H
HFleiss
Gast
Angekommen
Sie fühlte sich schlecht, gleich beim Erwachen. Wie immer in den letzten Jahren, seit ihr der Mann gestorben war, wachte sie früh auf, wenn es noch dunkel war, schon um drei. Dann, als sie merkte, dass es sie sogar auf dem Kopfkissen schwindelte, lag sie noch eine Weile, sie war wohl eingeschlummert.
Um vier stand sie auf. Sie bückte sich, um nach dem Hausschuh zu langen. Ihr wurde schwarz vor Augen. Der Blutdruck, die Doktorsche hatte gesagt, mit dem müsse sie sich vorsehen. Ihr Leib lag schwer auf der zerwühlten Bettdecke. Es gelang ihr hochzukommen, indem sie sich auf die Ellbogen stützte, bis sie stand, auf den bloßen Füßen. Es war kühl im Zimmer, sie schlief immer mit offenem Fenster, trotz des Autoverkehrs auf der Straße, der sie schon seit langem nicht mehr störte, aber die Nacht war kalt, jetzt, im Dezember.
Mit schwerem, unsicherem Schritt tapste sie zur Tür. Angelangt, hielt sie sich einen Moment an der Klinke fest, wieder fühlte sie diese Blutleere im Kopf, ihr war, als würde sie erblinden, der schwarze Vorhang vor Augen wollte nicht weichen.
Sie musste einen Kaffee trinken und ihre Medikamente einnehmen. Gestern war sie leichtsinnig gewesen und hatte das Pillenzeug erst mittags eingenommen, beinahe hätte sie es vergessen. Die Rache der Doktorschen folgt auf dem Fuß, dachte sie. Was war das aber auch für eine Frau, immer in Eile, zu keinem Spaß aufgelegt, streng und prinzipiell, ließ nicht mit sich reden. Nein, sie hätte sich eine andere Frau Doktor gewünscht, aber der Sohn hatte sie zu ihr geschickt, und den Sohn durfte sie nicht enttäuschen, er könnte wegbleiben, und dann käme niemand mehr zu ihr.
Die Kaffeemaschine, kaum benutzt, hatte ihr der Sohn geschenkt, vor zwei Jahren, zu Weihnachten, weil sie ihm den Kaffee, wenn er kam, immer türkisch aufgebrüht hatte. Den türkischen Kaffee trank er mit angewidertem Gesicht und spuckte die Kaffeekrümel auf die Untertasse, und es hatte ihr wehgetan, wenn er vor ihr auf der Couch saß und die Augen verdrehte.
Bis die Doktorsche kommen würde, hatte sie Zeit. Sie stellte das altmodische Radio an, das aus der Zeit stammte, als ihr Mann noch lebte. Es war ein Röhrenradio, groß und mit repräsentativem Gehäuse. „Wozu“, hatte ihr Mann gefragt, als sie ihn drängte, eines dieser neuen glänzenden Geräte aus dem Schaufenster zu kaufen, „der Ton ist gut, die Bedienung kinderleicht, was brauchst du altes Haus noch ein neues Radio? Und dann erbt es sowieso bloß der Sohn.“ Sie hatte ihn müde angeblickt, sie verstand ihn, er hatte Prostatakrebs im Anfangsstadium, und er wusste es, obwohl ihn der Arzt mit einer Blasengeschichte beruhigt und nur mit ihr, der Ehefrau, darüber geredet hatte. Das war vor Jahren gewesen, ihr aber schien es, als höre sie noch die leise, auf sie einredende Stimme des Arztes. Fast ein ganzes Jahr hatte ihr Mann noch gelebt und sich gequält.
Die Tasse in der Hand zitterte, als sie ins Wohnzimmer schlurfte, der Kaffee schwappte auf die Untertasse. Der Sessel stand so, dass sie einen bequemen Blick auf den Fernseher hatte. Der andere Sessel war der ihr Mannes gewesen, in dem ist er dann gestorben. Eben hatte er noch irgend etwas gesagt, sie hatte es nicht richtig verstehen können, und im selben Moment war sein Kopf auf die Brust gefallen. Sie hatte ihn gepflegt, er wollte, dickköpfig, wie er war, der Hermann, nicht ins Krankenhaus.
