Als Anna zur Welt kam ging soeben einer der strengsten und kältesten Winter in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu Ende. Das erste Friedensjahr nach dem furchtbaren Krieg endete mit einer ungewöhnlich langen Kälteperiode, die von November bis zum März des darauffolgenden Jahres anhielt.
Eigentlich hatte der Arzt den Geburtstermin für Anna Anfang März errechnet. Als sich nach drei Wochen noch immer keine Anzeichen für eine bevorstehende Niederkunft abzeichneten, wurde Annas Mutter auf der gynäkologischen Station des Bezirkskrankenhauses aufgenommen. Für den folgenden Morgen wurde der Termin für einen Kaiserschnitt angesetzt, man könne nicht länger zuwarten wurde der Mutter gesagt.
Als sie wenige Tage später mit dem Neugeborenen die Klinik verließ, wickelten es die Schwestern sicherheitshalber noch in mehrere Lagen Zeitungspapier, um es vor der grimmigen Kälte zu schützen.
Zwei Tage später endete die Kälteperiode und der Frühling begann.
Später hatte sich Anna oft gefragt, welch glückliche Vorsehung sie davor bewahrt hatte, nicht zum errechneten Termin zur Welt zu kommen. Vielleicht war es ein unbewusster Instinkt der Mutter gewesen, der dazu führte das Ungeborene länger in der Wärme und Geborgenheit des Leibes zu halten. Zum frieren und hungern blieb in den folgenden Nachkriegsjahren noch Zeit genug.
Ich traf Anna heuer im März zwischen Mos und Pontevedra am portugiesischen Pilgerweg nach Santiago. Es hatte die letzten Tage pausenlos geregnet, ich war nass und durchgefroren und sehnte mich nach einem trockenen Plätzchen und einem heißen Getränk. Unter einem geschützten Mauervorsprung sahen mich unter der Kapuze eines Regenponchos fröhliche Augen an: „Heißer Tee gefällig?“ Ich nahm dankbar an und setzte mich zu Anna auf die Stufen.
Um diese Jahreszeit war der Camino Portugues nicht sehr stark frequentiert, man traf selten auf andere Pilger. Auch dieses Alleinsein hatte mir zunehmend zu schaffen gemacht.
Ich kramte meine schon feuchten Kekse aus dem Rucksack und teilte sie mit Anna. Dann traten wir gemeinsam den Weiterweg durch den Regen an.
Was mich an Anna faszinierte war neben ihrer Fröhlichkeit vor allem ihre Wärme und Herzlichkeit. Und ihre Art ganz bei den Dingen zu sein. Wenn sie lachte, wenn sie sprach, wenn sie voll Begeisterung auf etwas am Wegesrand hinwies, voll mit Entdeckerfreude wie ein kleines Kind, war mir, als ginge trotz des Regens die Sonne auf. Als ich sie darauf ansprach, erzählte sie mir die Sache mit ihrer Geburt. Sie sei von Anfang an ein Glückskind gewesen.
Ich war verblüfft, weil ich sie viel jünger geschätzt hätte. Dass sie schon fast auf die Siebzig zuging sah man ihr nicht an. Mein Alter lag deutlich unter ihrem, trotzdem fiel es mir nicht leicht, mit ihrer Lebendigkeit Schritt zu halten. Nicht nur beim Gehen.
Ich hatte mir eine Auszeit von meinem Beruf genommen, um mir über mein Leben mehr Klarheit zu verschaffen. Es war ein Punkt erreicht an dem ich mich plötzlich müde und kraftlos fühlte und mir mein Tun zunehmend sinnlos erschien. Immer öfter fragte ich mich, ob ich noch auf dem richtigen Weg sei. Als mir dann ein Bericht über den spanischen Jakobsweg in die Hände fiel, war eine Entscheidung gefallen. Allerdings wählte ich die portugiesische Variante, die weniger überlaufen und vor allem wesentlich kürzer beschrieben war.
In Porto war ich Anfang März voll Energie und Neugierde losgelaufen. Das anfangs dicht besiedelte, wenig reizvolle Gebiet, das ständig nasskalte Wetter, die ungemütlichen, zum Teil ungeheizten Herbergen, hatten meinen anfänglichen Enthusiasmus bald reduziert. Noch waren die Tage kurz, es dunkelte immer noch früh, in den kleineren Ortschaften waren viele Läden geschlossen. An einem Abend saß ich ohne Proviant völlig allein im leeren Pilgerquartier, war hungrig, müde und demotiviert. Und dachte ans aufgeben.
