Achtzehntes Märchen: Von den vier Königen

VikSo

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Achtzehntes Märchen: Von den vier Königen

Ich muss vollkommen verrückt sein, dachte Kai. Er saß auf der Couch im Wohnzimmer, ein Glas Wein in der Hand, um seine schlechte Laune zu vertreiben. Vor ihm kniete Maria auf dem Boden und vertrieb sich die Zeit damit, Skatkarten zu mischen, um sie danach wieder zu sortieren. Auch Georgi war bereits angekommen. Er kauerte auf einem Fußhocker – dem einzigen Sitzmöbel, bei dem seine Beine nicht in der Luft schlenkerten – und vertiefte sich in einen von Großvaters aus brüchigem Papier bestehenden Folianten. Einzig Viola fehlte. Sie hatte sich kurz nach Georgis Eintreffen in ihr Zimmer zurück gezogen mit der Bemerkung, sie müsse sich noch „vorbereiten“. Das war vor einer halben Stunde gewesen; mittlerweile war es zehn Minuten vor Mitternacht.
Zeit für die Prinzessin zu erscheinen., schoss es Kai giftig durch den Kopf. Ich komme mir vor wie ein Hofnarr, der auf Kommando bereit stehen muss.
„Gönne ihr noch ein paar Minuten Ruhe.“, bat Maria leise. Mit einem schnellen Seitenblick vergewisserte sie sich, dass Georgi weiter las. „Sie trägt eine ungeheure Verantwortung. Da kann man schon mal ein wenig nervös werden.“
„Wenn wir pünktlich um Mitternacht noch irgendwo auftauchen wollen, sollten wir langsam aufbrechen.“, bemerkte Kai grummelig. „Oder gilt in der magischen Welt eine andere Zeitzone?“
„Seid ihr soweit?“
Violas Stimme, von der Treppe herkommend, ließ ihn aufschrecken.
„Oh.“, stieß er hervor.
Auch Georgi konnte sich eines anerkennenden Nickens nicht enthalten. Viola schien diesen Besuch wirklich ernst zu nehmen. Zur Feier des Tages hatte sie ihre üblichen Jeans und Pullover abgelegt. Stattdessen trug sie ein weinrotes Samtkleid, wenig mehr als knielang. Ihre wilden Locken standen in einem Strahlenkranz von ihrem Gesicht ab, leuchtend wie ein Nimbus. Ihr Gesicht blickte den Wartenden ernsthaft und feierlich entgegen.
Maria war die erste, die sich erhob. Mit ihrem üblichen gemessenen Schritt schwebte sie auf Viola zu. Georgi folgte ihr; zuletzt Kai. Kaum waren sie alle um die junge Frau versammelt, stieg diese die Treppe hinauf.
Kai gaffte ihr nach. „Viola, sollten wir nicht endlich…“, wollte er einwenden. Da legte Maria den Finger an die Lippen.
„Wir sind schon auf dem richtigen Weg.“, hauchte sie, als sie, oben angekommen, Violas Zimmer betraten. „Die Tür! Hast du das schon vergessen?“
Da fiel es Kai wie Schuppen von den Augen. Natürlich: Im Märchen ging es ja so. Aber Viola glaubte doch nicht im Ernst…
Oh.
Sein Blick fiel auf den schweren, nach Eichenholz duftenden Kleiderschrank, der den Platz zwischen Fenster und Badezimmertür fast vollkommen ausfüllte. Eine der Türen stand offen. Das darf nicht wahr sein., stöhnte Kai innerlich. Dann musste er fast lachen. Von mir aus. Reisen wir also durch ein nicht vorhandenes Portal an einen nicht vorhandenen Ort. Dann haben wir es wenigstens hinter uns.
„Alle bereit?“ Viola blickte prüfend in die Runde. Nur an der leichten Falte auf ihrer Stirn konnte man ihre Nervosität erkennen. Georgi nickte einmal knapp. Maria neigte anmutig ihr Haupt. Kai zuckte gleichgültig die Schultern.
„Gut.“ Sie streckte Georgi ihre rechte Hand entgegen. „Halten Sie sich gut fest. Kai, du nimmst meine Linke. Maria, du hältst dich an Kais anderer Hand fest. Wir dürfen einander nicht loslassen, denn nur ich habe den Brief bei mir. Verstanden? Ich trete zuerst hindurch.“ Mit diesen Worten schritt sie voran, die anderen hinter sich herziehend wie eine Mutter ihre Kinder. Die Stirnfalte vertiefte sich, als sie entschlossen einen Fuß auf den Sockel des Schrankes setzte.
