verzweifelt

Piit stand auf einem der gigantischen Luftgeneratoren von Kirschblüte. Am tagwärtigen Horizont glomm Kirsche und erst jetzt begriffen Lal, Án und Klôd, dass sie wieder im Interface waren. Hoch über Piit leuchtete weiß und rosa die Sichel von Kirschkern. Es war nur ein Schritt und ein Fall dreihundert Meter in die Tiefe. Feierabend! Warum nicht? Er war 47,5 metrische Jahre alt, hatte einen Sohn gezeugt und war weder sich noch der Welt etwas schuldig. Stille war wie der Tod. Nein. Für ihn, der schon das Interface mit Menschen und Maschinen, die Fülle des Datenraums und das Einssein beim Sex gekannt hatte, war Stille schlimmer als der Tod! Selbst von so etwas Läppischem wie der Bildung einer konvergierenden Folge zur Ermittlung einer Quadratwurzel wusste er nur noch, dass es sie gab. Vorher hatte er sich in seine Datenraum-Liege sinken lassen, die Augen geschlossen und den Geist geöffnet. Das Wissen, wie die Näherung auf n Stellen an eine Quadratwurzel ermittelt wurde, war in ihn geströmt und er hatte sich Gott und Newton und all denen, die Beispiele für das Wurzelziehen in den Datenraum gestellt hatten, nahe gefühlt. Der Computer leistete das nicht. Er flog über die Kante des Luftgenerators und trat den dreihundert Meter tiefen Fall an.
Piit sah ihm hinterher. Kleiner und kleiner wurde das Ding und verschmolz mit der dort unten plätschernden Brühe, deren Gestank bis zu ihm hoch stieg. Die Biologen hatten an das langwellige Licht von Kirsche angepasste Algen ausgesetzt, damit sie auf selbstregulierendem Wege Sauerstoff erzeugten. Das taten sie auch, aber ab und zu gab es ein Massensterben und dann stanken sie wie die Pest. Seinem Computer zu folgen und da unten aufzuschlagen war kein schöner Tod. Piit dachte an die Notretter, die dann seine Überreste zusammenscharren mussten.
Er schüttelte den Kopf und stieg in das Allzweck-Fahrzeug, das ihn Luter geliehen hatte. Er schloss das Verdeck, startete und raste über den fauligen Schlamm aus abgestorbenen Algen zurück zur nächsten Siedlung. Gelbes Leuchten am Horizont wies ihm den Weg und bald kam er in ein Dorf im hellen Schein einer an einem hohen Mast befestigten Lampe. Es war eine ländliche Gemeinschaft mit wenigen Häusern, dem Portal auf dem Dorfplatz, zwei Fabriken und Viehweiden und Ackerflächen. Hier kannte jeder jeden auch ohne Andenken und Datenraum, allein vom Sehen. Piit klappte das Verdeck zurück, fuhr die einzige Straße entlang und wieder aus dem Dorf heraus. Der Werkhof lag außerhalb und das weitläufige Haus von Luter befand sich noch weiter in der Einöde. Sein schmuckes Fachwerk und das Giebeldach aus roten, im Schein von Kirsche allerdings fast schwarzen Ziegeln ließen die Gegend darum herum um so trostloser wirken. Der schlammige Weg zur Haustür schreckte selbst verirrte Spaziergänger ab, näher zu kommen. Fehlten nur noch Mauer und Stacheldraht, aber das hätte Neugierige angelockt. Im Haus gab es kein Portal. Fürs Avenzen zum Dorfplatz gehen zu müssen, sorgte nach Luters Meinung für notwendige Bewegung. Wieder einmal wunderte sich Piit, warum sein Freund so abgelegen wohnte. Er hielt vor dem Gartentor, stieg aus und latschte durch regennassen Schlamm zum Haus.

