Blutdruck

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Tapir

Mitglied
Meine Frau war ziemlich in Eile.
„Ist ein Paket für mich angekommen?“ rief sie durch den Korridor, kaum daß sie zur Wohnungstür hereingekommen war.
„Steht im Wohnzimmer“, antwortete ich.
„Prima“, sagte sie, während sie sich die hohen Schuhe auszog. „Das wird das Blutdruckmeßgerät sein. Ich hatte schon Angst, daß es nicht mehr rechtzeitig kommt.“
„Wozu brauchst Du denn ein Blutdruckmeßgerät?“ fragte ich.
„Für den Kursus. Der fängt doch in einer halben Stun¬de an.“ antwortete sie, während sie nach oben im Schlafzimmer verschwand - offenbar, um sich umzuziehen.
Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Donnerstags gab sie neuerdings Kurse in Krankenpflege. Und sie hatte mir vor ein paar Tagen erzählt, daß sie sich dafür ein Blutdruckmeßgerät zur Ansicht bestellt hatte.
„Kannst Du es mal auspacken?“ rief sie jetzt aus dem Badezimmer.
„Klar.“
In dem braunen Versandkarton war eine kleinere bunte Verpackung, auf der ein elektronisches Gerät mit ei¬nem ziemlich großen Display abgebildet war. Die Meßgeräte, die ich kannte, hatten graue Stoffmanschetten, einen Schlauch, ein Gummibällchen und daran befestigt eine Meßuhr, deren Zeiger sich hin und her bewegte.
„Eigentlich müßte ich es ja mal kurz ausprobieren“, nuschelte sie, während sie mit Haarspangen zwischen den Zähnen die Treppe herunter kam und sich dann vor dem Spiegel die Haare hochsteckte - wobei sie gleichzeitig ihre Füße in die flachen Schuhe zwängte. „Das wäre sonst peinlich, wenn ich nicht weiß, wie das funktioniert. Stellst Du Dich mal zur Verfügung?“
Ich mag nicht, wenn man meinen Blutdruck mißt. Wenn der Arzt mit dem kleinen Gummibällchen die Manschette aufbläst, so daß sie sich immer enger um meinen Oberarm schließt und ich dann meinen Puls im ganzen Arm bis in die Handgelenke hinunter spüre, bekomme ich ein ganz beklemmendes, beängstigendes Gefühl und bin erst erleichtert, wenn die Spannung nachlässt und die Luft aus der Manschette entweicht. Ich fühle mich wohler, wenn die Funktionen meines Körpers im Verborgenen bleiben. Aber hätte ich ihr diese Bitte abschlagen sollen?
Sie riß ungeduldig die Verpackung auf und nahm das Gerät aus der Plastiktüte.
„Halt mal“, sagte sie, während sie die Folie mit den zwei kleinen Batterien aufriß.
„Willst Du Dir nicht mal die Bedienungsanleitung durchlesen?“ fragte ich.
„Keine Zeit.“ antwortete sie, hatte im Nu die Batterien eingelegt und zwei Kabel angeschlossen, an denen eine Kunststoffmanschette befestigt war.
„Funktioniert! Gib´ mal Deinen Arm.“
Sie legte die Manschette um meinen Unterarm, fum¬melte etwas daran herum, um sie zu befestigen und drückte dann einen blauen Knopf neben dem Display. Das Gerät gab ein leichtes Summen von sich und ich spürte, wie sich die Manschette immer enger um meinen Unterarm schloß. Dann ertönte ein elektronisches Piepsen und die Spannung ließ wieder nach.
„Seltsam“, sagte meine Frau.
„Was ist seltsam?“ fragte ich.
„Hast Du nicht normalerweise zu niedrigen Blutdruck?“
„Ja, natürlich“, sagte ich. Mein Blutdruck war selten höher als 120 zu 80.
„Fühlst Du Dich irgendwie unwohl?“ fragte sie, wäh¬rend sich zwei steile Falten oberhalb ihrer Nase bilde¬ten. Kein gutes Zeichen.
„Nein, eigentlich nicht.“
„Naja, ich muß jetzt weg. Ruh´ Dich besser mal ein bißchen aus. Du hast 190 zu 120. Viel zu hoch. Also, bis nachher. Tschüß.“
Ein Kuss, dann nahm sie ihren Mantel vom Haken, das Blutdruckmeßgerät in die Hand und war verschwun¬den. Ich stand alleine im Flur. Völlig konsterniert. Hundertneunzig zu Hundertzwanzig. Nur diese beiden Zahlen gingen mir durch den Kopf. Ich hatte doch noch nie zu hohen Blutdruck gehabt. Müßte man das nicht eigentlich merken? Ich stand da und versuchte etwas zu merken. Und tatsächlich: nach ein paar Minuten stellte ich ein unspezifisches Unwohlsein fest. Ja - da war etwas.