„Auf die Plätze – fertig – los!“
Mit einem beherzten Schritt verschwand Viola in der Dunkelheit des Schrankes. Der Zwerg folgte ihr ebenso schnell. Kai zögerte. Jetzt ist es doch genug., bat er im Stillen. Wollen wir das Possenspiel nicht beenden? Doch Viola, seine Hand noch immer fest umklammernd, zog ihn mit sich; gleichzeitig gab ihm Maria von hinten einen kräftigen Stoß. Mehr fallend als gehend stolperte Kai in den Schrank hinein und kam auf den knarzenden Holzbohlen zum Stehen…
… Nur dass dort keine Holzbohlen waren. Unsicher tappte Kai mit der Fußspitze auf. Statt des erwarteten Quietschens antwortete ihm ein leises „Klack“. Seltsam – bildete er es sich nur ein oder hallte das Geräusch ein wenig nach?
„Sind alle sicher durchgekommen?“ Violas besorgte Frage.
„Jawohl.“, knurrte Georgi.
„Alles bestens.“, flötete Maria.
Warum hallt es in meinem Kleiderschrank?
„Kai?“ Viola presste sanft seine Hand.
„Wo sind wir?“
„Wer ist da?“
Da sind Stimmen in meinem Kleiderschrank.
„Wer ist da?“ Diesmal wurde der Ruf lauter, bedrohlicher. „Zeigt euch, oder sollen wir euch Beine machen?“
„Wir sind geladene Gäste.“ Kai hatte Mühe, in dieser autoritären, befehlsgewohnten Stimme Violas zu erkennen.
„Das kann jeder sagen. Kommt her, weist euch aus!“
„Seid ihr immer so höflich? Bringt uns ein Licht und zwar flink, sonst mache ich euch Beine.“
Durch die Finsternis hindurch konnte Kai die Unsicherheit der anderen spüren. Zwei, drei Sekunden. Dann ertönte ein Klicken. Einen Moment später sah er in zwei Metern Entfernung einen kleinen, gelben Lichtschein.
Seit wann ist der Schrank eigentlich so groß?
Das Licht wanderte näher. Sein Schein beleuchtete zwei kreisrunde, teigige Gesichter mit wachsamen, braunen Augen. Sorgsam begutachteten diese Augen die Gruppe, zuerst Kai, dann Georgi. Bei Marias Anblick straffte der Linke angriffslustig seine Haltung, was diese mit einem stoisch ruhigen Gesicht beantwortete. In der Zwischenzeit hatte der Rechte eine Laterne –von dieser kam das Licht – auf Viola gerichtet. Seine Augen kniffen sich erst kurzsichtig zusammen. Dann weiteten sie sich. Seine Hand krallte sich in den Unterarm seines Freundes.
„Das ist sie.“ Sein Flüstern kam als mehrfaches Echo zu ihnen zurück.
Nun war es an dem anderen, für einen Augenblick zu erstarren. Als er sich gefangen hatte, versuchte er sich an einer unbeholfenen Verbeugung.
„Ich bitte um Verzeihung, Banríon.“, murmelte er. „Wir wurden von unserem König als Wache abgestellt. Den ganzen Tag schon geben wir acht, dass kein Unbefugter…“
„Und ihr erfüllt eure Aufgabe hervorragend.“, unterbrach ihn Viola mit mildem, aber entschiedenem Ton. „Wollt ihr uns nun in den Versammlungssaal führen?“
„Alle, Banríon?“ Der unsichere Blick des Wortführers glitt über Georgi und Kai, um schließlich bei Maria zu verweilen.
„Alle sind geladen.“, erklärte Viola bestimmt. „Sie gehören zu mir und werden auch so behandelt.“
Der Wächter wirkte weiterhin skeptisch, aber Violas Ton ließ keinerlei Zweifel zu.