SCHUHE AUS!

hatte Luter auf ein Schild neben der Haustür geschrieben. Piit tat es und ging hinein. Luter war nicht da. Piit sprach ihm eine Nachricht in den Computer: »Ich gehe.«

Zur Überraschung der im Kirschkern-System arbeitenden Menschen wurde es zu einem beliebten Ziel für Touristen. Wer schon alles gesehen hatte, besuchte die Umformer auf Kirschblüte oder machte eine Tauchfahrt nach Kirschkern. Das tat auch Piit und wie die anderen Passagiere an Bord des Tauchers trug er den vorgeschriebenen Überlebensanzug mit Panzerung, Lebenserhaltung und Gerätegürtel. Sein bevorstehendes Ende machte ihm keine Angst und seine aufgeregt schnatternden Mitreisenden ließen ihn nicht an seinem Vorhaben zweifeln. Die blieben in ihrem Taucher auf sicherer Höhe und warfen allenfalls einen computergenerierten Blick auf den gewaltigen Ozean aus metallischem Wasserstoff. Wie hatte Caru Piit gescholten, weil sie wegen ihm bis auf ein Terapascal hinab gegangen waren! Nun ging es tiefer hinab. Bis sein Überlebensanzug versagte, die Schutzhülle aus virtueller Materie rekombinierte und ihre Projektoren durchbrannten. Piit wurde eins mit enormer Hitze und gewaltigem Druck: der Riesenplanet war ein Grabmal, wie er es sich schöner und erhabener nicht wünschen konnte.
Piit lächelte.
Der Taucher glitt aus dem Orbit in die Lufthülle des Gasriesen. Piits Mitreisende waren im Interface mit dem Taucher und eins mit seinen mächtigen Maschinen und alles sehenden und hörenden, schmeckenden und riechenden, tastenden und fühlenden Sensoren. Selig lächelnd lagen sie auf ihren Sitzen, sicher angeschnallt, ohne die Gurte zu spüren oder das nüchterne Innere des Tauchers zu sehen. Nur Piit sah es. Der Passagierraum hatte nicht einmal Fenster, durch die er ohne Interface hinausblicken konnte.
Nein!
Nein!
Nein!
Er ertrug das nicht!
Piit löste seine Sicherheitsgurte, huschte zu einer Notschleuse und zog ihre Innentür auf. Derartige Systeme mussten einfach zu bedienen sein und durften im Ernstfall nicht versagen, weil ein übereifriger Kontrollkont eine Autorisierung verlangte. Deshalb hinderte das Schleusensystem Piit nicht an seinem Tun. Die beiden Piloten des Tauchers waren ebenso im Interface wie ihre Passagiere und würden zu spät merken, was in der materiellen Welt vor sich ging. Piit verschloss die Innentür und entriegelte die Außentür. Der Helm seines Anzugs war noch offen. Ohne Sauerstoff würde Piit in der Atmosphäre von Kirschkern in wenigen Minuten ersticken. Er würde nicht leiden, weil ihn rauscherzeugende Substanzen in ein Delirium versetzten. Nein! Entschlossen klappte er den Helm zu und überprüfte die Luftversorgung. Piit wollte so viel von Kirschkern sehen, wie es möglich war. Er stieß die Außentür der Schleuse auf und sprang hinaus!
Mit einem lauten Knall entfaltete sich der Gleitschirm und bremste Piits Fall. Der Taucher flog über den Wolken, wo Druck und Temperatur wie auf der Erde waren. Kirsche glühte dicht über dem Horizont und tauchte die sich ständig wandelnden Wolkengebirge in wattiges Weiß und Rosa wie Zuckerwatte. Wie Zuckerwatte bestanden viele Wolken aus energiereichen organischen Verbindungen. Die hohe Schwerkraft drückte die Atmosphärenschichten eng zusammen, aber zugleich schuf die gewaltige Wettermaschine von Kirschkern gigantische Wolkentürme, die sich bis an die Grenze zum Weltraum erhoben. In ihnen empor gerissener Wasserdampf kondensierte in der kalten Hochatmosphäre und an ihren Rändern fluteten die Wolken wie ein gigantischer Wasserfall zurück in die Tiefe.

. . . !

