Allahu Akbar (Gott ist größer)

Ruedipferd

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Es war einmal ein alter arabischer Kaufmann mit Namen Achmed.
Er lebte vor langer Zeit in Mekka, der heiligen Stadt des Propheten Mohammed. Der alte Mann war gerade wieder mit seiner Karawane auf dem Heimweg von einer langen Reise durch Arabien. Die Sonne brannte heiß vom Himmel herab und Achmed spürte den glühenden Wüstensand unter seinen Schuhen, während er langsam neben seinem gemächlich dahin schreitenden Kamel einen Fuß vor den anderen setzte. Das Alter setzte ihm zu. „Nur noch diese letzte Reise“, stöhnte er. „Dann setze ich mich zur Ruhe.“ Achmed hatte aber keinen Sohn und auch seine Frau war schon vor langer Zeit ins Reich Allahs gerufen worden. Ohne einen Erben würde er sein Geschäft wohl an einen Fremden verkaufen müssen. Während der alte Mann grübelnden Gedanken nachhing, bemerkte sein Karawanenführer hinter einer Düne mehrere Geier am Himmel kreisen. Und im nächsten Augenblick schon erreichte Achmed das Signal zum Halten. Er wies einen Jungen an, die Aufsicht über seine Kamele zu übernehmen. Dann eilte Achmed zur Spitze der Karawane. Der Kaufmann kannte die Wüste wie seine eigene Westentasche und wusste auch genau um die vielen Räuberbanden, welche immer wieder gierig plündernd und mordend die Gegend unsicher machten. Als die Männer nun besagte Düne emporstiegen, blickten sie mit Mitleid und Entsetzen auf die traurigen Überreste einer anderen Karawane. Ein fürchterlicher Geruch wies ihnen den Weg zu dem Gemetzel, welches wenige Tage vorher hier stattgefunden haben musste. Die Leichen etlicher Männer und sogar zweier Kamele verwesten faulend in der Sonne. Neben ihnen fanden sich einige leere Körbe und zerschlagene Krüge von nur geringem Wert.
Nachdem Achmeds scharfer Blick das Schlachtfeld vollständig erfasst hatte, bemerkte sein geschultes Auge eine sachte Bewegung in einem der Körbe vor ihm. Er vermutete sogleich eine Giftschlange und in Sekundenschnelle ergriff seine Hand den kurzen krummen Säbel, den er ständig am Gürtel mit sich führte. Das blanke Metall blitzte hell in der Sonne auf, währenddessen der alte Mann damit den Deckel vom Korb stieß. Aber es war keine gefährliche Schlange, die ihn dort durch zwei zu Tode erschrockene Augen ansah. In dem Korb saß nur ein kleiner zitternder Junge von etwa zehn Jahren. Er trug Kleider, die der weit gereiste und hoch gebildete Achmed schnell den Christen zuordnete. Das Haar des Knaben schimmerte wie Gold im Sonnenlicht und an seinem Hals hing das Kreuz ihres Gottes, der ja eigentlich auch sein Gott war.

Judentum, Christenheit und Islam unterscheiden sich nur durch ihre Propheten. Einige Gestalten wie Abraham, seine Söhne Ismael und Isaak und auch David sowie Moses kommen im Alten Testament wie im Islam vor. Achmed war nicht nur gläubiger Muslime. Er hatte sich in all den Jahren auch ein umfassendes Wissen über die Religionen und andere Völker erworben und konnte arabisch sowie auch griechisch lesen und schreiben. Selbst Latein, die Sprache der Römer, beherrschte er recht sicher. Mit einem väterlichen Lächeln auf den Lippen schob der alte Mann seinen Säbel wieder in die Scheide zurück. Dann ergriffen seine immer noch kräftigen Arme den Knaben. Seine Hand fuhr durch das hellblonde Haar, als er den Jungen vor sich auf den Boden stellte.