Sein Foto stand neben dem Fernseher, in einem Goldrahmen. Jedesmal, wenn sie zur Fernbedienung griff, die auf dem Tisch lag, blickte sie erst mal hin zu seinem Foto, als wolle sie ihn um sein Einverständnis fragen, wie früher, als er noch lebte. Es war ein Urlaubsfoto, das jüngste, das sie von ihm hatte, Hermann lachte, sie wusste nicht mehr, worüber. Aber an den Tag konnte sie sich erinnern, als eine Urlauberin die Fotos von ihnen geknipst hatte. In Thüringen waren sie gewesen, in Tabarz, in einem Heim, in dem sonst nur Ärzte und Anwälte Urlaub machten. Hermann hatte den Urlaubsplatz über seinen Betrieb ergattert, das war 1987. Und jetzt war Hermann schon lange tot. Sie überlegte einen Moment. Ach ja, gestorben ist er 98, jetzt haben wir 2005, also ist er sieben Jahre tot. Schon sieben Jahre. Sie schloss die Augen, sie nickte ein.
Es war halb sieben, als es klingelte. Die Nachbarin brachte die Zeitung vom Briefkasten hoch, wie jeden Morgen. Sie schreckte auf, wollte sich aus dem Sessel erheben, fiel wieder zurück. Heute wollte ihr aber auch gar nichts gelingen, sie musste sich an der Tischkante festhalten, damit sie aus dem Sessel hochkam. Wieder dieser schwarze Vorhang vor Augen, als sie stand.
Der Sohn hatte auf ihr Drängen kopfschüttelnd drei Riegel an der Tür angebracht. Bedächtig öffnete sie einen nach dem anderen und zog die Tür einen Spalt auf. Eine Hand reichte die Zeitung herein. „Ich hab es eilig heute morgen“, sagte sie Nachbarin, eine Frau in den Vierzigern, und war schon halb in ihrer Tür. „Keine Zeit für unser Plauderminütchen.“
Sie stand noch einen Moment, bis das Geräusch der Nachbarstür im Treppenhaus verklungen war.
Im Wohnzimmer setzte sie die Lesebrille auf, blätterte die Zeitung um, las die Überschriften.
Nein, die Welt war nicht mehr schön, schon wieder Krieg, immer noch, im Irak, wo jetzt die Menschen starben. Wo es doch einmal hieß: Nie wieder Krieg. Damals, als die Bombennächte endlich vorbei waren. Was für eine Zeit war das gewesen. Sie blutjung und der Junge im Kinderwagen, und die Sirene heulte, und dann die Zeit in der Bunkerzelle, und als der Krieg zu Ende war, nichts als Trümmer. So sah es jetzt auch im Irak aus. Die Menschen lernten nichts aus ihren Kriegen.
Am besten wäre es, dachte sie, und sie dachte nicht zum erstenmal an ihren Tod, wäre es, ich fiele um, und weg wäre ich. Das ist keine Welt, in der ein Mensch noch leben möchte.
Sie hatte ihre Zeit gehabt, und jetzt war die Zeit herum, und jetzt musste sie ans Sterben denken.
Sie dachte nicht wirklich ans Sterben, aber sie stellte sich vor, wie es sein würde. Der Sohn würde an ihrem Bett sitzen, seine Frau, mit der sie sich nie vertragen hatte, würde er zu Hause lassen, und die Enkelin würde sowieso keine Zeit haben, zu ihrer sterbenden Oma zu kommen. Schade, dachte sie, dass die Zeit so schnell vergangen war, die Enkelin war erwachsen, und sie hätte ihr doch so viel erzählen müssen, von der Familie, ihrem Urgroßvater, wie es damals war in Berlin, mit der Arbeitslosigkeit und der schäbigen Einzimmerwohnung, und dann die Hitlerei und der Krieg, und dass sie Glück gehabt hatte, weil ihre Wohnung nicht zerbombt worden war.
Der Sohn würde also an ihrem Bett sitzen. Er würde sie mitleidig ansehen und wissen, dass sie wusste, was zu wissen war über das Sterben.
Und das Leben! Sie hielt inne. Arbeitslos war er jetzt, seine Frau war stundenweise irgendwo Putzhilfe, war ja auch nicht mehr die Jüngste und musste immer noch den Buckel krumm machen. Ein paarmal hatte er auf die Regierung geschimpft, weil sie ihm keine Arbeit gab. „Alles unfähiges Kroppzeug“, hatte er gewütet. Sie hatte ihm recht gegeben, damit er von seiner Wut herunterkam. „Wir hätten uns eben unser Land nicht wegnehmen lassen sollen“, sagte sie, aber er erwiderte nichts.