„Folgt uns. Bitte.“, forderte er die vier auf. Dann schritten die beiden Wächter mit der Laterne in der Hand voran. Ihnen folgte Viola mit vorgerecktem Kinn. Die drei anderen bildeten die Nachhut. Für einige Meter schienen sie durch eine Art langen Tunnel zu gehen. Kai, der angestrengt voraus starrte, konnte zuerst kein Ende erkennen. Dann tauchte, zuerst winzig, aber schnell größer werdend, ein Durchgang vor ihnen auf. Der Raum dahinter war offenbar nur spärlich beleuchtet; ein schwacher Schimmer unterschied ihn von dem Tunnel. Ohne es zu merken, beschleunigte Kai seinen Schritt. Endlich durchquerte er kurz hinter Viola einen hohen Torbogen. Nun erst konnte er ihr Reiseziel vollständig in Augenschein nehmen.
Das ist definitiv nicht mein Kleiderschrank., war das erste, was ihm durch den Kopf schoss. Mit offenem Mund hob er den Kopf, um zu einer Decke aufzublicken, die sich etwa zehn Meter über seinem Kopf kuppelförmig wölbte. Darunter verliefen an der linken Seite eins, zwei, drei…siebzehn bodenlange Spiegel in die Höhe. Ihnen gegenüber lagen siebzehn ebenso geformte, ebenso riesige Fenster, aus denen man auf einen Park mit niedrigen Bäumchen hinaus blickte. Die Fenster wurden von dicken, marmornen Säulen eingerahmt, die dem Torbogen ähnelten, den sie gerade durchschritten hatten. Kai drehte sich um, um einen Blick in den Gang zurück zu werfen, durch den sie gekommen waren. Doch dort war nichts. Kein Tor, kein Gang. Nur eine ganz gewöhnliche Tür, die in den dunklen Raum dahinter führte.
Mit einer Gänsehaut wandte Kai seine Aufmerksamkeit zurück zu den Spiegeln. Sie bedeckten die ganze Wand des schlauchförmigen Saales, ließen diesen noch riesiger erscheinen. Dazwischen stand jeweils ein Lüster, dessen Kerzen ebenso unecht und elektrisch betrieben waren wie die der von der Decke hängenden Kandelaber. Keine dieser Leuchter war in Betrieb. Statt ihrer erkannte Kai in der Mitte des Raumes vier Lichter, die aus der Entfernung winzig klein erschienen. Beim Näherkommen entpuppten sie sich als weitere Laternen, so wie die Wächter eine trugen. Ihr unstetes, orange-rotes Flackern, wurde von den Spiegeln vielfach zurückgeworfen.
Um diese Laternen herum hatte sich eine Gruppe ernster, schweigender Gestalten niedergelassen. Einer – ein hochgewachsener, schlanker Mann - saß im Schneidersitz hinter der Laterne im Zentrum, sodass er die Ankömmlinge geradewegs im Auge hatte. Ihm zur Rechten hatte sich auf einer Sitzbank eine grimmig dreinblickende, uralte Frau niedergelassen. Stehend hätte sie dem anderen höchstens bis zum Bauchnabel gereicht. Ihre Glieder waren mager, obwohl Hautfalten an Hals und Gesicht von einstiger Wohlbeleibtheit zeugten. Sie wäre in der Dunkelheit des Raumes geschwunden, hätte ihr steinernes Gesicht und die gebieterisch aufrechte Haltung nicht unweigerlich die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen. Bei ihrem Eintreten nickte sie Georgi kurz zu, der daraufhin an Ort und Stelle auf sein rechtes Knie niedersank und bis auf weiteres in dieser Stellung verharrte, die Augen starr auf die Greisin gerichtet. Dieser gegenüber schließlich hockten hinter einer dritten Laterne zwei Jungen, Zwillinge. Ihrem Gesicht nach konnten sie nicht älter als zehn Jahre sein; ihre feingliedrigen Körper ließen sie noch jünger wirken. Aus großen, mitternachtsblauen Augen blickten sie Viola und ihren Begleitern entgegen.
Wie Kai bemerkte, markierte die Kleidung dieser vier ihre Zugehörigkeit zu jeweils einem der magischen Völker: Der Hüne barfuß in waldgrünen Hosen und einem Hemd in der Farbe eines Lindenblattes. Die Alte hatte sich in ein silbergraues Kostüm im Stile Hilary Clintons gehüllt, darunter glänzten von silbernen Fäden durchzogene Seidenstrümpfe. Die Zwillinge währenddessen trugen über Jeans indigofarbenen Shirts. Diese vier saßen hinter drei Laternen. Die vierte war bisher leer geblieben. Fehlte nur noch…aber nein.