Ich muß im Gesundheitslexikon nachsehen, dachte ich. Muß nachschauen, was das bedeutet. Mit Bluthochdruck hatte ich mich noch nie beschäftigt. Langsam drehte ich mich um, allzu ruckartige oder heftige Bewegungen vermeidend und ging in kleinen Schritten zum Bücherregal im Wohnzimmer. Als ich mit der linken Hand nach dem Lexikon griff, das in der obersten Regalebene stand, meinte ich, so etwas wie ein leichtes Ziehen in der Brust zu spüren. Sofort zog ich den Arm wieder zurück und holte mir einen Stuhl, um ohne allzu extreme Bewegungen an das Buch heranzukommen.
Mit dem Lexikon in der Hand ging ich vorsichtig zum Sofa und setzte mich. Was unter „Bluthochdruck“ stand, jagte mir einen fürchterlichen Schreck ein. Von zu hohem Blutdruck, war zu lesen, spricht man bereits bei einem Wert von Hundertvierzig zu Neunzig. Demnach mußte ich praktisch klinisch tot sein. Bluthochdruck sei eine tückische, schleichende Krankheit, deren Symptome man meist erst bemerke, wenn es schon fast zu spät sei. Wann, verdammt, hatte ich mir das letzte Mal den Blutdruck messen lassen? Möglicherweise litt ich schon lange unter dieser Krankheit, ohne etwas davon zu ahnen.
Vorsichtig legte ich mich auf das Sofa, den Rücken mit einem Kissen gestützt. Ich las weiter: Herzinfarkt und Schlaganfall drohten Hypertonikern wie mir. Wie war das eben mit dem Schmerz in der linken Brust? Wenn ich jetzt hier einen Schlaganfall bekäme? Niemand würde mich finden. Meine Frau würde erst wieder in zwei oder drei Stunden zurück sein. Und bei einem Schlaganfall zählen doch gerade die ersten Minuten.
Ich streckte mich der Länge nach aus. Jetzt spürte ich mein Herz überdeutlich klopfen, ja geradezu rasen, nahm die Funktionen meines Körpers überdeutlich wahr, spürte jede einzelne Kontraktion meines Herzens und wie der große Muskel arbeitete wie eine außer Kontrolle geratene Lokomotive, ein Atomkraftwerk kurz vor der Kernschmelze. Hundertneunzig zu Hundertzwanzig. Das ist, wie wenn man bei voller Fahrt in den ersten Gang zurückschaltet. Sollte ich den Arzt rufen? Oder würde die Aufregung mir den letzten Rest geben? Ich beschloß, erst mal ruhig liegen zu bleiben und zu versuchen, den Blutdruck mit ruhigem, gleich¬mäßigem Atmen herunter zu bekommen. Gegen sein Schicksal kann man eh´ nichts machen.
Über zwei Stunden lag ich so da, dem Tode näher als dem Leben und wie ein Seismograph in mich hinein horchend. Mein Leben zog an mir vorüber und beim Gedanken an all das, was ich - einen gesunden Blutdruck vorausgesetzt - noch alles hatte machen wollen, spürte ich, wie meine Augen feucht wurden. Mein Gott, und all die Jahre hatte ich nichts davon bemerkt.
Ich muß eingeschlafen sein, hatte das Geräusch des Schlüssels in der Haustür jedenfalls nicht gehört. Aber mein Name wurde plötzlich im Korridor gerufen.
„Hier“, antwortete ich mit schwacher Stimme, inner¬lich bereit - für wen auch immer.
„Was ist denn mit Dir los?“ fragte meine Frau und warf ihren Mantel über die Stuhllehne.
„Blutdruck“, konnte ich nur leise zur Antwort geben.
„Ach übrigens“, sagte sie. „Mit dem Meßgerät eben, da haben wir was falsch gemacht. Die Manschette muß anders rum. Das zeigt sonst total verkehrte Werte an.“
Das hätte mir fast den Rest gegeben!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
sehr

gekonnt ausgeführt. hätte von mir aus noch mehr überspitzt werden können. jedenfalls acht punkte.
lg
 

norge

Mitglied
zum Schreien. Ich habe das erste Mal seit langem bei einem Text so lachen müssen. Eine einfache Idee hinreißend umgesetzt!!!