Sie erschrak, so spät schon! Sie schlug die Zeitung zu. In vier Minuten, pünktlich um halb acht, würde die Ärztin kommen und ihr die Diabetesspritze geben. In den Bauch, mit so einem neumodischen Gerät, das gar nicht wie eine Spritze aussah. Und wenn sie die Frau auch nur nach dem Wetter fragte, würde die nur nicken und zur Tür stürzen, sie war beschäftigt, man sah es ihr an.
Sie schlurfte ins Bad. Wenigstens gewaschen musste sie sein, wenn die Ärztin kommen würde. Sie wusch sich mit dem Seiflappen unter fließendem Wasser, wie sie es immer getan hatte, damals schon, als sie mit Hermann noch in der schrecklichen Wohnung gelebt hatte, ohne Bad und Balkon. Hermann. Sie stellte sich vor, wie er immer in der Wanne saß, jünger als in seinen letzten Jahren und hager, dass man das Brustbein sah, er hatte bis zuletzt noch alle Zähne gehabt und lachte immer, um sie zu zeigen. Sie hatte ihn deshalb aufgezogen, er sei eitel wie die Jungfrau im Bade, die Bathseba, er wisse schon, das Bild von Rembrandt, nur nicht so schön und so mollig. Und dass er dann besonders laut lachte, daran erinnerte sie sich jetzt, wenn sie ihn mit der Bathseba ärgern wollte. Plötzlich war das Bild weg, sie sah wieder die leere Wanne.
Baden wäre schön, dachte sie, aber in die Wanne zu steigen war ihr zu umständlich und zu gefährlich, sie könnte ausrutschen, und dann wäre niemand da, der ihr wieder hochhelfen würde. Und sowieso, allein würde sie niemals auch nur in die Wanne hineinkommen, bei ihrer Figur, und das Zittern in den Knien, und wieder wurde ihr schwarz vor Augen, als sie den Kopf hob und in den Spiegel blickte. Wie eine Furie sah sie aus, die Haare wirr und die vielen Fältchen auf den Wangen, die Augenbrauen waren verschwunden.
Sehr langsam kämmte sie sich, sie nahm die Strähnen zwischen die Finger und zog die Bürste vorsichtig durch. Trotzdem blieben Haare in ihr hängen. Eines Tages würde sie mit Glatze herumlaufen, wenn sie sich allzu heftig kämmte. Ach was, herumlaufen. Niemand würde es bemerken, außer der Ärztin und der Nachbarin, sie ging ja nicht mehr auf die Straße. Und sie selbst? Nun ja, sie würde ein bisschen weniger eingebildet als jetzt noch in den Spiegel blicken.
Plötzlich wurde ihr wieder schwarz vor Augen. Sie griff zum Handwaschbecken, im Spiegel sah sie ihr Erschrecken, die aufgerissenen Augen. Sie glaubte, einen Schrei auszustoßen, als ihr der Fußboden unter den Füßen wegrutschte.
Sie hörte es nicht mehr, dass sie mit dem Kopf auf dem Wannenrand aufschlug, sie spürte keinen Schlag, sie fand es angenehm zu fallen, es war, als ob sie schwebte.
So fand sie die Ärztin, die, als auf ihr Klingeln nicht geöffnet wurde, die Feuerwehr gerufen hatte, im Bad, auf den Fliesen liegend, mit aufgerissenen Augen, die weißen Haare wie einen Heiligenschein ausgebreitet.
„Sie hat sich seit Wochen auf den Weg gemacht“, sagte die Ärztin tonlos. Der Feuerwehrmann verstand nicht. „So sagen wir Mediziner den Angehörigen“, sagte sie, als sie das verständnislose Gesicht des Mannes sah, „wenn wir wissen, es gibt kein Zurück.“
„Ach so, so meinen sie das, jetzt verstehe ich ...“
„Es ist der letzte Weg.“ Seufzend strich sie sich vor dem Spiegel die Strähne aus der Stirn, die ihr beim Bücken ins Gesicht gefallen war. „Sie ist angekommen“, sagte sie. „Ja, angekommen.“
(2005)
Sie fühlte sich schlecht, gleich beim Erwachen. Wie immer in den letzten Jahren, seit ihr der Mann gestorben war, wachte sie früh auf, wenn es noch dunkel war, schon um drei. Dann, als sie merkte, dass es sie sogar auf dem Kopfkissen schwindelte, lag sie noch eine Weile, sie war wohl eingeschlummert.