„Sei willkommen, Banríon.“ Die Stimme des Kobolds hallte laut und klar durch den Saal. „Ich heiße dich willkommen als letzte in unserem Kreis. Wie du siehst, hat Kvinne Sovia mir den ihr zustehenden Vorsitz in dieser Versammlung abgetreten. Willkommen seien auch deine Begleiter.“ Sein Blick streifte Gregori, verharrte kurz bei Maria und blieb schließlich bei Kai hängen.
„Ich danke dir, Rí Devin.“, entgegnete Viola gelassen. „Auch für die Einladung an meine Freunde.“ Obwohl sie das Wort „Freunde“ nur kaum merklich betonte, flackerte der Blick der vier Sitzenden kurz zu Maria. Diese erwiderte ihn mit gleichmütiger Ruhe. Der Kobold, Devin, blinzelte unruhig. Das Gesicht der Zwergin versteinerte ein wenig mehr. Die Jungen verfolgten aufmerksam das Geschehen. Dann war der Bann gebrochen und Devin wies mit einer einladenden Geste auf die Laterne ihm gegenüber. „Bitte setze dich. Darf ich deine Begleiter bitten, unsere Wächter noch einen Moment nach draußen zu begleiten? Es gibt Dinge, die wir zu Anfang unter uns besprechen müssen.“
Kai konnte Violas Gesichtsausdruck nicht sehen, als sie wie beiläufig sagte: „Selbstverständlich.“ Er fühlte nur, wie ihn Maria sanft am Ellbogen packte und hinter den Wächtern her schob. Diese hielten geradewegs auf einen der Spiegel zu. Als sie sich ihm auf einen halben Meter genähert hatten, schwang das Glas auf einmal beiseite und gab den Blick auf einen weiteren Raum frei. Im Gegensatz zum Spiegelsaal selbst hatte dieser keine Fenster, war dafür aber hell und warm erleuchtet. Dennoch überkam Kai ein unwohles Gefühl, als die Geheimtür hinter ihnen zuschnappte.
In dem Raum befand sich nicht ein einziges Möbelstück. Die drei Gäste waren gezwungen, sich auf dem Boden niederzulassen, während die Wächter vor der eben durchschrittenen Tür – dem einzigen Ausgang – Posten bezogen. Georgi und Maria störten sich auch nicht weiter daran, sondern machten es sich an Ort und Stelle bequem. Kai als einziger schien sich überrumpelt zu fühlen. Nicht nur hatte er die Tatsache noch nicht verdaut, dass er sich tatsächlich nicht mehr in seinem Kleiderschrank befand (in der Tat wusste er von Fotos her ziemlich genau, wohin sie gereist waren). Es empörte ihn auch, von vier völlig Fremden des Raumes verwiesen zu werden, während da drüben über Dinge gesprochen wurde, die Maria, Georgi und vielleicht auch ihn mindestens genau so angingen. Konnte zum Beispiel Maria die Begegnung mit dem Kelpie nicht viel besser wiedergeben als irgendein anderer? Überhaupt hatte sich Viola die ganze Zeit über reichlich bestimmerisch verhalten. Wer gab ihr und den vier anderen das Recht, dermaßen über sein Tun und das der anderen zu verfügen?
„Aber hast du das denn immer noch nicht verstanden?“ Marias Stimme, leise aber durchdringend, schreckte ihn aus seinem Brüten auf. Ihr Blick drückte ehrliches Erstaunen aus.
„Was verstanden?“, fragte Kai, eine Spur von Trotz in der Stimme. In Wirklichkeit wusste er wohl ganz genau, worauf sie ihn hinwies.
„Weiß der Junge etwa nicht Bescheid?“, schaltete sich nun auch Georgi ein. Seine Stirn kräuselte sich in verächtlicher Überlegenheit.
„Es hat ihm wohl noch niemand gesagt.“, murmelte Maria, sorgsam darauf achtend, dass die Wächter sie nicht belauschten. „Obwohl ich dachte, es sei ziemlich offensichtlich. Nun wie dem auch sei…“ Und indem sie ihren Mund noch näher an sein Ohr neigte, begann die Hexe zu erzählen:
„Es war einmal ein kleines Mädchen…“
 



 
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