Bitterfelder Weg

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich wollte zum Bitterfelder Weg,
fand einen Feldweg voller Steine und eine aufgeplatzte
Asphaltstraße
mit einem Stoppschild -
da standen Wagen an Wagen,
ineinandergepreschte,
und Seelen zogen ihre Routen in den Wolken,
ich betrachtete die Kondensstreifen
und meine durchlöcherten Strümpfe.
Ich war zu jung und unerfahren,
so überholte ich
ohne einzuholen
und wurde immer wieder überholt,
bis mein Kopf durch die Mauer reichte,
ich sah Töpfe voll Milch und Honig
und die gebratenen Enten flogen in der Luft
Da zog ich meinen Kopf wieder heraus,
und lag in einem Kinderwagen, schrie laut
Gedichte in die Luft: Dada, dada.
Das alles reichte nicht,
denn es gab plötzlich freie Fahrt für freie Bürger,
nur nicht mit der Straßenbahn.
Der Bitterfelder Weg füllte sich mit Seelen toter Dichter,
die ihre Werke aus geheimen Regalen auf der Schulter trugen.
Ich sah, wie die Schüsseln und die Töpfe und die geratenen Tauben
zu Tränen verrannen und sich mit Honig und Milch mischten.
Ich sah hungrige Wölfe auf hungrigen Lettern, sie zerfleischten sich.
Ich sah merkwürdige Tiger aus Buntem Laub herausspringen und Rollschuhe fahren.
Aus den Rollschuhen wurden Inline-Skaters und aus den Bäckereien wurden Backshops.
Neue Etiketten sah ich überall.
Igng auf die Suche nach dem Bitterfelder Weg.
Ich nahm mein Navi, aber die Batterie war leer.
Ich nahm meinen Atlas, aber die Seite war herausgerissen.
Ich nahm meinen Verstand und lief los.
Lief über löchrige Wege, die heute noch heil waren,
lief durch Bahnhöfe, wo die Wartenden warteten,
lief zu den Streitenden, die mit Holzhämmern fochten.
Ich hörte das Klappern der Holzköpfe und des stählernen Regens.
Ich hörte die siebzehn Augenblicke des Frühlings.
Und ohne es zu bemerken, wurde ich Herbst.
Meine Blätter welkten in bunter Farbenpracht.
Ich schüttelte meine Arme wie Äste und warf sie ab.
Ich gesellte mich zu den Seelen, die ihr Gedächtnis mit Füßen traten oder in Suppentellern mit Buchstabennudeln auffrischten.
Vergeblich suchte ich das Russisch Brot, das ich aufgespart hatte, um Buchstaben zu legen.
Der Bitterfelder Weg hatte sich in Träume verzweigt.
Er hatte sich in einen Kelch verwandelt, den ich leertrank bis zur Neige.
Ein einsamer Ritter ritt vorüber.
Er hatte einen Setzkasten auf dem Kopf.