Um vier stand sie auf. Sie bückte sich, um nach dem Hausschuh zu langen. Ihr wurde schwarz vor Augen. Der Blutdruck, die Doktorsche hatte gesagt, mit dem müsse sie sich vorsehen. Ihr Leib lag schwer auf der zerwühlten Bettdecke. Es gelang ihr hochzukommen, indem sie sich auf die Ellbogen stützte, bis sie stand, auf den bloßen Füßen. Es war kühl im Zimmer, sie schlief immer mit offenem Fenster, trotz des Autoverkehrs auf der Straße, der sie schon seit langem nicht mehr störte, aber die Nacht war kalt, jetzt, im Dezember.
Mit schwerem, unsicherem Schritt tapste sie zur Tür. Angelangt, hielt sie sich einen Moment an der Klinke fest, wieder fühlte sie diese Blutleere im Kopf, ihr war, als würde sie erblinden, der schwarze Vorhang vor Augen wollte nicht weichen.
Sie musste einen Kaffee trinken und ihre Medikamente einnehmen. Gestern war sie leichtsinnig gewesen und hatte das Pillenzeug erst mittags eingenommen, beinahe hätte sie es vergessen. Die Rache der Doktorschen folgt auf dem Fuß, dachte sie. Was war das aber auch für eine Frau, immer in Eile, zu keinem Spaß aufgelegt, streng und prinzipiell, ließ nicht mit sich reden. Nein, sie hätte sich eine andere Frau Doktor gewünscht, aber der Sohn hatte sie zu ihr geschickt, und den Sohn durfte sie nicht enttäuschen, er könnte wegbleiben, und dann käme niemand mehr zu ihr.
Die Kaffeemaschine, kaum benutzt, hatte ihr der Sohn geschenkt, vor zwei Jahren, zu Weihnachten, weil sie ihm den Kaffee, wenn er kam, immer türkisch aufgebrüht hatte. Den türkischen Kaffee trank er mit angewidertem Gesicht und spuckte die Kaffeekrümel auf die Untertasse, und es hatte ihr wehgetan, wenn er vor ihr auf der Couch saß und die Augen verdrehte.
Bis die Doktorsche kommen würde, hatte sie Zeit. Sie stellte das altmodische Radio an, das aus der Zeit stammte, als ihr Mann noch lebte. Es war ein Röhrenradio, groß und mit repräsentativem Gehäuse. „Wozu“, hatte ihr Mann gefragt, als sie ihn drängte, eines dieser neuen glänzenden Geräte aus dem Schaufenster zu kaufen, „der Ton ist gut, die Bedienung kinderleicht, was brauchst du altes Haus noch ein neues Radio? Und dann erbt es sowieso bloß der Sohn.“ Sie hatte ihn müde angeblickt, sie verstand ihn, er hatte Prostatakrebs im Anfangsstadium, und er wusste es, obwohl ihn der Arzt mit einer Blasengeschichte beruhigt und nur mit ihr, der Ehefrau, darüber geredet hatte. Das war vor Jahren gewesen, ihr aber schien es, als höre sie noch die leise, auf sie einredende Stimme des Arztes. Fast ein ganzes Jahr hatte ihr Mann noch gelebt und sich gequält.
Die Tasse in der Hand zitterte, als sie ins Wohnzimmer schlurfte, der Kaffee schwappte auf die Untertasse. Der Sessel stand so, dass sie einen bequemen Blick auf den Fernseher hatte. Der andere Sessel war der ihr Mannes gewesen, in dem ist er dann gestorben. Eben hatte er noch irgend etwas gesagt, sie hatte es nicht richtig verstehen können, und im selben Moment war sein Kopf auf die Brust gefallen. Sie hatte ihn gepflegt, er wollte, dickköpfig, wie er war, der Hermann, nicht ins Krankenhaus.