„Wie heißt du?“ Doch Achmed schüttelte im nächsten Augenblick über sich selbst den Kopf. Natürlich würde ihn das Kind nicht verstehen können. Welcher Christenjunge spricht schon Arabisch? Und schon im nächsten Moment glaubte der Greis seinen Ohren nicht zu trauen. „Johannes, mein Vater ist..., er war Kaufmann aus Ulm. Wir kamen vom Emir und wollten über Mekka nach Jiddah ans Rote Meer reisen, um von dort mit dem Schiff nach Norden zu segeln. Doch dann haben uns Räuber überfallen und alle Männer getötet. Auch meinen Vater“, fügte der kleine Junge mit zitternder Stimme hinzu. „Du sprichst Arabisch?“ Achmed zwang sich, seine Gedanken zu ordnen. Bei seinem letzten Gebet heute Morgen bat er Allah um ein Zeichen, was denn mit seinem Geschäft geschehen solle, wenn er zu alt würde, um es fortführen zu können. Und nun stand plötzlich ein elternloser Christenjunge vor ihm, der ihm in nahezu fließendem Arabisch antworten konnte.
„Ich hatte einen arabischen Lehrer und wurde beim Emir zusammen mit dessen Söhnen unterrichtet. Mein Vater rettete einst dem Herrscher das Leben, so durfte er mich im Palast lassen, wenn er wieder nach Deutschland aufbrach, um unsere Waren dort dem Kaiser zu bringen. Vater handelte mit Gewürzen.“ Dankbar sah Achmed nach dieser Erläuterung zum Himmel hinauf. „Du wirst uns begleiten“, erklärte er dem blonden Knaben mit ernster Miene. „Darf ich meinen Vater vorher noch begraben?“ Johannes‘ bittenden Augen vermochte der alte Muselmann nicht zu widerstehen. Doch schon eine Stunde später setzte sich die lange Karawane wieder in Bewegung. Johannes saß ganz oben auf dem Kamel, während Achmed ihm die Geschichte seines Vorfahren, des großen Propheten Mohammed, der im Alter von vierzig Jahren in einer Höhle auf dem Berg Hira meditierte und dort durch den Engel Gabriel, der auf Arabisch Djibril heißt, seine Berufung erfuhr, erzählte. Nachdem Djibril dem zukünftig dritten Propheten Gottes die erste Sure des Korans diktiert hatte, begann Mohammed das ganze Buch nach den Worten des Erzengels aufzuschreiben und begründete damit die dritte Weltreligion. Johannes hörte dem alten Mann interessiert zu. Dann erfuhr dieser, dass Abraham oder Ibrahim, wie er bei den Muslimen genannt wird, nicht nur der Vater Ismaels, von dem der Prophet Mohammed abstammte, war, und zusammen mit seinem Sohn die Kaaba in Mekka errichtete, sondern als Vater Isaaks und über dessen Enkel Jakob und den aus ihm hervor gegangenen zwölf Stämmen Israels zusätzlich der Stammvater der Juden und somit später auch aller Christen wurde.
Sogar die Entstehungsgeschichte Mekkas kannte der kleine Junge und der alte Achmed staunte nur und ahnte, dass Allah selbst ihm den klugen Knaben gesandt haben musste. Nach einem weiteren Tag erreichten sie die Heilige Stadt Mekka. Johannes blieb bei Achmed, der ihn als Sohn annahm und ihm den Namen Jonah, arabisch: die Taube, gab.
Jonahs Klugheit und Auffassungsgabe waren schon bald unter den weisen Männern sehr bekannt und es schien, als könne der Knabe sogar in die Zukunft sehen. Als nämlich kurze Zeit nachdem Jonah Achmeds Sohn geworden war, ein Freund Achmeds eine längere Reise antreten wollte, gab ihm Jonah den Rat, auf einem anderen, als dem üblichen Wege zu reiten. Und siehe da, einen Tag später erreichte die Einwohner Mekkas die Kunde von dem furchtbaren Steinschlag, welcher just an jenem Tag diesen Weg unpassierbar gemacht hatte. Wäre der Freund dort entlang gekommen, man hätte ihn wohl nie mehr wieder gesehen. Viele ähnliche Geschichten wurden alsbald von dem wundersamen Knaben berichtet.
