"Es ist nur der Mythos, der zahlte" *

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papilio

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In vier Wochen würde ich meine literarische Abschlussarbeit im Prüfungsamt abgeben müssen. Weil ich noch keinen Satz auf dem Papier stehen hatte, geschweige denn eine Idee für ein Thema, und mich meine Kommilitonen mit ihrer Euphorie und ihren sprudelnden Einfällen völlig nervös machten, erlaubte ich mir spontan, eine Woche zum Wandern zu fahren. Vielleicht stellten sich beim ausgiebigen Laufen ja die bisher ausgebliebenen Ideen ein. Drei Tage schon war ich mit Oscar durch die menschenleeren Wälder gewandert und auf Berge geklettert, hatte uns jeden Tag längere und weitere Touren ausgesucht und am Abend saßen wir auf dem Balkon unseres Hotels und bestaunten den doppelten Vollmond: den am Himmel und den im See gespiegelten. Manchmal hob Oscar den Kopf und ich hatte den Eindruck, er fing nur mit Rücksicht auf mich nicht an zu heulen.
Am vierten Tag, als wir an einem einsamen See unterhalb eines Berggipfels eine Pause machten, trat aus dem Gebüsch neben uns plötzlich und völlig geräuschlos ein Lebewesen, das durch seine extrem dünnen Arme und Beine sowie eine sehr schmale und längliche Kopfform auffällig anders aussah. Während ich mich fürchterlich erschreckte, schaute Oscar dem Fremden nur neugierig entgegen.
Das fremde Wesen schob ein brillenähnliches Gebilde auf der Nase zurecht und stellte sich höflich vor: „Ich ein Reisender vom Planeten Europa bin und den ministerialen Auftrag habe, die Kultur der Erdenbewohner zu erforschen und neue Musikstücke zu sammeln. Deshalb ich dich frage: Welches dein Lieblingslied ist?“
Ich erschrak fast noch mehr als beim Anblick dieses Europäers. Schließlich habe ich immer mehrere Lieblingslieder, für jede Stimmungslage mindestens eins. Außerdem empfand ich die Frage viel zu intim: Ich würde doch mein Innerstes nicht vor diesem Fremdling ausbreiten: Ich würde ihm doch nichts erzählen von dem zugegeben makabren Inhalt des Liedes „I don´t like mondays“, das mich jedenfalls immer an den denkwürdigen Montag erinnern würde, an dem alle Schlösser der Klassenraumtüren von unbekannten Tätern durch Klebstoff unbrauchbar gemacht worden waren und wir Schülerinnen und Schüler somit einen freien Montag geschenkt bekamen. Ich würde ihm doch nichts von dem opernhaft opulenten „Bohemian Rapsody“ erzählen, dem ersten englischen Liedtext, den ich je in meinem Leben verstanden habe, und schon gar nichts würde ich ihm erzählen von den ungezählten wunderbar melancholischen Balladen, die mich sicher durch die abgründig traurigen Stimmungen geleiten. Hilfesuchend schaute ich Oscar an, aber der erkundete gerade, die Nase am Boden, die Gerüche des Kultur-Sammlers.
„´Moon over Bourbon Street`”, hörte ich mich verwundert sagen.
Der Europäer starrte einen Moment mit leerem Blick vor sich hin, so als würde er sich erinnern wollen, und bemerkte dann kopfschüttelnd: „Das von Sting ist. Das aber nicht als richtige Musik gilt.“
„Was ist denn richtige Musik, wenn das keine ist?“
„Wir bisher aus dieser Region der Erde Stücke von Bach und Beethoven, Strawinsky und Mozart gesammelt haben“, entgegnete er und begann wie zum Beweis eine Arie aus der Zauberflöte zu summen.
„So so. Da hast du dir bisher aber nicht viel Mühe gemacht und deine Sammlungen auf keine besonders breite Grundlage gestellt.“
Damit schien ich ihn bei seiner Ehre gepackt zu haben und er erklärte, dass die Europäer auf eine unserer Raumsonden gestoßen seien und dabei von der Erde und ihrer Musik erfahren hätten.
Ich fühlte mich gleich an mehrere Science-Fiction-Filme erinnert. Da kamen die Außerirdischen auch immer aus Neugierde zur Erde, weil sie auf Voyager I oder II gestoßen waren und damit auf Grüße in den Sprachen der Erde, auf kurze Filmdokumente, auf Bilder und eben auch auf Ausschnitte aus der Musik der Kulturen.
„Auf Voyager I ist aber nicht unsere gesamte Musik hinterlegt, die wir gerne hören. Vor allem fehlt ja alles, was nach 1967 gekommen ist.“
„So wie ´Moon over Bourbon Street ´?“ – “Genau.”
“Und warum das dein Lieblingslied ist und nicht eine Symphonie von Beethoven?”
„Da gibt es viele Gründe. Zum Beispiel mag ich, wie das Lied gesungen wird. Passend zum Inhalt des Textes singt Sting dieses Lied besonders traurig und düster.“
„Um den Mond es geht? Um den Vollmond?“ fragte der Reisende.
„Nur am Rand. Es geht um ein lyrisches Ich,“ – hier musste ich grinsen, weil ich endlich außerhalb des Seminars einen Fachbegriff nutzen konnte – „das durch die Straßen von New Orleans geht, wenn der Mond scheint.“
„Das nun nicht besonders faszinierend ist.“
„Es ist schon faszinierend. Denn der das Lied singt, beschreibt zuerst einmal seine Situation: er geht durch die mondbeschienenen Straßen, sieht die blassen Gesichter der anderen Menschen und erklärt - für den Zuhörer völlig unverständlich - dass er einem bestimmten Ruf folgen müsse und jeden Tag bete, „stark“ zu sein - was auch immer er damit meint. Dann erzählt er, dass er vor mehreren Jahren „wie ein unschuldiges Schaf“ in diese missliche Situation gekommen sei und nun unerkannt durch die Straßen laufe mit einem Hut auf dem Kopf, der seine Augen verdecke, die er als Augen eines Biestes beschreibt. Und er beschreibt, dass er das Gesicht eines Sünders habe, aber die Hände eines Priesters was für den Zuhörer die Situation auch nicht wirklich erhellt. Und dann erzählt er davon, dass es sich in eine Frau verliebt habe, der er nun immer folge und vor deren Fenster er nächtelang stehe. Dort kämpfe er mit seinem Instinkt, weil in ihm der Ruf sei, das zu zerstören, was er liebe. Als Zuhörer weiß man immer noch nicht so recht, was nun mit dem lyrischen Ich los ist. Trotzdem wird diese ganze Zerrissenheit und das ganze Unglück, das er hat, durch die besondere Art der Musik und durch die traurige und gedrückte Stimme deutlich.“
Der Fremde schaute mich verständnisvoll an. „Wir uns auch für die Musik interessieren, bei der Form und Inhalt absolut zu einander passen. Für uns auch wichtig ist, dass die Musik einer effektiven Ordnung entspricht. Eine Melodie wie Mathematik ist und es darauf ankommt, die Kenntnisse über die Harmonien zu optimieren. Optimale Musik dann die bestmögliche Umsetzung dieser Kenntnisse ist. Deshalb wir durch die Galaxien reisen und neue Musik sammeln. Wir hoffen, dabei neue Kenntnisse zu gewinnen. Und unser Anspruch es ist, die neuen Melodien möglichst exakt nachzuspielen.“
Oscar hatte genug neue Gerüche gesammelt und sich mittlerweile neben der Bank niedergelassen. Er schien uns aufmerksam zuzuhören. ´Exakt nachspielen` - hatte der Extra-Territoriale gesagt? - die Europäer schienen seelenlose Kopierer zu sein. Also versuchte ich weiter zu erklären:
„Musik hat für uns vor allem auch emotionale Bedeutung. Wenn ich „Moon over Bourbon Street“ höre, kann ich mir zum Beispiel ganz genau vorstellen, wie das lyrische Ich durch die Straßen schleicht, ich entwerfe also quasi einen Film. Und manchmal fällt mir auch die Situation ein, in der ich zum ersten Mal das Ende richtig gehört und dann das ganze Lied auch erst verstanden habe. Wir waren nach einer endlos langen Fahrt am Urlaubsort angekommen und aus tiefstehenden Wolken regnete es ununterbrochen und ohne Aussicht auf Besserung – und das im Juli. Also setzte ich mich auf den Balkon und hörte „Moon over Bourbon Street“ ziemlich laut mit Kopfhörern. Wenn ich es jetzt höre, habe ich immer wieder diesen Blick auf die tiefstehenden Wolken, die die Berge verhängen und den See dunkelgrün färben. Ich rieche die nasse Wiese und vor lauter Feuchtigkeit in der Luft fröstelt es mich. Und dann höre ich es, ganz am Ende, als das Lied schon vorbei ist. Ich habe es noch nie vorher gehört und selbst wenn man es weiß, hört man es nicht, nicht im Radio, nicht über normale Boxen, nur mit Kopfhörern.“
„Was hört man?“
„Das Heulen eines Wolfes, eines Werwolfes.“
Nun war der Fremde erschrocken. „Wir dachten es gebe keine Werwölfe auf der Erde.“
„Es gibt schon seit Jahrhunderten ganz viele Werwolf-Geschichten, es gibt ganz viele Filme über Werwölfe und mindestens auch dieses Lied.“
Nun hatte ich den Sammler in der Hand. Er rückte nervös hin und her, schob wieder das brillenähnliche Gebilde auf der Nase zurecht und murmelte etwas, was sich wie eine Verabschiedung anhörte. Dann drehte er sich abrupt herum und machte sich auf den Weg, wieder zwischen den Sträuchern zu verschwinden. Während er ging, wurde mir klar, dass ich mir nun keine Sorgen mehr wegen einer fehlenden Idee für die Abschlussarbeit machen musste. Oscar schaute mich kurz an, dann hob er den Kopf und heulte – endlich.