Sein Foto stand neben dem Fernseher, in einem Goldrahmen. Jedesmal, wenn sie zur Fernbedienung griff, die auf dem Tisch lag, blickte sie erst mal hin zu seinem Foto, als wolle sie ihn um sein Einverständnis fragen, wie früher, als er noch lebte. Es war ein Urlaubsfoto, das jüngste, das sie von ihm hatte, Hermann lachte, sie wusste nicht mehr, worüber. Aber an den Tag konnte sie sich erinnern, als eine Urlauberin die Fotos von ihnen geknipst hatte. In Thüringen waren sie gewesen, in Tabarz, in einem Heim, in dem sonst nur Ärzte und Anwälte Urlaub machten. Hermann hatte den Urlaubsplatz über seinen Betrieb ergattert, das war 1987. Und jetzt war Hermann schon lange tot. Sie überlegte einen Moment. Ach ja, gestorben ist er 98, jetzt haben wir 2005, also ist er sieben Jahre tot. Schon sieben Jahre. Sie schloss die Augen, sie nickte ein.
Es war halb sieben, als es klingelte. Die Nachbarin brachte die Zeitung vom Briefkasten hoch, wie jeden Morgen. Sie schreckte auf, wollte sich aus dem Sessel erheben, fiel wieder zurück. Heute wollte ihr aber auch gar nichts gelingen, sie musste sich an der Tischkante festhalten, damit sie aus dem Sessel hochkam. Wieder dieser schwarze Vorhang vor Augen, als sie stand.
Der Sohn hatte auf ihr Drängen kopfschüttelnd drei Riegel an der Tür angebracht. Bedächtig öffnete sie einen nach dem anderen und zog die Tür einen Spalt auf. Eine Hand reichte die Zeitung herein. „Ich hab es eilig heute morgen“, sagte sie Nachbarin, eine Frau in den Vierzigern, und war schon halb in ihrer Tür. „Keine Zeit für unser Plauderminütchen.“
Sie stand noch einen Moment, bis das Geräusch der Nachbarstür im Treppenhaus verklungen war.
Im Wohnzimmer setzte sie die Lesebrille auf, blätterte die Zeitung um, las die Überschriften.
Nein, die Welt war nicht mehr schön, schon wieder Krieg, immer noch, im Irak, wo jetzt die Menschen starben. Wo es doch einmal hieß: Nie wieder Krieg. Damals, als die Bombennächte endlich vorbei waren. Was für eine Zeit war das gewesen. Sie blutjung und der Junge im Kinderwagen, und die Sirene heulte, und dann die Zeit in der Bunkerzelle, und als der Krieg zu Ende war, nichts als Trümmer. So sah es jetzt auch im Irak aus. Die Menschen lernten nichts aus ihren Kriegen.
Am besten wäre es, dachte sie, und sie dachte nicht zum erstenmal an ihren Tod, wäre es, ich fiele um, und weg wäre ich. Das ist keine Welt, in der ein Mensch noch leben möchte.
Sie hatte ihre Zeit gehabt, und jetzt war die Zeit herum, und jetzt musste sie ans Sterben denken.
Sie dachte nicht wirklich ans Sterben, aber sie stellte sich vor, wie es sein würde. Der Sohn würde an ihrem Bett sitzen, seine Frau, mit der sie sich nie vertragen hatte, würde er zu Hause lassen, und die Enkelin würde sowieso keine Zeit haben, zu ihrer sterbenden Oma zu kommen. Schade, dachte sie, dass die Zeit so schnell vergangen war, die Enkelin war erwachsen, und sie hätte ihr doch so viel erzählen müssen, von der Familie, ihrem Urgroßvater, wie es damals war in Berlin, mit der Arbeitslosigkeit und der schäbigen Einzimmerwohnung, und dann die Hitlerei und der Krieg, und dass sie Glück gehabt hatte, weil ihre Wohnung nicht zerbombt worden war.
Der Sohn würde also an ihrem Bett sitzen. Er würde sie mitleidig ansehen und wissen, dass sie wusste, was zu wissen war über das Sterben.
Und das Leben! Sie hielt inne. Arbeitslos war er jetzt, seine Frau war stundenweise irgendwo Putzhilfe, war ja auch nicht mehr die Jüngste und musste immer noch den Buckel krumm machen. Ein paarmal hatte er auf die Regierung geschimpft, weil sie ihm keine Arbeit gab. „Alles unfähiges Kroppzeug“, hatte er gewütet. Sie hatte ihm recht gegeben, damit er von seiner Wut herunterkam. „Wir hätten uns eben unser Land nicht wegnehmen lassen sollen“, sagte sie, aber er erwiderte nichts.
