ANASTASIA LEBT NICHT MEHR

"Anastasia haben sie eingeschläfert." - "So?" - "Ja, weil sie immmer nach Russland wollte und nicht mehr Ruhe gegeben hat. Oh, nicht daß sie etwas zertrümmert oder jemanden tätlich angegriffen hätte; nicht das, nein. Aber geschrien hat sie, über eine Stunde lang, "ich bin Anastasia, muß heim, heim in's Zarenreich". Die hier sagen, daß das eine Auflehnung gegen die hiesigen Umstände sei; vor allem in ihrem Alter und dazu noch als Sozialfall. Dabei bekommt sie hier umsonst, wofür draußen ihre Rente niemals ausreichen würde, sagt Herr Heinrich, der Pfleger: ein Dach über dem Kopf, Bettwäsche, Nahrung und dann die viele, teure Arznei. Und wir sollten auch nicht das Personal vergessen, das uns vierundzwanzig Stunden lang vor der Welt draußen und den Dummheiten hier drinnen bewahrt, sagt er. Oh ja, sie haben sich wirklich gekümmert um Anastasia, haben ihr sogar einmal wöchentlich das Haar geduttet, weil's hygienischer aussieht, als wenn's so weiß und wirr über die knochigen Schultern fällt. Früher hat sie sich ja richtig kindisch dagegen gewehrt, das muß schon mal gesagt sein, da ging es nur mit Gurt oder wenn sie schon halb im Jenseits war. Aber inzwischen... Der Heinrich sagt immer, wenn man nach Anastasias Pfeife tanzen würde, müßte jeden Morgen einer an ihrem Bett stehen und sich zuallererst mit ihrem langem Haar beschäftigen; was natürlich völliger Blödsinn wäre, schließlich seien sie nicht ihre Kammerzofen. Einmal hat der Heinrich richtig geschimpft, als er gesehen hat, wie ein neuer Pfleger der Anastasia ein paarmal über die Hand gestrichen hat, zärtlich, verstehst du. So ein unnützer Aufwand wird hier gar nicht eingeführt, hat er den andern zusammengestaucht. Dabei hat es ihren Händen bestimmt gut getan, die waren doch immer so kalt und blau und ganz zerstochen. Ich glaub fast, der Heinrich hat sich vor Anastasia geekelt. Er hat nämlich immer so komisch den Mund zusammengekniffen, wenn sie gespritzt worden war. Dann war nämlich mit ihrer Hoheit gar nichts mehr los. Wie in einer Leichenhalle, hat er zu dem Neuen gesagt, wenn man auf sie herunterschaut; nur, daß die Blumen fehlen, das ganze Feierliche drumherum; die Musik, verstehst du. Gestern hat mir Anastasia noch zugeflüstert, daß sie alte russische Volksweisen so gerne mag, weil sie die quasi mit der Muttermilch aufgesogen hätte. Da hab ich es schon mal wissen wollen und hab sie gefragt, ob sie nicht auch eine französisch Gouvernante gehabt hätte, das war doch so gang und gäbe an den damaligen Höfen. Da hat sie mich mit ihrem Greisenlächeln ganz seltsam angeschaut, so, als würde sie über den Dingen stehen, weiß du. Ja, und in dem Moment hab ich alles geglaubt, und es ist wahr, daß sie aus politischen Gründen in die Anstalt gekommen ist, damals, als sie noch jünger war. Um sie wegzuhaben, ist doch klar. Na ja, mit der Musik war ja nun nichts. Der Weg in den Aufenthaltsraum ist für so ein Alter zu weit und mit einem Rollstuhl kann von uns doch keiner richtig umgehen. Ich hätt sie ja gern mal hinübergeführt und ihr was Russisches eingespielt oder zumindest etwas, was so geklungen hätte, es gibt ja genug fremde Musik. Aber erstens bekommt sie so starke Arznei, daß sie spätestens schon vor der Tür eingenickt wäre, und zweitens funktioniert das Radio seit Wochen nicht mehr. - Warum es nicht repariert wird? - Ach weißt du, die Oberschwester sagt, wir hätten schon Geräuschkulisse genug; und wir, ach, man ist ja den ganzen Tag so müde, da muntert einen das Radio auch nicht mehr auf. Und für was auch? - Hast du übrigens auch löslichen Kaffee eingepackt? Ich freu mich doch immer so auf deine monatliche Ration. - Nein, sonst hab ich nicht zu klagen. Seit drei Wochen probieren wir wieder ein neues Medikament aus. Von den letzten Kapseln, du weißt schon, die kleinen gelben, da hatte ich so zugenomen, daß der Stationsarzt sich schon Sorgen um mein Herz machte; Gefäßkranzverengung, hat er gemeint, und daß ich mich mehr bewegen müsse. Aber wohin, immer nur die Gänge auf und ab? - Nein, Depressionen habe ich schon lange nicht mehr. Manchmal bin ich sogar richtig fröhlich und weiß gar nicht, warum; ob das die neue Arznei ist?

"Du, Mutti, die Kinder warten." - "Ach, ist es schon wieder so weit? Sonst vergeht die Zeit hier überhaupt nicht. Vergiß dein Mütterchen nicht, ja?" - "Natürlich nicht. Heute in genau vier Wochen bin ich wieder da. Vier Sonntage, damit läßt sich's doch leben, oder? Bring dir auch wieder Kaffee mit und Pralinen. Aber jetzt heul doch nicht, das ändert doch nichts. Draußen haben die Menschen auch ihre Probleme, glaub's mir. Allein was wir abzuzahlen haben, den letzten Urlaub, und nun das neue Auto. Hast doch selbst gesagt, daß deine Depressionen weg sind. In Gedanken bin ich doch immer bei dir, weißt du doch." - "Ja, ich weiß, ich weiß ja. Grüß die Kinder von mir, ja? Hab sie doch so lange nicht mehr gesehen. Kannst du sie nicht mal mitbringen, wenigstens den Großen?" - "Mutti, darüber haben wir doch schon lange genug diskutiert. Die ganze Atmosphäre hier, das ist für Felix nichts, wo er doch so sensibel reagiert, das würde etwas hinterlassen bei ihm, das nicht gut ist und das willst du doch nicht, oder? Du, ich muß jetzt aber, Herbert wartet im Wagen und ich bin schon über die Zeit. Tschüß, Mutti. Und grüß deine Freundin, die Zarentochter, von mir..."

"Aber Anstasia lebt doch gar nicht mehr, die ist doch heim in's Zarenreich...Tschüß, meine Kleine. Und komm mich wieder besuchen,...und bring Kaffee mit...und die Kinder...ja?...


24.04.1988
 



 
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