zB

Als ich mit der linken Hand nach dem Lexikon griff, das in der obersten Regalebene stand, meinte ich, so etwas wie ein leichtes Ziehen in der Brust zu spüren. Sofort zog ich den Arm wieder zurück und holte mir einen Stuhl, um ohne allzu extreme Bewegungen an das Buch heranzukommen
prust

nein, ich kann die ganzen Stellen nicht hierein kopieren, sie sind durch die Bank witzig.

LG
norge!
 

San Martin

Mitglied
Fand ich gut. :) Übrigens ist dieses krampfhafte "in sich Reinhören" die Ursache einiger psychosomatisch bedingter Krankheiten, wie z.B. Angstsyndrome.

so daß sie sich immer enger um meinen Oberarm schließt und ich dann meinen Puls im ganzen Arm bis in die Handgelenke hinunter spüre,
Singular für Handgelenk. Ist ja auch von nur einem Arm die Rede (der, an dem gemessen wird).

Jetzt spürte ich mein Herz überdeutlich klopfen, ja geradezu rasen, nahm die Funktionen meines Körpers überdeutlich wahr
Zweimal "überdeutlich".

Hundertneunzig zu Hundertzwanzig. Das ist, wie wenn man bei voller Fahrt in den ersten Gang zurückschaltet.
Den Vergleich finde ich sehr unpassend. Das ist wohl eher wie ein Auto, dass man im 2ten Gang auf der Autobahn fährt. Also hochtourig.
 

Flic

Mitglied
Hallo,


ein bekanntes Thema gut umgesetzt, finde ich. Stilistisch ziemlich sauber; leider ist die Pointe von vornherein klar, ich weiß nicht, ob man das bei diesem Plot ändern könnte... vielleicht, indem er VOR dem Dialog schon ein wenig zittrig ist? Keine Ahnung. Oder indem man die Passage mit der Bedienungsanleitung streicht/kürzt?

„Fühlst Du Dich irgendwie unwohl?“ fragte sie, während sich zwei steile Falten oberhalb ihrer Nase bildeten. Kein gutes Zeichen.
„Nein, eigentlich nicht.“
„Naja, ich muß jetzt weg."
Die beste Stelle! Aufgemacht das Fass und schwupp-verschwunden! LOL!

Ich hoffe, du kannst was damit anfangen,
Flic
 

Tapir

Mitglied
Hallo Flic,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Über Deine Anregung bezüglich des Plots habe ich auch schon nachgedacht. Aber ich denke, da gibt es keine andere Lösung. Wenn er vorher zittrig ist, dann würde das ja bedeuten, dass tatsächlich irgendetwas physisches vorliegt. Der Witz ist ja gerade, dass der hohe Blutdruck eben reine Einbildung ist.
Gruß
Tapir
 

Flic

Mitglied
Hallo,


da haste recht, das mit dem Zittern geht vermutlich nicht; ich würde dann die Szene mit der Bedienungsanleitung ändern/kürzen insofern als sie nur kurz die Funktionstüchtigkeit des Geräts testen möchte; das impliziert dann nicht so geradlienig den Gedanken, sie könne sich beim Ablesen vertun...


Aber ansonsten ein höchst amüsanter Text!


Ich hoffe du kannst was damit anfangen,
Flic
 

Tapir

Mitglied
Hallo Flic,

das könnte gehen. Werde das am Wochenende mal provieren. Schönes Wochenende!
Gruß
Tapir
 
M

Minotaurus

Gast
Es wäre natürlich völliger Blödsinn, uns Männern unterstellen zu wollen, wir wären alle Hypochonder.
Wir sind eben nur etwas sensibler und können uns den jeweiligen Situationen somit besser anpassen.
Herrlich beschrieben, weiter so!
 



 
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