Aufbrechen - 2. Kapitel

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Gabriele

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Aufbrechen (2. Kapitel)


(Das erste Kapitel ist als "Aufbruch" im Forum "Kurzgeschichten" zu finden.)


“Darf ich heute mit hinein?“ Bittend schaut Kerstin die Schwester an.
„Hm. Ich muss erst Dr. Eigner fragen.“
Schwester Verena kehrt uns den Rücken zu und geht mit raschen Schritten Richtung Arztzimmer. Wie schön ihre Beine sind – und wie knackig ihr Po!
Mittlerweile kenne ich Verena schon ganz gut. Seit Silvia im Koma liegt, komme ich täglich hierher, und meistens hat Verena Dienst. Es ist jedes Mal wieder eine Überwindung, meine vor kurzem noch voll Energie und Rastlosigkeit steckende Frau in dem sterilen Krankenhausbett liegen zu sehen, bewegungslos, apathisch, mit Schläuchen an angsteinflößende Apparate angeschlossen.
Das ist wohl auch der Grund dafür, dass Kerstin ihre Mutter bisher noch immer nicht besuchen durfte. Mit ihren dreizehn Jahren versteht sie zwar schon ganz gut, was mit ihrer Mutter los ist – aber Verstehen und Mitansehen ist doch nicht ganz dasselbe.
Auch diesmal kommt Verena mit einem bedauernden Kopfschütteln aus dem Arztzimmer zurück und bittet Kerstin, vor dem Krankenzimmer zu warten, in dem Silvia liegt.
„Ich bin bald wieder da!“ sage ich tröstend zu ihr.
Kerstin nickt und reicht mir einen Zettel. „Lies ihr das bitte vor, Papa!“ In ihren Augen schimmert es feucht.
Ich werfe einen Blick auf den Zettel.
„Liebe Mama! Ich komme Dich bald besuchen. Ich hab Dich sehr lieb. Deine Kerstin“
Ich muss räuspern, das Geschriebene verschwimmt vor meinen Augen. Verdammt – wie nahe mir plötzlich alles geht!
Aber das wollte ich doch! Musste dafür zuerst eine Katastrophe passieren?
Rasch hebe ich den Blick, sehe Verenas verständnisvolle Augen, ihr warmes Lächeln. Ich folge ihr in das Zimmer, in dem Silvia liegt.
Derselbe Anblick wie die letzten elf Tage – oder waren es schon zwölf?
Wenn ich nicht wüsste, dass sie noch lebt, würde ich glauben, dass Silvia vor ein paar Minuten verstorben ist. So wie sie sah auch meine Großmutter auf dem Sterbebett aus, als ich sie zum letzten Mal sah: blass, schmal, kantige Gesichtszüge, bewegungslos – ein Mensch, den man gut kennt und der einem doch völlig fremd ist.
„Hallo Silvia!“ sage ich leise. Ich berühre ihre Hand und empfinde dabei keine Vertrautheit, sondern Abwehr. Dafür schäme ich mich. Sie ist meine Frau, ich kenne sie seit sechzehn Jahren, schlafe seit mehr als vierzehn Jahren mehr oder weniger regelmäßig mit ihr... Und da ist auch noch dieses Gefühl des schlechten Gewissens...
Ja, es liegt auf der Hand: Sie ist aus dem Fenster gesprungen. Fremdverschulden sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, sagten die Sachverständigen, die den „Fall“ untersucht haben. Zum Glück – nicht auszudenken, wenn sie mich auch noch des versuchten Mordes verdächtigt hätten...
Aber natürlich bin ich mitverantwortlich. Wie oft hat mich Silvia kalt, lieblos, egoistisch genannt! Wie oft ist sie seufzend oder weinend ins Schlafzimmer geflohen, wenn ich wieder einmal sagte, dass ich einfach nur meine Ruhe will!
Silvia! Hätten wir nur mehr Mut gehabt! Wärst du doch vor zwei Jahren mit jenem Italiener durchgebrannt – Kerstin fand ihn ohnehin so süß! Hätte ich mich doch damals auf Sonja eingelassen! Drei Jahre lang war sie meine Mitarbeiterin – und nicht nur das: meine Klagemauer, meine Sexualtherapeutin... aber auch damals: schlechtes Gewissen, Angst vor Veränderung, die Macht der Gewohnheit – und so machte ich eben Schluss mit Sonja, und sie kündigte.
Feige war ich – und du auch! Zu lange ohne Liebe zusammenzuleben kann nun mal geradezu tödlich sein...
Mir fällt Kerstins Zettel wieder ein, und ich lese ihn laut vor. Meine Stimme klingt belegt.
Keine Reaktion, nicht einmal ein Wimpernzucken.
Ach Silvia, verzeih mir! Wie konnte ich nur hier an deinem Bett so schreckliche Gedanken haben! Bitte werd doch gesund, ich will alles, alles, alles für dich tun, wenn du nur wieder so wirst, wie du warst!
Ich nehme ihre leblose Hand in meine, küsse ihre kalten Finger. Ihr Gesicht zu küssen schaffe ich nicht.
Fremd!
Wird mir diese Frau jemals wieder vertraut sein?
Benommen stehe ich auf, verlasse zögernd das Zimmer.
Da ist wieder mein Rettungsring: Schwester Verena mit ihrem vertrauenerweckenden Lächeln.
„Darf ich Sie morgen auf eine Tasse Kaffee einladen? Um fünf?“
Sie nickt. „Gerne. Aber erst um halb sechs, okay? Ich komme nicht vor fünf hier raus.“
„Gut. Ich hole Sie ab.“
„Wie geht’s ihr denn?“
Ach, Kerstin ist ja auch noch da. Meine tapfere, lästige, wunderbare Tochter.
 



 
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