Sie erschrak, so spät schon! Sie schlug die Zeitung zu. In vier Minuten, pünktlich um halb acht, würde die Ärztin kommen und ihr die Diabetesspritze geben. In den Bauch, mit so einem neumodischen Gerät, das gar nicht wie eine Spritze aussah. Und wenn sie die Frau auch nur nach dem Wetter fragte, würde die nur nicken und zur Tür stürzen, sie war beschäftigt, man sah es ihr an.
Sie schlurfte ins Bad. Wenigstens gewaschen musste sie sein, wenn die Ärztin kommen würde. Sie wusch sich mit dem Seiflappen unter fließendem Wasser, wie sie es immer getan hatte, damals schon, als sie mit Hermann noch in der schrecklichen Wohnung gelebt hatte, ohne Bad und Balkon. Hermann. Sie stellte sich vor, wie er immer in der Wanne saß, jünger als in seinen letzten Jahren und hager, dass man das Brustbein sah, er hatte bis zuletzt noch alle Zähne gehabt und lachte immer, um sie zu zeigen. Sie hatte ihn deshalb aufgezogen, er sei eitel wie die Jungfrau im Bade, die Bathseba, er wisse schon, das Bild von Rembrandt, nur nicht so schön und so mollig. Und dass er dann besonders laut lachte, daran erinnerte sie sich jetzt, wenn sie ihn mit der Bathseba ärgern wollte. Plötzlich war das Bild weg, sie sah wieder die leere Wanne.
Baden wäre schön, dachte sie, aber in die Wanne zu steigen war ihr zu umständlich und zu gefährlich, sie könnte ausrutschen, und dann wäre niemand da, der ihr wieder hochhelfen würde. Und sowieso, allein würde sie niemals auch nur in die Wanne hineinkommen, bei ihrer Figur, und das Zittern in den Knien, und wieder wurde ihr schwarz vor Augen, als sie den Kopf hob und in den Spiegel blickte. Wie eine Furie sah sie aus, die Haare wirr und die vielen Fältchen auf den Wangen, die Augenbrauen waren verschwunden.
Sehr langsam kämmte sie sich, sie nahm die Strähnen zwischen die Finger und zog die Bürste vorsichtig durch. Trotzdem blieben Haare in ihr hängen. Eines Tages würde sie mit Glatze herumlaufen, wenn sie sich allzu heftig kämmte. Ach was, herumlaufen. Niemand würde es bemerken, außer der Ärztin und der Nachbarin, sie ging ja nicht mehr auf die Straße. Und sie selbst? Nun ja, sie würde ein bisschen weniger eingebildet als jetzt noch in den Spiegel blicken.
Plötzlich wurde ihr wieder schwarz vor Augen. Sie griff zum Handwaschbecken, im Spiegel sah sie ihr Erschrecken, die aufgerissenen Augen. Sie glaubte, einen Schrei auszustoßen, als ihr der Fußboden unter den Füßen wegrutschte.
Sie hörte es nicht mehr, dass sie mit dem Kopf auf dem Wannenrand aufschlug, sie spürte keinen Schlag, sie fand es angenehm zu fallen, es war, als ob sie schwebte.
So fand sie die Ärztin, die, als auf ihr Klingeln nicht geöffnet wurde, die Feuerwehr gerufen hatte, im Bad, auf den Fliesen liegend, mit aufgerissenen Augen, die weißen Haare wie einen Heiligenschein ausgebreitet.
„Sie hat sich seit Wochen auf den Weg gemacht“, sagte die Ärztin tonlos. Der Feuerwehrmann verstand nicht. „So sagen wir Mediziner den Angehörigen“, sagte sie, als sie das verständnislose Gesicht des Mannes sah, „wenn wir wissen, es gibt kein Zurück.“
„Ach so, so meinen sie das, jetzt verstehe ich ...“
„Es ist der letzte Weg.“ Seufzend strich sie sich vor dem Spiegel die Strähne aus der Stirn, die ihr beim Bücken ins Gesicht gefallen war. „Sie ist angekommen“, sagte sie. „Ja, angekommen.“
(2005)