Willste etwa zu euren alten Göttern beten?«, fragte ein Halbwüchsiger mit schwarzen Haaren. »Den Heidenscheiß wieder machen?«
Der Mann trat zu ihm, ganz dicht: »Pass mal auf, Freundchen! Über meinen Gott lachst du nicht!« Böse blickte er zu Lucia und Dione. »Und über ihn macht man auch keine dreckigen Witze, weil er kein Witz ist!«
»Was?«, wollte Dione fragen, doch Lucia hielt sie zurück: »Ich weiß, wovon er redet.« Sie blickte den Mann an: »Du hast es aus dem Netz, stimmts?«
»Ja, dem Vidchat. Das hat mir die Augen geöffnet.«
»Das ist der Scheiß, wegen dem ich aus Mexiko abgehauen bin«, flüsterte Lucia. »Nur ist es mir gefolgt.«
»Brauchst nicht zu flüstern, ich habe dich trotzdem gehört«, erklärte der Mann. »Und es wird dir überallhin folgen! Überallhin!«
Die Ratte lugte mit dunklen Knopfaugen aus der aufgeschlitzten Brust des Toten hervor. Die Ratte! Lucias Hände krallten sich um den Hals des Mannes und Dione und zwei andere Fahrgäste mussten all ihre Kräfte aufbringen, um sie von ihm loszureißen. »Dreckiges Schwein!«, keuchte sie. »Dreckiges Schwein! Haben sie dir auch die Ratte gezeigt, die es sich in der Brust eines ihrer Opfer gemütlich gemacht hat? Hab ihn auf der Straße liegen sehen, mit aufgeschlitzter Brust und die Ratte guckte raus.«
Selbst die abgebrühten Berliner keuchten und ein Mädchen begann zu weinen. »Ist schon gut«, tröstete es seine Mutter. »Ist schon gut.«
Der Mann ließ sich nicht beirren: »Das ist die Zeit des Antichristen! Die Zeit von ihm, der all den Schmutz und Unrat hinwegfegen wird! Ich habe selbst mit ihm über Vidchat gesprochen.«
»Mit wem?«, fragte Lucia, in deren Hals sich ein Kloß bildete.
»Mit dem Ersten Erwählen der Großen Schlange. Ihm, dem sie das Leben geschenkt hat, damit er der Welt ihr Kommen verkündet.«
Die Augen des Mannes leuchteten in einem ungesunden Glanz, während er sein Mobil nahm und es ihr vor das Gesicht hielt. Auf dem kleinen Monitor war Wolodyn, in einem weißen Gewand ähnlich dem eines Priesters. Es war vorn offen und zeigte seine nackte Brust, über die sich eine lange Narbe zog.
»Ihm, dem das Herz herausgerissen und auf Befehl der Großen Schlange wieder eingesetzt wurde«, erzählte der Mann, da schimpfte die Frau mit dem Kind: »Das ist ja widerlich! Als ob es nicht schon genug Dreck in der Welt gibt!«
Vor Lucia verschwamm alles und erst, als sich Diones Hände um ihre Hüfte legten, merkte sie, dass sie nicht mehr stehen konnte. Dione ließ sie auf eine Bank sinken und Lucia flüsterte auf Spanisch: »Er macht dabei mit. Er ist bei den Wahnsinnigen. Wolodyn ist bei den Wahnsinnigen!«
 



 
Oben Unten