Eines Tages gingen Achmed und Jonah zum Abendgebet in die Moschee. Natürlich musste der Junge zum Islam übertreten, denn kein Ungläubiger darf seinen Fuß jemals in die Heilige Stadt Mekka setzen. Jonah aber bewahrte ein Geheimnis in sich, von dem er auch Achmed noch nichts erzählt hatte. Als nun am Abend des 24. Dezember beide auf dem Teppich in der Moschee knieten und begannen, ihre Gebete zu sprechen, erhellte sich wie durch ein Wunder der Platz um den kleinen Jungen. Die gläubigen Muslime sahen erstaunt und voller Ehrfurcht zu Jonah hinüber. Sie glaubten ihren Augen nicht zu trauen. Ein heller Lichtkranz umgab plötzlich das Kind, welches mit entrücktem Blick das Haupt zum Himmel hob. Seine kleinen Hände öffneten sich, so als seien sie bereit, eine Botschaft zu empfangen. Die Lippen des Jungen bewegten sich, doch Achmed, der neben ihm kniete, durfte es nicht wagen, näher an seinen Sohn heranzurücken, damit er die leise gesprochenen Worte verstünde. Zu stark und gleißend war das Licht, das direkt durch die geschlossene Decke der Moschee vom Himmel zu kommen schien und den kleinen Jungen vollständig einhüllte. Die Erscheinung währte nur einige wenige Minuten, doch den Betenden in der Moschee kam sie wie eine Ewigkeit vor. Dann verschwand das Licht, so plötzlich, wie es gekommen war. Jonah kniete auf seinem Platz, beugte die Stirn und verneigte sich vor Allah. Als sie ihr Gebet verrichtet hatten, nahm Achmed den Knaben an die Hand und verließ mit ihm die große Moschee.
Erst spät zur Nacht fand Achmed endlich den Mut, seinen Ziehsohn zu befragen. Jonah nickte mit dem Kopf. Auch in der Wüste habe er zweimal eine solche Erscheinung gehabt, erzählte er dem gläubigen Mann. Kurz bevor die Räuber kamen, lag er, zur Nacht gebettet, unter seinen Decken und sah zum Himmel hinauf. Ein Stern, so funkelnd, hell und schön, stand plötzlich über ihm. Und dann sprach eine warme liebliche Stimme aus diesem Stern. Sie sagte, er, Jonah, der ja zu der Zeit noch Johannes hieß, solle sich nicht fürchten. Alles, was heute Nacht und in den nächsten Tagen geschehen würde, wäre Gottes Wille. Der Stern erlosch und die Räuber überfielen das Lager. Ein Engel nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu dem Korb. Als er hineinkroch, sah er seinen Vater unter dem Hieb eines Räuberschwertes sterben. Aber er empfand keine Trauer. Der Engel ging zu seinem Vater und nahm auch ihn bei der Hand. Jonah schlief ein und erwachte erst kurz vor Sonnenaufgang. Und wieder umgab ihn ein helles Licht. Ein zweiter Engel war erschienen und gab ihm etwas zu essen und zu trinken. Dann verschwand er und eine Stimme sprach zu ihm. Achmed sah seinen Sohn ehrfurchtsvoll an. Dann ließ er ihn weiter erzählen. Und Jonah antwortete mit denselben Worten, wie die Stimme, die zu ihm gesprochen hatte. „Fürchte dich nicht, Johannes, ich will dir einen neuen Namen geben und einen neuen Vater. Bei ihm sollst du die dritte Religion lernen, die ich den Menschen einst sandte. Aber du wirst etwas Besonderes sein unter den Muslimen. Du sollst allen meinen Völkern wieder den Frieden bringen, den sie so lange entbehrten. Weise will ich dich machen und klug.“ „Was geschah heute in der Moschee?“ Achmed musste einfach diese Frage stellen. „ Die Stimme sprach wieder zu mir“, antwortete Jonah und sah seinen neuen Vater mit einem Blick an, der nichts anderes verriet, als tiefste Liebe und Vertrauen.
„Du bist jetzt mein Vater, Achmed, denn Allah hat es gefallen, meinen ersten Vater, dessen Namen ich trug, bevor ich meinen neuen Namen bekam, in sein heiliges Reich zu holen. Ich soll bei dir wohnen und alles lernen, was ich wissen muss, um ein Mann zu werden. Ich glaube Gott oder Allah, wie er im Arabischen heißt, sprach selbst zu mir. Er will, dass ich Juden, Christen und Muslimen den Frieden bringe. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich das anstellen soll, aber ER wird mir den Weg weisen. „Achmed nahm seinen Sohn in den Arm, herzte ihn und nickte dann auch wissend mit dem Kopf.
