(K)eine Chance

(K)eine Chance

Mit Tränen im Gesicht zog sie behutsam die Türe hinter sich zu. Der dumpfe Schlag durchzuckte ihren Körper. Ihre feuchte Hand verließ zögernd den Türgriff. Nun galt es einen kühlen Kopf zu bewahren, sich von den Gedanken ihres Mannes zu lösen und weiter zu gehen. Selbst wenn sie verdächtig wirkte, sie würde nicht anhalten. Im Flur war keine Menschenseele zu sehen und dass war gut so. Sie stöhnte, leise aber bewusst, als ob sie den Druck in ihrem Körper schwinden lassen könnte.
Bei jedem Schritt raschelte die zusammengeknüllte Einkaufstasche, die sie unter ihrem Mantel verdeckt hielt. Niemand würde sie bemerken, dachte sie sich. Niemand. Das letzte Mal ging es gut. Warum nicht auch dieses Mal? Am Fahrstuhl angekommen, betrat sie den erdrückenden kleinen Raum und drückte die EG Taste. Die Fahrt schien unendlich lang zu dauern. Im 3. Stock betrat ein Ehepaar den Aufzug. Der Mann im dunklen Anzug nickte ihr zu und sie erwiderte etwas zu schnell, beinahe militärisch, fast zu perfekt. Sie durfte sich keine Schnitzer erlauben. Als der Fahrstuhl aufging schlich sie, ohne das Ehepaar eines Blickes zu würdigen zum Ausgang – Richtung Freiheit. Nach einigen Minuten bog sie am Kiosk vis avis rechts ab und zündete sich verkrampft und mit zittrigen Händen eine Zigarette an. Das war geschafft.

War das alles? Dachte sich der Mann in dem Zimmer. Soll das alles gewesen sein? Mein ganzes Leben? Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er wusste, dass er es genauso wenig hätte ändern können, wie er sich selbst würde retten können. Machtlos lag er in dem Bett. Aber sie konnten ihn nicht zwingen. Wenn er nicht wollte, dann würde es eben nicht gehen. Vorsichtig verlagerte er sein Gewicht auf die linke Seite und zog eine angebrochene Zigarettenschachtel unter der Matratze hervor. Das Bett quietschte, aber niemand würde außerhalb des Zimmers einen Verdacht hegen. Aus der Schachtel entnahm er eine Zigarette und zündete sie mit dem bereitliegenden Feuerzeug an. Jeder Zug tat gut. Es schwindelte ihn etwas und ein bisschen was ihm mulmig zu Mute, aber war nicht sein ganzes Leben ein Anflug des Rausches gewesen? Was ist schon ein Leben verglichen mit der Ewigkeit? Ein Atemzug?
Rauchschwaden hingen bereits an der Decke. Er sah auf die Kontrollanzeige an der Türe. Ein rotes Lämpchen blinkte. Wie harmlos. Aber so unschuldig wie es zu sein scheint, ist es nicht. Scheiß Ding!!! Es wird nicht mehr lange dauern bis sie die Türe erreichen und mir alles wegnehmen. Seit sie an ihm herumgeschnippelt hatten, ihn zum Krüppel degradierten, war ihm alles egal. Was hätten sie ihm noch nehmen können? Ein Mann ohne Beine war in seinen Augen ein Zwerg. Seine Füße waren tot und bevor er sich selbst richtete, würden sie es für ihn tun. Dabei ist er selbst ein Masochist. Das muss man sein. Wenn man ein Mal die Lust verspürt, kann man es nicht mehr lassen. Selbst wenn sie ihn zwangen und ihm drohten endlich aufzuhören – er würde es durchziehen, bis er zusammenbräche.

In dem Moment knallte die Türe gegen die Wand und zwei Männer stürmten durch die Türe. Der Eine, ein Schwarzer mit krausigem Haar und einer Nase, die so platt war wie die eines Boxers, riss ihm die Zigarette aus der Hand und für einen Augenblick dachte er schon, er würde seine schwarzen Fäuste gegen ihn erheben und ihn ins Jenseits befördern. Aber dann hielt der Farbige inne und durchsuchte mit dem Zweiten, einem Weißhäutigen, dessen Vorfahren mit Sicherheit aus dem Norden stammte, das ganze Zimmer. Als sie nichts fanden, überdeckten sie seine amputierten Räucherbeine, die bis vor kurzem wie abgebrannte Glimmstängel aussahen, zu.
Er wehrte sich nicht einmal, lächelte nur in sich hinein. Seine Gedanken waren bereits bei drei weiteren Zigarettenstangen, die seine Frau für ihn hineingeschmuggelt und in der ganzen Reha versteckt hatte.
 



 
Oben Unten