10. Eintrag ins Traumtagebuch

flammarion

Foren-Redakteur
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10. Eintrag ins Traumtagebuch

Endlich hatte ich mir meinen Herzenswunsch erfüllen können, nach Indien zu reisen. Mehrere Wochen konnte ich dort bleiben und mich gründlich umsehen.
Natürlich wollte ich auch die Landessprache beherrschen und hatte einen sehr guten Lehrer gefunden, der mich die Sprache anhand alter indischer Weisheiten lehrte. Übungshalber murmelte ich diese Worte auf meinen Spaziergängen vor mich hin. Neben und hinter mir lauschten die im Staub liegenden Bettler erstaunt auf.
Eine Europäerin, die alte indische Weisheiten von sich gibt? Sie erhoben sich und folgten mir. Da ich mich ihnen nicht verständlich machen konnte, wusste ich auch nicht, wie ich sie abwimmeln sollte. Aus meinem Mund kamen nur Weisheiten.
Die Schar meiner Anhänger wurde ständig größer. Eine wahre Menschenlawine folgte mir. Es war beinahe gespenstisch und bedrohlich, all diese halbnackten, stinkenden Menschen in meinem Rücken zu wissen. Aber ich ertrug es mit Sanftmut.
Am Tag meiner Abreise ging ich mit gesenktem Blick und zaghaften Schritten zum Hafen. Was würden meine Anhänger tun, wenn ich auf das Schiff gehe? Sie können mir dorthin nicht folgen, sie haben keine Fahrkarten. Außerdem könnte kein Schiff der Welt so unendlich viele Menschen fassen!
Wie eine Antwort auf meine Frage hörte ich hinter mir ein Gemurmel, aus welchem ich entnehmen konnte, dass die Leute am Ufer auf meine Rückkehr warten wollten. Sehr erleichtert ging ich auf die Reling zu.
Rechts von mir entstand plötzlich ein Tumult. Es hieß, die indischen Studenten würden den amerikanischen Stützpunkt stürmen, weil dort ein riesiger Giftgasbehälter lagerte mit einer so großen Menge Gift, dass daran die gesamte Weltbevölkerung sterben könnte. Die Studenten forderten, dass die Amis ihren Dreck gefälligst in ihrer Heimat lagern sollten.
Der Tumult wurde immer heftiger. Steine flogen, Glas splitterte, Schüsse knallten. Dann hieß es: Der Giftbehälter ist gesprungen, das Gift tritt aus und verpestet die Luft. Panik brach aus. Tausende stürmten zum Hafen, wollten mit den Schiffen auf den Ozean hinaus und so der Gefahr entgehen. Ich wurde zur Seite gedrängt. Ich wandte mich meiner Anhängerschar zu. Erstens wusste ich, dass die Schiffe keine Rettung boten und zweitens wollte ich nicht niedergetrampelt werden, wie einige Leute vor mir. Ich erhob meine Stimme und sagte: „Wenn es beschlossen ist im Weltenplan, dass wir heute sterben sollen, dann wollen wir das mit Würde tun. Lasset uns noch einmal die Herrlichkeit dieser Erde in unsere Sinne aufnehmen und in Frieden scheiden.“
So standen wir erhobenen Hauptes, blickten in den wolkenlosen Himmel und betrachteten die ruhelosen Vögel, die ihre Bahnen wie eh und je zogen. Mit Bedauern und Mitleid blickten wir auf die vielen Menschen, die einander von der Reling stießen.
Bald sanken die Schiffe unter der Menschenlast. Einige Leute schwammen hektisch in die See, kamen aber nicht weit. Da der Hafen immer viele Abfälle bot, gab es Haie und Reptilien, die ihre Rachen aufhielten.
Es hatte geheißen, dass das Gift innerhalb eines Tages die gesamte Menschheit getilgt haben würde. Nun waren schon zwei Stunden vergangen und die Luft hatte sich nicht verändert. Sonderbar, denn der Tank war ja in unmittelbarer Nähe geplatzt. Kein Mensch ließ irgendwelche Anzeichen von Beschwerden erkennen.
Ich stimmte ein altes indisches Lied an und alle fielen ein. Bald klang das Lied durch die ganze Stadt. Der Tumult endete. Man kümmerte sich um die Toten und Verwundeten. Den hilflos im Hafenbecken strampelnden wurden Rettungsringe, Latten, Leitern und Stricke zugeworfen, damit sie nicht ertrinken.

Heute nennt man mich Maharani. Ich werde als Nationalheldin gefeiert, trage kostbare Sari und habe eine Leibwache. Es stellte sich nämlich heraus, dass kein Giftgas ausströmte, sondern Sauerstoff. Das Gift-Gerücht war nur verbreitet worden, damit das Volk das amerikanische Militär aus Indien treibt.
 



 
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