Anklagebrief von Effi an Frau von Briest
Diesen Brief schreibt Effi im Sterbebett an ihre Mutter. Auf den Umschlag schreibt sie, dass der Brief erst nach ihrem Tod geöffnet werden soll.
Dir geliebte Mutter
Du fragst dich sicherlich, warum ich dich bat, diesen Brief erst nach meinem Ableben zu lesen. Außerdem bist du wahrscheinlich verwundert darüber, dass ich dir überhaupt einen Brief schrieb, und dir meine Worte nicht von Angesicht zu Angesicht überbrachte.
Nun, es ist nicht so einfach, liebe Mama. Dieser Brief ist sehr persönlich und wenn auch gleich er keine Verurteilung deines Wesens sein soll, enthält er nicht nur lobende Worte. Mutter, ich liebe und respektiere dich sehr und ich könnte in deiner Anwesenheit nie vollkommen offen und ehrlich dir gegenüber sein, aus Angst mit meiner Aufrichtigkeit diesen Respekt in irgendeiner Form zu brechen oder dich zu verletzen. Dennoch halte ich es für wichtig, dass du zumindest jetzt in diesem Momente, wo ich doch nicht mehr unter euch verweile, die gesamte Wahrheit über mich und meine Gedanken und Gefühle erfährst. War unser Leben nicht doch schon genug an Lügen? Deines wie auch Meines. Sollte ich nicht zumindest nach meinem Tod reinen Tisch machen? Und sind diejenigen die in Lüge leben, nicht auch die selbigen, die in Unglück leben? Ich muss sagen Mama, oftmals hatte ich das Gefühl, meine Einsamkeit und meine Trauer erschlügen mich noch mal. Roswitha sagte einst mal zu mir, dass Lüge oft zu Unglück führe und Unglück zu Krankheit. Und was am Ende mit den Kranken passiert, wissen wir ja alle. Vielleicht war ja die Lüge das, was mich zu diesem tragischen Fall gebracht hat.
Ich habe viel nachgedacht, Mama. Ich habe nachgedacht über mich, über Instetten, über Papa, über Crampas, über Roswitha, über Gieshübler, sogar über Rollo und ja natürlich auch über dich. Ich habe mir Gedanken gemacht, über das Leben, über das Schaukeln, über das Sterben und über Schuld. Ich muss ehrlich sagen, in keiner dieser Fragen, bin ich zu einer eindeutigen Antwort gekommen, aber vielleicht ist gerade das, was den Reiz am Herumphilosophieren ausmacht: Man kann stundenlang Fragen stellen, ohne jemals eine Antwort zu bekommen. Doch ist es nicht genauso beim Leben? Man kann dem Leben so viel geben und am Ende doch nichts zurück erhalten. War das nicht vielleicht auch mein Verhängnis? Ich gab Leidenschaft, Abwechslung, ja manchmal brachte ich dem Leben auch ein Stück Naivität entgegen. Aber Mutter, ich war durstig. Durstig nachdem was das Leben mit sich bringen sollte und was es für mich vorgesehen hatte. Ich wollte alles sehen und alles ausprobieren. Ich wollte fliegen und stürzen und gleichzeitig in der Luft stehen bleiben. Ich wollte die Luft schmecken und die Erde riechen.
Ich war so anders und doch so ähnlich, wie du Mama. Du wolltest alle Sicherheiten für ein Leben und dann nach. Du hättest dich nie einfach so auf die Schaukel gesetzt und so wild geschaukelt, dass du hättest stürzen können. Du warst immer sehr bedacht in dem was du tatest oder sagtest. Jedoch nicht indem was du dachtest. Im Insgeheimen hast du dich dannach gesehnt, genauso naiv und leidenschaftlich durchs Leben gehen zu können, wie ich es damals als Kind konnte (denn ich war ja noch ein Kind vor der Heirat. Doch jetzt bin ich eine alte, tote Frau). Erinnerst du dich noch, wie du mich immer „ein Kind der Luft“ genannt hast? Ja das war ich. Und du wolltest es immer sein. Weißt du auch noch, was ich dir damals geantwortet habe? Ich habe dich gefragt, wer wohl die Schuld daran träge, dass ich so geworden sei und dass doch du diejenige sein musst, von der ich es geerbt hatte 1 .