Anna war bisher einen anderen Teil des Weges als ich gelaufen. Sie hielt sich nicht gerne an Vorgaben. Wenn ihr danach war, suchte sie eigene Wege zu gehen. Ich bewunderte ihren Mut. In den beiden Tagen, an denen wir gemeinsam am Camino unterwegs waren, erzählte sie viel, vor allem aus ihrer ganz frühen Lebensgeschichte und ich begriff nach und nach, wie sie die Ereignisse ihres Lebens für sich genützt und gewandelt hatte, um zu der Person zu werden, die sie heute war.
In Arcade brach endlich die Sonne durch die Regenwolken.
In Caldas de Reis trennten sich unsere Wege wieder.
Später fielen mir während des Gehens immer wieder Annas Erzählungen ein.
Als am Beginn einer neuen Etappe die Dächer des Ortes frühmorgens mit einer leichten Schneeschicht bedeckt waren und ich trotz meiner hochwertigen Wanderausrüstung schrecklich fror, erinnerte ich mich an Annas Schilderungen über das fehlende Heizmaterial in den ersten Nachkriegsjahren. Die geschwächte, unterernährte Bevölkerung konnte der Kälte nicht widerstehen, vor allem Alte und Kinder wurden von Krankheiten dahingerafft. Viele litten an Tuberkulose und Rachitis. Zwanzig Prozent der Neugeborenen starben damals im ersten Lebensjahr. Ich habe überlebt, sagte Anna glücklich.
Weil auch warme Kleidung Mangelware war, hatte Annas Mutter ihren alten Wintermantel aufgetrennt, gewendet und daraus einen Mantel für das Kind genäht. Aus dem Rest wurden warme Hauspatschen geflochten. Sie seien alle damals sehr kreativ gewesen, meinte Anna, das habe ihr im späteren Leben immer wieder weitergeholfen.
Wenn ich an meinen feuchten Keksen unterwegs knabberte, fiel mir das Care-Paket ein, über das Anna erzählt hatte. Vor allem die Kinder hatten voll Freude auf die angekündigten Lebensmittelpakete aus Amerika gewartet, in denen die köstlichsten Dinge enthalten sein sollten: Schokolade, Dosenpfirsiche, Ananas. Im Paket das Annas Familie erhielt war aber nur Trockenmilch und Trockenei, sehr salziges Dosenfleisch und eine Dose mit Butterschmalz gewesen, keine Schokolade, was die Kinder sehr enttäuschte.
„Aber es war auch eine Packung Kakao und ein Kilo Zucker dabei!“ sagte Anna fröhlich. „Das gab für uns Kinder mit der Trockenmilch ein wahres Luxusgetränk!“
In ihren Erzählungen gab es nie ein Wort der Anklage, kein Gejammer, sie sah immer auch die andere, gute Seite. „Etwas ist immer gut an den Dingen, auch wenn man länger suchen muss und es vielleicht erst später versteht!“ sagte sie oft vergnügt. Zuletzt auch als es in der Herberge kein Wasser zum Duschen gab: „Wie gut, dass es heute so kalt beim wandern war, so sind wir wenigstens nicht verschwitzt!“ Sie fand für alles einen Sinn.
Eine Woche später erreichte ich das Cap Finisterre, einen der westlichsten Punkte an der Atlantikküste Spaniens und das endgültige Ziel meines Weges.
Neben mir machte ein weiterer Pilger halt, wir kamen ins Gespräch, ich erzählte auch von meiner Begegnung mit Anna. Er sah mich nachdenklich an. Er hätte die Anna, die ich beschreibe, im Vorjahr zwischen Leon und Burgos am spanischen Jakobsweg getroffen und sie hätten einige Etappen des Weges gemeinsam gemacht. Dann hätte sie aber eine Pause einlegen müssen. Sie sei damals schon schwer krank gewesen, die Ärzte hätten ihr nur mehr wenig Zeit gegeben. Er glaube nicht, dass sie Santiago wirklich erreicht habe.
Ich war überzeugt, dass Anna überlebt hatte. Sie hatte in ihrem Leben schon so viel überstanden. Auch Ärzte wissen nicht alles.