Langsam wurde die Helmscheibe wieder durchsichtig. In einem der Wolkentürme hatte ein Blitz mit der Gewalt einer Ladung Antimaterie getobt und zum Schutz von Piits Augen war die Scheibe undurchsichtig geworden. Wie die Faust von Göttervater Zeus erhob sich eine neue Gewitterwolke bis in den Weltraum und es blitzte und donnerte erneut.
Es gab so viel zu sehen.
Fast schwarz waren für seine Augen die Wesen, welche die langwellige Strahlung des Zentralsterns zum Aufbau organischer Verbindungen und energiereicher Kristalle nutzten. Sie ballten sich zu Wolken zusammen, die von gleißenden Blitzen durchzuckt wurden. Piit legte den Kopf in den Nacken und sah hoch über sich den Taucher Kurs auf pilzförmige Wolken dieser Wesen nehmen. Plötzlich kippte er, stieg steil nach oben und der Himmel explodierte!
Die Wolken aus Billiarden Flugwesen hatten ihre Energie freigesetzt und die Druckwelle der Explosion trieb Piit wie ein welkes Blatt über den von Horizont zu Horizont brennenden Himmel. Trocken knallend rissen die Schnüre des Fallschirms und etwas Klebriges, von dem Piit nicht wusste, ob es Schutzgel oder sein Blut war, sickerte in den Anzug. Die automatischen Rettungssysteme in seinem Gerätegürtel hatte er blockiert. Nichts sollte ihn daran hindern, eins mit Kirschkern zu werden. Kopfüber trudelnd stürzte er in rosarote und orange Wolken, prallte mit etwas Großem zusammen und fiel weiter, der Musik entgegen. Sie war jetzt um ihn und in ihm, Töne und Farben, Klänge und Geschmack, Hitze und Kälte, Tod und Leben, Mozart und Bach, Lieder der Menschen und Gesänge der Wale, Ton und Stille. Stille. Verwirrt ruderte er mit den Armen und sein Fall schien sich zu verlangsamen. Immer dichter und lauter, doch zugleich filigraner wurde die Musik und sie schien die ganze Welt zu enthalten. Die ganze Welt. Enthielt nicht jede irrationale Zahl die ganze Welt als Zahlencode, da sie unendlich viele Stellen hatte? Die Welt in der Welt in der Welt und tief im Innern von Kirschkern saß ein Wesen und notierte seit einer Ewigkeit die Eulersche Zahl e. Bilder und Gedanken strömten in Piits Geist und der Kont »Allgemeiner Datenraum > Kanal Kirschkern > Übersicht > Navigation« evozierte ihm seine Position, ermittelt aus dem Transponder des Gerätegürtels. Die purpurrote Kugel im Holo von Kirschkern, die Piit darstellte, war so groß wie die Erde. Aber er war doch still und konnte in seinen Geist keine Informationen aus dem Datenraum empfangen. Sein Kopf schien zu platzen.

Druck und Temperatur nähern sich Werten über Systemkapazität

blinkte es in seinem Geist. Entnervt dachte er seinen Gerätegürtel an und schaltete die von dem System evozierte Warnmeldung aus.

Hä?

Er war nicht mehr still.

Druck und Temperatur erreichen Werte über Systemkapazität

Ein Gedanke hatte genügt, um die Warnmeldung wieder einzuschalten.
Piit hantierte am Gerätegürtel und löste die Blockade der Rettungssysteme. Die hatte er von Hand eingestellt und so ließ sie sich nicht durch Andenken lösen. Die Systemkonts des Gerätegürtels knallten in seinen Geist, als ob ihm jemand das Ding um die Ohren haute. Nicht mehr still! Der Datenraum informierte ihn darüber, dass der Typ der von den Toten auferstanden war, Lazarus hieß und so fühlte sich Piit. Nicht mehr still! Er hätte avenzen können, doch das schien ihm nicht nur unprofessionell, sondern respektlos. Die Schutzhüllen aus virtueller Materie zickten nicht mehr rum, als es bei Tauchgängen in große Tiefe üblich war. Jetzt war er im Interface mit dem Projektor und würde rechtzeitig erfahren, wenn es Probleme gab, also bestand kein Grund zur Eile. Langsam und bedächtig stieg er auf, seinem wiedergewonnenen Leben entgegen. Der Datenraum teilte Piit mit, dass sich die so genannte Musik in den tieferen Schichten des Riesenplaneten Kirschkern jedem Nachweis durch nicht-intelligente Messgeräte entzog. Voneinander unabhängige Berichte mehrerer Taucher legten die Schlussfolgerung nahe, dass es sich um ein reales Phänomen handelte. Nicht mehr still, evozierte Piit in den Kont »Allgemeiner Datenraum > Kanal Kirschkern > Kirschkern-Musik > Anmerkungen«. Ich bin nicht mehr still.