Ich war immer so spielerisch Mutter, und du so verkrampft. Wenn wir zusammen genäht haben, hast du konzentriert immer deine Arbeit bewacht, während ich mir Auszeiten genommen habe 2 . Ich habe gespielt und getobt und geliebt und es hat mir Spaß gemacht. Ich war lebensfroh…damals…während man dir ansehen konnte, dass du nicht glücklich warst mit deinem Leben. Dir hat immer etwas gefehlt, das habe ich in deinen Augen gesehen. Ich habe mich lange gefragt, warum dies so sei. Was dir wohl fehlen mag im Leben. Und ich kam zu der Überzeugung, dass es wohl deine selbstauferlegten Grenzen seien, die dich hinderten nach deinen persönlichen Sternen zu greifen. Du hattest dich immer unter Kontrolle. Du hast dich nie getraut deine Wünsche und Träume auszuleben und in Freiheit zu leben. Weißt du noch, unser Gespräch damals über die rote Ampel und den japanischen Bettschirm, welches ich mir beides zur Hochzeit wünschte? Ich wollte es so gerne haben, doch du meinstest nur, wir Frauen müssten vorsichtig sein. Was die Leute wohl von uns denken würden, bei so einer Ampel 3 . Du hattest immer Sorge, die Leute mögten schlecht reden. Du wolltest nie Anlass für Tratsch sein und hast alles dafür getan Maß zu halten und dich anzupassen. Aber Mutter, das warst nicht du. Instetten war sicher ein Mann von Prinzipien. Ihm war es ein leichtes gewesen, Maß zu halten. Aber für dich nicht. Du wolltest insgeheim das Risiko und das Wilde, Spielerische – genauso wie ich. Doch du hast dich nie getraut. Ich erinnere mich noch, wie du in dem selbigen Gespräch sagtest: „Du bist ein Kind. Schön und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, dass es es statt Licht und Schimmer ein Dunkel gibt 3 . “ Ich habe lange über diesen Satz nachgedacht. Und ich habe mich gefragt, wie es wohl dazu gekommen sein mag, dass du solch ein negatives Bild vom Leben hast. Ich bin mir sicher, auch du hast dich im Geheimen nach dem Schönen und Poetischen gesehnt. Du hättest es auch haben können. Aber du hast dich erdrücken lassen von der Wirklichkeit. Genauso wie es mir dann irgendwann ergangen ist. Meine Wirklichkeit war Instetten, doch das Schöne und Poetische lag wo anders. Bei dir war das anders. Denn du hast Instetten geliebt – ich habe das nie. Wärst du nicht du, sondern ein dir selbst gegenüber aufrichtiger Mensch, gewesen, hättest du Instetten niemals verlassen. Doch du hast deine eigene Liebe und dein Glück verdrängt und zur Seite geschoben – so wie immer. Und als du sahst, dass Instetten Interesse an mir zeigte, schienst du dich für mich zu freuen. Doch weder Instettens Liebe, noch deine Begeisterung, galten mir. Als er mich ansah, sah er dich. Als du mich bei der Eheschließung anschautest, sahst du auch dich. Ihr habt eure Beziehung, auf meinem Rücken, weitergeführt. Ihr wolltet das Glück, dass ihr damals miteinander hattet, aus mir raus holen und selber wieder erleben. Und ich muss zu geben, ihr habt es geschafft. Denn das Glück meiner Jugend, habe ich verloren. Ich bin nicht nur einsam sondern auch unendlich traurig.
Doch Mutter, ich gebe dir keine Schuld. Denn ich weíß, dass du es niemals böse meintest. Du hast mich geliebt. Auch wenn du dich nie recht getraut hast, es zu zeigen 4 . Du hattest Angst vor meinen leidenschaftlichen Umarmungen und Küssen und hast sie gleichzeitig genossen 5. Ich bin mir sicher, du dachtest, du würdest mir immer nur das Beste tun. Du wusstest einfach nicht, dass das vermeintlich Beste für mich, jediglich das war, dass du dir für dich selbst gewünscht hättest. Und selbst wenn du es gewusst hättest, du hättest es wahrscheinlich gar nicht ändern können. Du bist eingesperrt in deinem eigenen goldenen Käfig. Ich weiß nicht, wer den Schlüssel besitzt. Vielleicht Instetten? Vielleicht Papa? Vielleicht die Männer? Vielleicht die Gesellschaft? Vielleicht aber auch du selbst?