Schließlich dachten die Menschen früher auch, dass am Cap Finisterre die Erde zu Ende wäre.
Eigentlich hatte der Arzt den Geburtstermin für Anna Anfang März errechnet. Als sich nach drei Wochen noch immer keine Anzeichen für eine bevorstehende Niederkunft abzeichneten, wurde Annas Mutter auf der gynäkologischen Station des Bezirkskrankenhauses aufgenommen. Für den folgenden Morgen wurde der Termin für einen Kaiserschnitt angesetzt, man könne nicht länger zuwarten wurde der Mutter gesagt.
Als sie wenige Tage später mit dem Neugeborenen die Klinik verließ, wickelten es die Schwestern sicherheitshalber noch in mehrere Lagen Zeitungspapier, um es vor der grimmigen Kälte zu schützen.
Zwei Tage später endete die Kälteperiode und der Frühling begann.
Später hatte sich Anna oft gefragt, welch glückliche Vorsehung sie davor bewahrt hatte, nicht zum errechneten Termin zur Welt zu kommen. Vielleicht war es ein unbewusster Instinkt der Mutter gewesen, der dazu führte das Ungeborene länger in der Wärme und Geborgenheit des Leibes zu halten. Zum frieren und hungern blieb in den folgenden Nachkriegsjahren noch Zeit genug.
Ich traf Anna heuer im März zwischen Mos und Pontevedra am portugiesischen Pilgerweg nach Santiago. Es hatte die letzten Tage pausenlos geregnet, ich war nass und durchgefroren und sehnte mich nach einem trockenen Plätzchen und einem heißen Getränk. Unter einem geschützten Mauervorsprung sahen mich unter der Kapuze eines Regenponchos fröhliche Augen an: „Heißer Tee gefällig?“ Ich nahm dankbar an und setzte mich zu Anna auf die Stufen.
Um diese Jahreszeit war der Camino Portugues nicht sehr stark frequentiert, man traf selten auf andere Pilger. Auch dieses Alleinsein hatte mir zunehmend zu schaffen gemacht.
Ich kramte meine schon feuchten Kekse aus dem Rucksack und teilte sie mit Anna. Dann traten wir gemeinsam den Weiterweg durch den Regen an.
Was mich an Anna faszinierte war neben ihrer Fröhlichkeit vor allem ihre Wärme und Herzlichkeit. Und ihre Art ganz bei den Dingen zu sein. Wenn sie lachte, wenn sie sprach, wenn sie voll Begeisterung auf etwas am Wegesrand hinwies, voll mit Entdeckerfreude wie ein kleines Kind, war mir, als ginge trotz des Regens die Sonne auf. Als ich sie darauf ansprach, erzählte sie mir die Sache mit ihrer Geburt. Sie sei von Anfang an ein Glückskind gewesen.
Ich war verblüfft, weil ich sie viel jünger geschätzt hätte. Dass sie schon fast auf die Siebzig zuging sah man ihr nicht an. Mein Alter lag deutlich unter ihrem, trotzdem fiel es mir nicht leicht, mit ihrer Lebendigkeit Schritt zu halten. Nicht nur beim Gehen.
Ich hatte mir eine Auszeit von meinem Beruf genommen, um mir über mein Leben mehr Klarheit zu verschaffen. Es war ein Punkt erreicht an dem ich mich plötzlich müde und kraftlos fühlte und mir mein Tun zunehmend sinnlos erschien. Immer öfter fragte ich mich, ob ich noch auf dem richtigen Weg sei. Als mir dann ein Bericht über den spanischen Jakobsweg in die Hände fiel, war eine Entscheidung gefallen. Allerdings wählte ich die portugiesische Variante, die weniger überlaufen und vor allem wesentlich kürzer beschrieben war.
In Porto war ich Anfang März voll Energie und Neugierde losgelaufen. Das anfangs dicht besiedelte, wenig reizvolle Gebiet, das ständig nasskalte Wetter, die ungemütlichen, zum Teil ungeheizten Herbergen, hatten meinen anfänglichen Enthusiasmus bald reduziert. Noch waren die Tage kurz, es dunkelte immer noch früh, in den kleineren Ortschaften waren viele Läden geschlossen. An einem Abend saß ich ohne Proviant völlig allein im leeren Pilgerquartier, war hungrig, müde und demotiviert. Und dachte ans aufgeben.