* Textzeile entstammt: Herbert Grönemeyer (1998) - „Reines Herz“ auf „Bleibt alles anders“
 
M

Minds Eye

Gast
Hi Papilio.
Deine Auffassung und Definition von "guter" Musik gefällt mir sehr gut. Eine wirklich nette, kleine Geschichte.
Grüße,
ME (auch nach ´67 entstanden).
 

papilio

Mitglied
Lieber Minds Eye,

schön, dass dir die Geschichte gefallen hat. Schließlich begleitet Musik die meisten Menschen ja ständig (mich auf jeden Fall) und ist (fast) so wichtig wie die geschrieben Texte. Und durch Nick Hornbys Buch "31 Songs" bin ich auf die Idee gekommen, aus dem Thema Musik eine Geschichte zu basteln.

Interessant finde ich die - unbeabsichtigte - Wirkung, durch das Lesen auf das Geburtsjahr der Ich-Erzählerin (oder ist es ein Ich-Erzähler?) zurückzuschließen - das meintest du doch mit ´67, oder?. Es wäre jedenfalls die Bestätigung des Ansatzes, dass jeder Text erst durch den "Akt des Lesens" "richtig" fertig wird.

Viele Grüße
papilio
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Papilio,

die Geschichte liest sich sehr angenehm, die Dialoge liefern Spaß, sogar ein klein wenig Spannung, und vor allem: interessante Gedanken zu den Wirkmechanismen von Musik.

Liebe Grüße

Pen.
 



 
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