Alzheimer

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Haremsdame

Mitglied
„Was ist los, Dorothee? Kann ich Dir irgendwie helfen? Du schaust so traurig drein.“
„Nein!“

Was will die nur wieder von mir? Sie macht sich hier so breit und führt sich auf, als wäre sie die Hausfrau hier. Dabei muss ich alle Arbeiten machen. Wenn ich mich nicht gewehrt hätte, müsste ich Sarah jeden Tag in den Kindergarten bringen, während sie sich mit meinem Mann im Bett vergnügt.
Ihr sage ich nicht, dass ich eine kleine Tochter habe. Sonst nehmen sie mir die nur weg. Genauso, wie sie es bei Sarah immer wieder versuchen. Dabei ist Sarah meine Tochter! Da können sie noch so viel mit ihr spielen, sie ist und bleibt mein Kind!
Ebenso wie die kleine Dorotka. Die lebt momentan bei ihrem Vater, der ganz in der Nähe in einem Krankenhaus arbeitet. Sie ist auch im Krankenhaus, obwohl sie nicht krank ist... Und ich spüre, wie sehr sie mich braucht und immer wieder nach mir weint.
Um sie zu holen, wollte ich schon im Telefonbuch nach Wolfram suchen. Aber ich habe ihn nicht gefunden. Außerdem ist mir da wieder diese blöde Frau in die Quere gekommen, die mich wie eine Kranke behandelt. Ständig fragt sie mich, ob sie mir helfen könne. Als wenn ich Hilfe bräuchte!
Letztens wollte ich Wolfram suchen. Aber das Kind, das hier wohnt, kam ständig hinter mir her. Es wollte mich einfach nicht allein gehen lassen. Deshalb fand ich auch nicht den richtigen Weg und bin lieber wieder umgekehrt. Ich kann es ja an einem anderen Tag noch mal versuchen.
Wie kann ich meine kleine Dorotka nur finden? Vielleicht sollte ich mit Sarah mit dem Bus zum Krankenhaus fahren? Dann bin ich nicht so ganz allein. Sarah kennt sich hier gut aus. Sie ist ja auch meine Tochter!
Nun ist Georg schon wieder dazwischen gekommen. Ich habe es geahnt, dass er uns nicht weglässt. Als würden uns ein paar Regentropfen was ausmachen. Im Bus regnet es ja auch nicht. Niemand ahnt, wie sehr mir mein kleiner Schatz fehlt!
Hoffentlich ergeht es ihr nicht wie so wie Sarahs Zwillingsbruder. Nur weil er einen anderen Vater hatte, gab Georg ihn zur Adoption frei. Zum Glück wohnte er nicht weit weg, so dass ich ihn oft sehen konnte. Aber seine Adoptiveltern mochten mich nicht und verboten ihm den Umgang mit mir. Immer, wenn ich ihn anfassen wollte, lief er weg.

Heute hatten wir Besuch von mehreren fremden Leuten. Ich hörte es genau, wie sie von meiner Kleinen sprachen. Sicher wollten sie mir mein Baby bringen, denn ich hörte es weinen. Aber als ich es trösten wollte, war es plötzlich wieder weg. Da stand nur so ein kalter Apparat, der fasste sich gar nicht gut an. Sie sagten, das sei der Fernseher, als wenn ich nicht wüsste, wie ein Fernseher aussieht.

Jetzt ist die Arme wieder ganz allein! Ihr Vater muss ja arbeiten und hat keine Zeit für sie. Dabei habe ich in der Garage schon einen Kinderwagen für sie gesehen. Wie gern würde ich sie darin spazieren fahren!


„Wir müssen irgendetwas unternehmen. So kann es nicht weitergehen, wir gehen dabei alle drauf!“
„Du bleibst mit Sarah hier und ich fahre mit Dorothee zum nächsten Krankenhaus.“

Endlich hat Georg begriffen, wie sehr ich mich nach meinem Kind sehne! Er fährt mit mir, um es zu holen. Er ist halt doch der Beste. Auf ihn kann ich mich verlassen.

„Ist es dieses Krankenhaus, Dorothee?“
„Nein, bestimmt nicht.“
„Dann müssen wir weitersuchen.“

„Kommt Dir das hier bekannt vor? Sind wir jetzt auf dem richtigen Weg?“

Das muss einfach der richtige Weg sein, auch wenn hier alles anders aussieht, als ich es kenne.

„Ja“

Das Krankenhaus war rot. Hurra, dort ist ein rotes Haus!

„Hier ist es!“
„Aber das ist kein Krankenhaus. Das ist erst in der nächsten Querstraße.“

Naja, wenn er meint. Er wird es schon wissen.

„So, hier wären wir. Komm mit, wir fragen an der Pforte, ob sie Wolfram und Dorotka kennen. Ich muss aber auf Tschechisch fragen, weil die kein Deutsch können.“

Mein Gott, ist das eine umständliche Sprache! Es kann doch gar nicht so schwer sein, nach einem Oberarzt und einem kleinen Mädchen zu fragen.
Warum zuckt die Frau mit den Schultern? Sie schüttelt den Kopf. Hilfe!


„Tut mir leid Dorothee, Wolfram ist mit der Kleinen vor zwei Wochen abgereist. Sie weiß leider nicht wo sie jetzt sind.“

Zu spät gekommen! Oh nein! Was jetzt?

„Komm, Dorothee, lass Dich trösten. Das tut mir jetzt wirklich sehr leid für dich.“



Dorothee trauerte noch ganze zwei Wochen. Erst dann erholte sie sich von ihren Phantasien. Die echte Dorotka, die Enkelin ihrer Schwägerin, hatte noch lange Zeit Angst vor der Kranken. Und die - drei Monate zuvor - viel zu früh auf die Welt gekommene Annika, über die zu dieser Zeit viel gesprochen wurde, hat sich inzwischen zu einem kleinen Wildfang entwickelt...
 

Gothanna

Mitglied
Hallo Haremsdame!

Dieser Eintrag hat mir gut gefallen. Du hast dich gut in die alte Dame einfühlen können.
Es gefällt mir, wie du die Dinge aus ihrer Sicht beschreibst.

Ich habe selber einmal in einem Heim für Demenzkranke gearbeitet und weiß, wie sehr die Angehörigen leiden und auch, dass man in einer solchen Zeit Sachen erlebt, die einen lange, lange nicht loslassen.

Es könnte sich für dich lohnen, das Thema, um es dann loszuwerden, zu vertiefen. Es bietet Stoff für ganze Romane. Eine intensive Beschäftigung mit einem sehr persönlichen Thema macht einen später frei für Neues. Aber das ist natürlich ganz dir überlassen.

Bis dahin dir und deiner Familie alles nur erdenklich Gute.
Mach weiter so!

Gothanna
 

Haremsdame

Mitglied
Danke Gothanna, für Deine Worte.

Ich befürchte ja, es war noch zu früh, darüber "öffentlich" zu schreiben. Es ist noch so verworren... Andererseits ist gerade die Verwirrung das, was rüber kommen soll. Wer kann schon nachvollziehen, was in einem kranken Gehirn vor sich geht?

Es gibt noch vieler solcher Geschichten, die vor meinem geistigen Auge stehen, aber einfach noch nicht "reif" sind. Vielleicht auch niemals "reif" werden?

Ich freu mich, dass Du mir Mut zusprichst.

Haremsdame
 



 
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