An der Kreuzung saß Baba Jaga und ich gab ihr einen Knuften Brot.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich wollte zum Bitterfelder Weg,
fand einen Feldweg voller Steine und eine aufgeplatzte
Asphaltstraße
mit einem Stoppschild -
da standen Wagen an Wagen,
ineinandergepreschte,
und Seelen zogen ihre Routen in den Wolken,
ich betrachtete die Kondensstreifen
und meine durchlöcherten Strümpfe.
Ich war zu jung und unerfahren,
so überholte ich
ohne einzuholen
und wurde immer wieder überholt,
bis mein Kopf durch die Mauer reichte,
ich sah Töpfe voll Milch und Honig
und die gebratenen Enten flogen in der Luft
Da zog ich meinen Kopf wieder heraus,
und lag in einem Kinderwagen, schrie laut
Gedichte in die Luft: Dada, dada.
Das alles reichte nicht,
denn es gab plötzlich freie Fahrt für freie Bürger,
nur nicht mit der Straßenbahn.
Der Bitterfelder Weg füllte sich mit Seelen toter Dichter,
die ihre Werke aus geheimen Regalen auf der Schulter trugen.
Ich sah, wie die Schüsseln und die Töpfe und die geratenen Tauben
zu Tränen verrannen und sich mit Honig und Milch mischten.
Ich sah hungrige Wölfe auf hungrigen Lettern, sie zerfleischten sich.
Ich sah merkwürdige Tiger aus Buntem Laub herausspringen und Rollschuhe fahren.
Aus den Rollschuhen wurden Inline-Skaters und aus den Bäckereien wurden Backshops.
Neue Etiketten sah ich überall.
Ich ging auf die Suche nach dem Bitterfelder Weg.
Ich nahm mein Navi, aber die Batterie war leer.
Ich nahm meinen Atlas, aber die Seite war herausgerissen.
Ich nahm meinen Verstand und lief los.
Lief über löchrige Wege, die heute noch heil waren,
lief durch Bahnhöfe, wo die Wartenden warteten,
lief zu den Streitenden, die mit Holzhämmern fochten.
Ich hörte das Klappern der Holzköpfe und des stählernen Regens.
Ich hörte die siebzehn Augenblicke des Frühlings.
Und ohne es zu bemerken, wurde ich Herbst.
Meine Blätter welkten in bunter Farbenpracht.
Ich schüttelte meine Arme wie Äste und warf sie ab.
Ich gesellte mich zu den Seelen, die ihr Gedächtnis mit Füßen traten oder in Suppentellern mit Buchstabennudeln auffrischten.
Vergeblich suchte ich das Russisch Brot, das ich aufgespart hatte, um Buchstaben zu legen.
Der Bitterfelder Weg hatte sich in Träume verzweigt.
Er hatte sich in einen Kelch verwandelt, den ich leertrank bis zur Neige.
Ein einsamer Ritter ritt vorüber.
Er hatte einen Setzkasten auf dem Kopf.

An der Kreuzung saß Baba Jaga und ich gab ihr einen Knuften Brot.
 

Alessa

Mitglied
Hallo Bernd,

der Bitterfelder Weg hat mir gut gefallen und ich hab ihn gern viermal gelesen. Da steckt soviel drin!
Zuerst hab ich mich vom Rhythmus tragen lassen, empfand 3/4 des Textes als schnelles Kurzkino. Dann, vom Versübergang mit den 17 Augenblicken des Frühlings zum Herbst, kehrte beim Lesen Ruhe ein. Mein Lesen wurd langsamer.

Danach habe ich mich auf das lyrische [strike]Och[/strike] Ich konzentriert und ging mit ihm von Vers zu Vers.

Danach recherchierte ich "17 Augenblicke des Frühlings" und "Bitterfelder Weg", weil ich darüber noch nie etwas gelesen hatte und schäme mich angemessen für mein Unwissen. Aber ich war froh, dass ich wieder etwas gelernt habe. Danke dafür.

Dann las ich mit den neuen Kenntnissen noch einmal und sah vor meinen Augen schwarzweiße Szenen die langsam bunt wurden.

Ach menno, ich habs nochmal gelesen und musste ein Tränchen wegwischen.

LG
Alessa
 
Ein wenig wirr, aber gerade deshalb auch interessant.

[blue]die geratenen Tauben[/blue]
sind des wirklich die geratenen?

[blue]die heute noch heil waren,[/blue]
hier irritiert mich "heute"

[blue]Buntem Laub [/blue]
würde ich spontan buntem Laub sagen

[blue]fand einen Feldweg voller Steine[/blue]
"voller" gefällt mir vom Bild und von der Sprache her nicht.

[blue]Ich nahm mein Navi, aber die Batterie war leer.[/blue]
der Akku

[blue]Ich nahm meinen Atlas, aber die Seite war herausgerissen.[/blue]

[blue]Ich schüttelte meine Arme wie Äste und warf sie ab.[/blue]
Wie schüttelt man Äste?

Insgesamt sehr bunte und lebendige Bilder. Habe ich gerne gelesen!