Doch trotz allem, empfinde ich mehr als eine bloße Zuneigung für dich. Denn du bist meine Mutter. Und wen soll ich lieben, wenn ich dich nicht lieben kann?
Daher wünsche ich dir, dass du den Schlüssel (zum Käfig und zu deinem Herzen) irgendwann findest und es schaffst dich selbst zu befreien – auch ohne mich.
In Liebe
Deine fliegende Tochter Effi
P.S. Und am liebsten schaukel ich. Immer in der Furcht es könnte irgendwo reißen oder brechen und ich könnte niederstürzen. Diesmal bin ich wohl wirklich gestürzt. Und auch wenn es meinen Kopf gekostet hat, mein Herz wird nie zu Bruch gehen.
1 „Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. […]“ „Vielleicht, Mama. Aber wenn es so wäre, wer wäre Schuld? Von wem hab ich es? Doch nur von dir. […]“ (S.9)
2 „Rasch und sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Bewegungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmer-gymnastik durchzumachen. Es war ersichtlich, dass sie sich diesen absichtlich ein wenig ins Lächerliche ge-zogenen Übungen mit ganz besonderer Liebe hingab […]“ (S.8)
3 ( S.34)
4 „[…] und wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf, aber immer nur flüchtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte, wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. […]“ (S.8)
5 „Und dabei lief sie auf die Mutter zu und umarmte die stürmisch und küsste sie. ‚Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe…’“ (S.9)
Quellenangaben:
Mein Text nimmt Bezug auf das Buch „Effie Briest!“ von Theodor Fontane in der Ausgabe des „Einfach Deutsch“- Verlags
Diesen Brief schreibt Effi im Sterbebett an ihre Mutter. Auf den Umschlag schreibt sie, dass der Brief erst nach ihrem Tod geöffnet werden soll.
Dir geliebte Mutter
Du fragst dich sicherlich, warum ich dich bat, diesen Brief erst nach meinem Ableben zu lesen. Außerdem bist du wahrscheinlich verwundert darüber, dass ich dir überhaupt einen Brief schrieb, und dir meine Worte nicht von Angesicht zu Angesicht überbrachte.
Nun, es ist nicht so einfach, liebe Mama. Dieser Brief ist sehr persönlich und wenn auch gleich er keine Verurteilung deines Wesens sein soll, enthält er nicht nur lobende Worte. Mutter, ich liebe und respektiere dich sehr und ich könnte in deiner Anwesenheit nie vollkommen offen und ehrlich dir gegenüber sein, aus Angst mit meiner Aufrichtigkeit diesen Respekt in irgendeiner Form zu brechen oder dich zu verletzen. Dennoch halte ich es für wichtig, dass du zumindest jetzt in diesem Momente, wo ich doch nicht mehr unter euch verweile, die gesamte Wahrheit über mich und meine Gedanken und Gefühle erfährst. War unser Leben nicht doch schon genug an Lügen? Deines wie auch Meines. Sollte ich nicht zumindest nach meinem Tod reinen Tisch machen? Und sind diejenigen die in Lüge leben, nicht auch die selbigen, die in Unglück leben? Ich muss sagen Mama, oftmals hatte ich das Gefühl, meine Einsamkeit und meine Trauer erschlügen mich noch mal. Roswitha sagte einst mal zu mir, dass Lüge oft zu Unglück führe und Unglück zu Krankheit. Und was am Ende mit den Kranken passiert, wissen wir ja alle. Vielleicht war ja die Lüge das, was mich zu diesem tragischen Fall gebracht hat.