„Allahu akbar, Gott ist größer als alles andere!“

Jonah wuchs zu einem kräftigen jungen Mann heran. Er verbrachte viele Stunden außerhalb Mekkas in der Wüste und erlebte dort noch weitere Visionen. Gott sprach meistens durch einen wunderschönen Engel zu ihm und ein anders Mal hatte Jonah das Gefühl, die Engel schützten auch die wilden Tiere. Als sich nämlich eines Tages plötzlich eine giftige Schlange zu Jonahs Füßen schlängelte und er schon die Hand zum Säbel führte, um ihr den Kopf abzuschlagen, da hörte er wieder eine menschliche Stimme sprechen: "Jonah, halte ein, auch wenn die Schlange einst Eva im Paradiese verführte, so bleibt sie doch ein Geschöpf Gottes wie du und der Mensch soll sie und ihresgleichen nur töten, wenn er selbst angegriffen wird. Ansonsten lass bitte jedes wilde Tier seiner Wege ziehen!" Jonah verneigte sich in Demut, denn er wusste, wessen Worte es waren, die er vernommen hatte.
Die meisten Einwohner der Heiligen Stadt achteten ihn als einen sehr weisen Mann, der nach dem Tode Achmeds dessen Geschäft übernahm und es, nachdem er in Deutschland sein väterliches Erbe angetreten hatte, zu einem großen Handelshaus ausbauen konnte. Nur eine alte Hexe, die in jungen Jahren ein Auge auf den vermögenden Achmed geworfen hatte, war Jonah um dessen Stellung neidisch. Sie versuchte mit bösem Zauber immer wieder Zwietracht zwischen Vater und Sohn zu säen. Doch eines Tages folgte die Greisin einem Raben, der sie weit in die Wüste hinein lockte und von dort fand sie den Weg nicht mehr zurück.

Zu dieser Zeit pilgerten nicht nur die Muslime nach Mekka. Auch Juden und Christen saßen in großer Anzahl vor den Toren der Stadt und huldigten dem Manne, der von Gott selbst den Auftrag bekommen hatte, sie alle allein durch sein Heiliges Wissen um die Anfänge ihrer Religionen in Frieden und als Brüder und Schwestern, die sie ja in Wirklichkeit auch waren, wieder zusammen zuführen. Jonah heiratete und bekam viele Söhne und Töchter, denen er, so wie er es selbst gelernt hatte, die Grundlagen und Gemeinsamkeiten aller drei Religionen beibrachte. Er lehrte seine Kinder in Einklang mit der Natur zu leben und die Tiere, auch die Wilden und Gefährlichen, als Mitgeschöpfe zu betrachten. Keine Schlange darf nur aus Mutwillen heraus getötet werden.
Johannes, im Namen des Juden Jesus als Christ getauft und von dem Nachfahren Mohammeds als Moslem adoptiert, vereinigte während der Zeit seines Lebens tatsächlich alle drei Religionen. Er machte so auch seinem muslimischen Namen alle Ehre, denn die Taube, die einst den Ölzweig zu Noah in die Arche brachte, verkündete damit den neuen Frieden, den Gott nun für immer und alle Zeit mit den Menschen schließen wollte. So ist die Taube bis in unsere Zeit das Symbol des Friedens und jeder, der eine weiße Taube sieht, soll an Gott denken und wie Jonah, Menschen und ihre Religionen achten.
Als nun die Zeit gekommen war, rief Allah seinen Diener zu sich. Doch Jonahs Wunsch vom gemeinsamen friedvollen Leben aller Völker und Religionen auf der Welt starb nicht mit ihm, sondern wurde von Generation zu Generation durch die Jahrhunderte weitergetragen. Irgendwann wird Gott die Menschen erhören und wie einst mit Jonah, wieder einen von ihnen auswählen, der den Völkern auf der Erde und dem Heiligen Land endlich den ersehnten Frieden bringt.
 



 
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