Gruß, A.D.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich wollte zum Bitterfelder Weg,
fand einen Feldweg voller Steine und eine aufgeplatzte
Asphaltstraße
mit einem Stoppschild -
da standen Wagen an Wagen,
ineinandergepreschte,
und Seelen zogen ihre Routen in den Wolken,
ich betrachtete die Kondensstreifen
und meine durchlöcherten Strümpfe.
Ich war zu jung und unerfahren,
so überholte ich
ohne einzuholen
und wurde immer wieder überholt,
bis mein Kopf durch die Mauer reichte,
ich sah Töpfe voll Milch und Honig
und die gebratenen Enten flogen in der Luft
Da zog ich meinen Kopf wieder heraus,
und lag in einem Kinderwagen, schrie laut
Gedichte in die Luft: Dada, dada.
Das alles reichte nicht,
denn es gab plötzlich freie Fahrt für freie Bürger,
nur nicht mit der Straßenbahn.
Der Bitterfelder Weg füllte sich mit Seelen toter Dichter,
die ihre Werke aus geheimen Regalen auf der Schulter trugen.
Ich sah, wie die Schüsseln und die Töpfe und die gebratenen Tauben
zu Tränen verrannen und sich mit Honig und Milch mischten.
Ich sah hungrige Wölfe auf hungrigen Lettern, sie zerfleischten sich.
Ich sah merkwürdige Tiger aus Buntem Laub herausspringen und Rollschuhe fahren.
Aus den Rollschuhen wurden Inline-Skaters und aus den Bäckereien wurden Backshops.
Neue Etiketten sah ich überall.
Ich ging auf die Suche nach dem Bitterfelder Weg.
Ich nahm mein Navi, aber die Batterie war leer.
Ich nahm meinen Atlas, aber die Seite war herausgerissen.
Ich nahm meinen Verstand und lief los.
Lief über löchrige Wege, die heute noch heil waren,
lief durch Bahnhöfe, wo die Wartenden warteten,
lief zu den Streitenden, die mit Holzhämmern fochten.
Ich hörte das Klappern der Holzköpfe und des stählernen Regens.
Ich hörte die siebzehn Augenblicke des Frühlings.
Und ohne es zu bemerken, wurde ich Herbst.
Meine Blätter welkten in bunter Farbenpracht.
Ich schüttelte meine Arme wie Äste und warf sie ab.
Ich gesellte mich zu den Seelen, die ihr Gedächtnis mit Füßen traten oder in Suppentellern mit Buchstabennudeln auffrischten.
Vergeblich suchte ich das Russisch Brot, das ich aufgespart hatte, um Buchstaben zu legen.
Der Bitterfelder Weg hatte sich in Träume verzweigt.
Er hatte sich in einen Kelch verwandelt, den ich leertrank bis zur Neige.
Ein einsamer Ritter ritt vorüber.
Er hatte einen Setzkasten auf dem Kopf.

An der Kreuzung saß Baba Jaga und ich gab ihr einen Knuften Brot.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich schreibe es dazwischen.
Gebratene ...

... Danke für die Hinweise.

Ein wenig wirr, aber gerade deshalb auch interessant.

[blue]die geratenen Tauben[/blue]
sind des wirklich die geratenen?
... gebratene

[blue]die heute noch heil waren,[/blue]
hier irritiert mich "heute"
... Aktuelle Zeit.

[blue]Buntem Laub [/blue]
würde ich spontan buntem Laub sagen...

... Hatte ich überlegt. Es soll ein märchenhafter Eigenname sein.


[blue]fand einen Feldweg voller Steine[/blue]
"voller" gefällt mir vom Bild und von der Sprache her nicht.


... muss bleiben.
[blue]Ich nahm mein Navi, aber die Batterie war leer.[/blue]
der Akku

Akku besteht aus mehreren Elementen. Spielt hier keine Rolle, selbst wenn es das lyrische Ich verwechselt, charakterisiert es es.

[blue]Ich nahm meinen Atlas, aber die Seite war herausgerissen.[/blue]

... mit der GEWÜNSCHTEN Karte.

[blue]Ich schüttelte meine Arme wie Äste und warf sie ab.[/blue]
Wie schüttelt man Äste?
... Mit den Muskeln. Das Bild zeigt mehr Chaos an, als Stöcke.


Insgesamt sehr bunte und lebendige Bilder. Habe ich gerne gelesen!

Gruß, A.D.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Gerne gelesen! Vom Ton her entspricht der Text dem "Prediger" (Kohelet). Hast Du diesen Text verinnerlicht? Solltest Du ihn noch nicht gelesen haben, wäre er die passende Ergänzungslektüre zu Deinem Text, er hat in seiner existenzialistisch-nihilistischen Grundhaltung nicht sehr viel mit sonstigen biblischen Texten zu tun.

Ich vermute, die meisten hier wissen mit dem Begriff "Bitterfelder Weg" leider nicht mehr viel anzufangen.