Ich habe viel nachgedacht, Mama. Ich habe nachgedacht über mich, über Instetten, über Papa, über Crampas, über Roswitha, über Gieshübler, sogar über Rollo und ja natürlich auch über dich. Ich habe mir Gedanken gemacht, über das Leben, über das Schaukeln, über das Sterben und über Schuld. Ich muss ehrlich sagen, in keiner dieser Fragen, bin ich zu einer eindeutigen Antwort gekommen, aber vielleicht ist gerade das, was den Reiz am Herumphilosophieren ausmacht: Man kann stundenlang Fragen stellen, ohne jemals eine Antwort zu bekommen. Doch ist es nicht genauso beim Leben? Man kann dem Leben so viel geben und am Ende doch nichts zurück erhalten. War das nicht vielleicht auch mein Verhängnis? Ich gab Leidenschaft, Abwechslung, ja manchmal brachte ich dem Leben auch ein Stück Naivität entgegen. Aber Mutter, ich war durstig. Durstig nachdem was das Leben mit sich bringen sollte und was es für mich vorgesehen hatte. Ich wollte alles sehen und alles ausprobieren. Ich wollte fliegen und stürzen und gleichzeitig in der Luft stehen bleiben. Ich wollte die Luft schmecken und die Erde riechen.
Ich war so anders und doch so ähnlich, wie du Mama. Du wolltest alle Sicherheiten für ein Leben und dann nach. Du hättest dich nie einfach so auf die Schaukel gesetzt und so wild geschaukelt, dass du hättest stürzen können. Du warst immer sehr bedacht in dem was du tatest oder sagtest. Jedoch nicht indem was du dachtest. Im Insgeheimen hast du dich dannach gesehnt, genauso naiv und leidenschaftlich durchs Leben gehen zu können, wie ich es damals als Kind konnte (denn ich war ja noch ein Kind vor der Heirat. Doch jetzt bin ich eine alte, tote Frau). Erinnerst du dich noch, wie du mich immer „ein Kind der Luft“ genannt hast? Ja das war ich. Und du wolltest es immer sein. Weißt du auch noch, was ich dir damals geantwortet habe? Ich habe dich gefragt, wer wohl die Schuld daran träge, dass ich so geworden sei und dass doch du diejenige sein musst, von der ich es geerbt hatte 1 .
Ich war immer so spielerisch Mutter, und du so verkrampft. Wenn wir zusammen genäht haben, hast du konzentriert immer deine Arbeit bewacht, während ich mir Auszeiten genommen habe 2 . Ich habe gespielt und getobt und geliebt und es hat mir Spaß gemacht. Ich war lebensfroh…damals…während man dir ansehen konnte, dass du nicht glücklich warst mit deinem Leben. Dir hat immer etwas gefehlt, das habe ich in deinen Augen gesehen. Ich habe mich lange gefragt, warum dies so sei. Was dir wohl fehlen mag im Leben. Und ich kam zu der Überzeugung, dass es wohl deine selbstauferlegten Grenzen seien, die dich hinderten nach deinen persönlichen Sternen zu greifen. Du hattest dich immer unter Kontrolle. Du hast dich nie getraut deine Wünsche und Träume auszuleben und in Freiheit zu leben. Weißt du noch, unser Gespräch damals über die rote Ampel und den japanischen Bettschirm, welches ich mir beides zur Hochzeit wünschte? Ich wollte es so gerne haben, doch du meinstest nur, wir Frauen müssten vorsichtig sein. Was die Leute wohl von uns denken würden, bei so einer Ampel 3 . Du hattest immer Sorge, die Leute mögten schlecht reden. Du wolltest nie Anlass für Tratsch sein und hast alles dafür getan Maß zu halten und dich anzupassen. Aber Mutter, das warst nicht du. Instetten war sicher ein Mann von Prinzipien. Ihm war es ein leichtes gewesen, Maß zu halten. Aber für dich nicht. Du wolltest insgeheim das Risiko und das Wilde, Spielerische – genauso wie ich. Doch du hast dich nie getraut. Ich erinnere mich noch, wie du in dem selbigen Gespräch sagtest: „Du bist ein Kind. Schön und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, dass es es statt Licht und Schimmer ein Dunkel gibt 3 . “ Ich