»So!«, erklärte Piit. »Jetzt wisst ihr es!« In Klôds Geist zuckte ein Bild auf, wie sie sich auf der Suche nach Hilfe in die Tiefen von Kirschkern stürzten. Jetzt gleich. »Ihr«, begann Piit.

[ 4]( )

still

nicht normal

Freak aus dem Dampfzeitalter

bedauernswerte Geschöpfe​

uns lebt niemand mit

wir können nur schreien

Das taten sie.
Sie schrien, laut und gellend, bis Piits Schädel dröhnte.
Zugleich evozierten sie ihm, wie es war, still zu sein.
Er verstand es. Denn er war auch still gewesen. Das Gerede und Geplapper der Leute war in seine Ohren gedrungen und er war still und taub in seinem Gehirn eingesperrt gewesen. Er hatte es gehasst, wenn Leute sprachen, jetzt fiel es ihm wieder ein. Ihre Worte und ihr Lachen bohrten sich in ihn, bohrten sich in ihn.

»Kreisch!«

( )

»Aufhören!«, schrie er.
Ja, sofort!
Sie hörten auf, aber nur, weil sie sich heiser gebrüllt hatten. Piit dachte Luter an, ja sie konnten in ihrem Taucher in das Innere von Kirschkern gehen. Die Augen der drei glitzerten. So war Andenken! Schon bei ganz banalen Angelegenheiten. Sie hatten Piits und Luters Interface mitgelebt und würden nicht eher ruhen, bis sie das auch konnten.
Hastig verließen Piit und seine Schützlinge die Suite und die Tür glitt hinter ihnen zu. Auf ihr befand sich ein Schild:

Nicht stören!
Nur Servos!

Verständnislos blickten Lal und seine Freunde sich an. Was sollte das? Wie ein menschenscheuer Misanthrop hatte Piit nicht gewirkt. Na gut, dachte Lal. Komisch, die Suite rechts neben Piit war leer. Lal huschte durch den Korridor zurück und fand auch seine Nachbarsuite zur Linken nicht belegt. Hatte Piit alle drei gemietet? Das wurde immer seltsamer. Wenigstens hatte keiner ihr Schreien gehört.
Nun, wo ihr Entschluss gefasst war, zerrte Piit die drei zum Portal neben dem Denkmal des Tycho Brahe. Mit der rechten Schulter nach vorne drängte er sich durch die Menschen, auf dass ihm niemand zu nahe kam. Das Ziel hatte er schon eingedacht, als sie am Portal ankamen und im Laufschritt ging es hindurch in den kleinen, namenlosen Ort auf Kirschblüte, in dem Piits Freund Luter lebte. Schwer atmend plumpste Piit auf die Bank neben dem Portal. Er wirkte erleichtert und zugleich traurig, wie manche ihrer Freier, nachdem sie sich verausgabt hatten. Lal verstand gar nichts mehr und seinen Freunden ging es ebenso.
»Ihr werdet verstehen«, keuchte Piit.
Wieder ruhig führte er die drei zu Luters Werkhof. Luters hageres, bleiches Gesicht verzog sich zuerst unwillig, dann fiel sein Blick auf Án. Tiefe Röte überzog ihre blassen Wangen, er machte eine ruckhafte Bewegung mit dem Kopf und gehorsam folgte sie ihm.
»Alter Sack!«
Piit lachte.
Ja, Luter hatte Án angedacht, das erhaschten Lal und Klôd von ihr. Es machte ihn an, der erste zu sein, der nicht nur ihr Fleisch, sondern auch ihren Geist hatte. Obwohl sie kein Implantat trug.
Es wurde immer seltsamer.
 



 
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