P.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke sehr. Den Prediger kenne ich leider nicht.
Ich habe versucht, den Bitterfelder Weg so einzubauen, dass man vom Gedicht auch etwas hat, wenn man ihn nicht kennt. Aber er macht es sicherlich komplexer.
Er ist eine Art "Kenning", aber wenn man ihn nicht kennt, wirkt es wahrscheinlich trotzdem, wenngleich es an Dimension verliert.
In meiner Schulzeit war er ein verbreiteter Slogan.

Ich habe es mir angesehen: http://www.talmud.de/tlmd/das-buch-kohelet-kapitel-1-bis-3/
Sehr interessant.
 
D

Die Dohle

Gast
Hallo Bernd,
der bitterfelder weg ist mir nur in ungefähren schemen ein begriff. macht aber nix, dein text ist ein schlauer mix aus unterschiedlichsten perspektiven, die sich gegenseitig an die wand spielen, durch die wand, die mauer, dahin, wo der gelobte westwind weht, der steht wie eine wand.
phantastisch im sinn des wortes, phantastisch, surreal existentiell und was weiß ich noch alles. stark dokumentierter blick in die welt sag ich mal, gefällt mir ausgezeichnet.

lg
die dohle
 

Walther

Mitglied
lb Bernd,

das ist ein gewaltiger text, und wenn ich nicht einen wunderbaren text von dir in meiner anthologie besprechen würde, dann würde ich um diesen bitten.

lebenswege können bittere wege sein, manchmal sind sie es immer, manchmal sind sie es zeitweise. auch die rückschau ist zum glück augenblickhaft und augenblicklich. sie kann sich also ändern.

ich habe aus diesem gedicht viel gelernt, was ich bereits erahnte, bestätigt erfahren. und dafür danke ich dir sehr.

lg w.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es sind eine ganze Reihe von Phrasen und Sprichwörtern mit drin.

Beispiele:

"Bitterfelder Weg" - Einbeziehung vieler Leute in die Dichtkunst, auch Arbeiter, Klubs und AGs (Arbeitsgemeinschaften). Ist letztlich teilweise gescheitert.

"Überholen ohne Einzuholen" - im Osten sicher noch sehr bekannt ...

Töpfe voll Milch und Honig (Bibel)
und die gebratenen Enten flogen in der Luft (Schlaraffenland)
(Referenz zu "Cat Ballou")

"freie Fahrt für freie Bürger" ("neue" Ideologie im Westen)

"siebzehn Augenblicke des Frühlings" (russische Fernsehserie über den Kampf gegen den Faschismus, Kundschafter-/Agentenserie)

Und weitere.
 
Hallo Bernd,
und sehn wir uns nicht auf dieser Welt, dann sehn wir uns in Bitterfeld...

Schön, diese Zeilen von dir und die "schönen" Phrasen mal wieder gelesen zu haben. Sie haben das Leben genauso bereichert wie heute z.B. die Unworte des Jahres. Eine Phrase, zu der ich damals ein ganzes Gedicht geschrieben habe, nun extra für dich:

Jeden Tag mit guter Bilanz

Hier nun das Gedicht:

Die Bilanzen müssen stimmen

Die Bilanzen müssen stimmen,
nun zwar nicht um jeden Preis.
Denn was nicht zurechtzutrimmen,
ist doch sowieso zu heiß.

Plus und Minus, Soll und Haben,
Katze, Hund und Hundeschwanz,
Fliegendreck und Küchenschaben.
Jeden Tag mit guter Bilanz.

Stimmen müssen die Bilanzen.
Was zum Beispiel in der Liebe
so im großen und im ganzen
selten ohne Folgen bliebe.

Plus und Minus ....

Die Bilanzen müssen stimmen.
Wer ein Dutzend Kinder hat,
sorgt dafür, daß auch die schlimmen
stets gesund sind und auch satt.

Plus und Minus ....

Stimmen müssen die Bilanzen.
Gute Arbeit, gutes Geld!
Wer gedenkt sich zu verschanzen
in der Träume Wunderwelt?

Plus und Minus ....

Die Bilanzen müssen stimmen,
stimmen müssen die Bilanzen.
Wer will gegen den Strom schwimmen
oder aus der Reihe tanzen?

Plus und Minus ....​

Gruß
PS
 



 
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