Anna war bisher einen anderen Teil des Weges als ich gelaufen. Sie hielt sich nicht gerne an Vorgaben. Wenn ihr danach war, suchte sie eigene Wege zu gehen. Ich bewunderte ihren Mut. In den beiden Tagen, an denen wir gemeinsam am Camino unterwegs waren, erzählte sie viel, vor allem aus ihrer ganz frühen Lebensgeschichte und ich begriff nach und nach, wie sie die Ereignisse ihres Lebens für sich genützt und gewandelt hatte, um zu der Person zu werden, die sie heute war.
In Arcade brach endlich die Sonne durch die Regenwolken.
In Caldas de Reis trennten sich unsere Wege wieder.
Später fielen mir während des Gehens immer wieder Annas Erzählungen ein.
Als am Beginn einer neuen Etappe die Dächer des Ortes frühmorgens mit einer leichten Schneeschicht bedeckt waren und ich trotz meiner hochwertigen Wanderausrüstung schrecklich fror, erinnerte ich mich an Annas Schilderungen über das fehlende Heizmaterial in den ersten Nachkriegsjahren. Die geschwächte, unterernährte Bevölkerung konnte der Kälte nicht widerstehen, vor allem Alte und Kinder wurden von Krankheiten dahingerafft. Viele litten an Tuberkulose und Rachitis. Zwanzig Prozent der Neugeborenen starben damals im ersten Lebensjahr. Ich habe überlebt, sagte Anna glücklich.
Weil auch warme Kleidung Mangelware war, hatte Annas Mutter ihren alten Wintermantel aufgetrennt, gewendet und daraus einen Mantel für das Kind genäht. Aus dem Rest wurden warme Hauspatschen geflochten. Sie seien alle damals sehr kreativ gewesen, meinte Anna, das habe ihr im späteren Leben immer wieder weitergeholfen.
Wenn ich an meinen feuchten Keksen unterwegs knabberte, fiel mir das Care-Paket ein, über das Anna erzählt hatte. Vor allem die Kinder hatten voll Freude auf die angekündigten Lebensmittelpakete aus Amerika gewartet, in denen die köstlichsten Dinge enthalten sein sollten: Schokolade, Dosenpfirsiche, Ananas. Im Paket das Annas Familie erhielt war aber nur Trockenmilch und Trockenei, sehr salziges Dosenfleisch und eine Dose mit Butterschmalz gewesen, keine Schokolade, was die Kinder sehr enttäuschte.
„Aber es war auch eine Packung Kakao und ein Kilo Zucker dabei!“ sagte Anna fröhlich. „Das gab für uns Kinder mit der Trockenmilch ein wahres Luxusgetränk!“
In ihren Erzählungen gab es nie ein Wort der Anklage, kein Gejammer, sie sah immer auch die andere, gute Seite. „Etwas ist immer gut an den Dingen, auch wenn man länger suchen muss und es vielleicht erst später versteht!“ sagte sie oft vergnügt. Zuletzt auch als es in der Herberge kein Wasser zum Duschen gab: „Wie gut, dass es heute so kalt beim wandern war, so sind wir wenigstens nicht verschwitzt!“ Sie fand für alles einen Sinn.
Eine Woche später erreichte ich das Cap Finisterre, einen der westlichsten Punkte an der Atlantikküste Spaniens und das endgültige Ziel meines Weges.
Neben mir machte ein weiterer Pilger halt, wir kamen ins Gespräch, ich erzählte auch von meiner Begegnung mit Anna. Er sah mich nachdenklich an. Er hätte die Anna, die ich beschreibe, im Vorjahr zwischen Leon und Burgos am spanischen Jakobsweg getroffen und sie hätten einige Etappen des Weges gemeinsam gemacht. Dann hätte sie aber eine Pause einlegen müssen. Sie sei damals schon schwer krank gewesen, die Ärzte hätten ihr nur mehr wenig Zeit gegeben. Er glaube nicht, dass sie Santiago wirklich erreicht habe.
Ich war überzeugt, dass Anna überlebt hatte. Sie hatte in ihrem Leben schon so viel überstanden. Auch Ärzte wissen nicht alles.
Schließlich dachten die Menschen früher auch, dass am Cap Finisterre die Erde zu Ende wäre.