habe lange über diesen Satz nachgedacht. Und ich habe mich gefragt, wie es wohl dazu gekommen sein mag, dass du solch ein negatives Bild vom Leben hast. Ich bin mir sicher, auch du hast dich im Geheimen nach dem Schönen und Poetischen gesehnt. Du hättest es auch haben können. Aber du hast dich erdrücken lassen von der Wirklichkeit. Genauso wie es mir dann irgendwann ergangen ist. Meine Wirklichkeit war Instetten, doch das Schöne und Poetische lag wo anders. Bei dir war das anders. Denn du hast Instetten geliebt – ich habe das nie. Wärst du nicht du, sondern ein dir selbst gegenüber aufrichtiger Mensch, gewesen, hättest du Instetten niemals verlassen. Doch du hast deine eigene Liebe und dein Glück verdrängt und zur Seite geschoben – so wie immer. Und als du sahst, dass Instetten Interesse an mir zeigte, schienst du dich für mich zu freuen. Doch weder Instettens Liebe, noch deine Begeisterung, galten mir. Als er mich ansah, sah er dich. Als du mich bei der Eheschließung anschautest, sahst du auch dich. Ihr habt eure Beziehung, auf meinem Rücken, weitergeführt. Ihr wolltet das Glück, dass ihr damals miteinander hattet, aus mir raus holen und selber wieder erleben. Und ich muss zu geben, ihr habt es geschafft. Denn das Glück meiner Jugend, habe ich verloren. Ich bin nicht nur einsam sondern auch unendlich traurig.
Doch Mutter, ich gebe dir keine Schuld. Denn ich weíß, dass du es niemals böse meintest. Du hast mich geliebt. Auch wenn du dich nie recht getraut hast, es zu zeigen 4 . Du hattest Angst vor meinen leidenschaftlichen Umarmungen und Küssen und hast sie gleichzeitig genossen 5. Ich bin mir sicher, du dachtest, du würdest mir immer nur das Beste tun. Du wusstest einfach nicht, dass das vermeintlich Beste für mich, jediglich das war, dass du dir für dich selbst gewünscht hättest. Und selbst wenn du es gewusst hättest, du hättest es wahrscheinlich gar nicht ändern können. Du bist eingesperrt in deinem eigenen goldenen Käfig. Ich weiß nicht, wer den Schlüssel besitzt. Vielleicht Instetten? Vielleicht Papa? Vielleicht die Männer? Vielleicht die Gesellschaft? Vielleicht aber auch du selbst?
Doch trotz allem, empfinde ich mehr als eine bloße Zuneigung für dich. Denn du bist meine Mutter. Und wen soll ich lieben, wenn ich dich nicht lieben kann?
Daher wünsche ich dir, dass du den Schlüssel (zum Käfig und zu deinem Herzen) irgendwann findest und es schaffst dich selbst zu befreien – auch ohne mich.
In Liebe
Deine fliegende Tochter Effi
P.S. Und am liebsten schaukel ich. Immer in der Furcht es könnte irgendwo reißen oder brechen und ich könnte niederstürzen. Diesmal bin ich wohl wirklich gestürzt. Und auch wenn es meinen Kopf gekostet hat, mein Herz wird nie zu Bruch gehen.
1 „Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. […]“ „Vielleicht, Mama. Aber wenn es so wäre, wer wäre Schuld? Von wem hab ich es? Doch nur von dir. […]“ (S.9)
2 „Rasch und sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Bewegungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmer-gymnastik durchzumachen. Es war ersichtlich, dass sie sich diesen absichtlich ein wenig ins Lächerliche ge-zogenen Übungen mit ganz besonderer Liebe hingab […]“ (S.8)
3 ( S.34)
4 „[…] und wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf, aber immer nur flüchtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte, wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. […]“ (S.8)
5 „Und dabei lief sie auf die Mutter zu und umarmte die stürmisch und küsste sie. ‚Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe…’“ (S.9)
Quellenangaben:
Mein Text nimmt Bezug auf das Buch „Effie Briest!“ von Theodor Fontane in der Ausgabe des „Einfach Deutsch“- Verlags