Brief an einen Engel

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Calistra

Mitglied
Meine Liebste,

heute ist es fünf Tage her, seit Du fortgegangen bist. Und ich vermisse Dich... Ich vermisse Dich unendlich. Ich sehe Dich vor mir, wie Du mich ansiehst, mein Gesicht studierst und lächelst. Ich höre den Klang Deiner Stimme, neckend und fröhlich, höre Dich - wie so oft - fragen, was es denn sei, das ich an Dir vermisse.

Aber Du bist nicht mehr hier, bist nicht bei mir um eine Deiner unvergleichlichen Fragen zu stellen, um mich dazu zu bringen, Dir meine Gedanken zu erläutern, als wären Sie wichtiger als alles andere.

Nun, Du sollst Deine Antwort trotzdem haben:

Ich vermisse den Klang Deiner viel zu hohen Pumps, wenn Du morgens die Wohnung verlässt (seien wir mal ehrlich, Du kannst auf den Dingern nicht wirklich "laufen"!

Ich vermisse aber auch das schlurfen dieser blöden Tigerkrallen, die Du Pantoffeln nennst. Ich verzehre mich nach dem Hauch Deines Atems, wenn Du vor mir eingeschlafen bist und würde alles dafür geben, Dir zuzusehen, wie Du mit einer Deiner Haarsträhnen spielst.

Ich bin ruhelos. Aber ich brauche auch keine Ruhe, ich will keine Ruhe, ich scheiße darauf, dass man nachts schlafen sollte - ich will nur Dich.

Du machst es mir wirklich nicht einfach. Wohin ich auch wandere in den Räumen, die Du mit mir geteilt hast, überall treffe ich Dich. Im Badezimmer eine Tube Zahnpasta, die ich längst weggeworfen hätte. Aber nein, Du mit Deinem Ordnungssinn hast sie zusammengerollt, um auch das letzte bisschen aus ihr rauszuholen. Ordentlich steht sie da und starrt mich an, auf irrwitzige Art ein skurriles Kunstwerk, von Deiner kleinen weißen Hand geformt mit einer besorgniserregenden Perfektion, die eines Künstlers würdig wäre. Du hättest sie signieren sollen, ich bin sicher, ich hätte eine Galerie gefunden, die sie ausgestellt hätte.

Siehst Du nun, was Du aus mir gemacht hast? Ein Trottel bin ich, der nachts eine Zahnpastatube anbetet, statt zu schlafen. Ein Idiot, der sich nicht abfinden kann mit der Tatsache, von Dir getrennt zu sein. Ich bin ein nichts, ein niemand, solange Du nicht bei mir bist. Ich würde zu Dir kommen, wenn ich könnte, darauf kannst Du wetten. Und ich würde einen Weg finden, Dich mit mir zu nehmen, egal wie. Ich knie vor Dir, ich bete Dich an. Tu was immer Du willst, aber rede mit mir!!!

Ich kann mir denken, dass das nicht leicht für Dich ist. Aber Du hast doch immer einen Weg gefunden - finde jetzt auch einen!

Ich setzte meine Wanderung fort, nur um noch mehr Erinnerungen an Dich zu finden. In der Küche, sauber nebeneinander aufgereiht, die Teedosen, die wir zusammen ausgesucht haben. Ich sehe mir sie an und denke an die vielen Augenblicke, in denen ich bei Dir gestanden habe und Dir unbemerkt zugesehen habe, wie Du, mit einer der Teedosen in der Hand, versonnen aus dem Fenster schautest. Wie gern hätte ich Dich damals gefragt, woran Du denkst, aber ich wollte diesen wunderschönen Augenblick nicht kaputtmachen. Als hättest Du meine Gedanken gelesen, sahst Du mich an, scheinbar erstaunt über meine Anwesenheit und schmiegtest Dich an mich. Wie gern wüsste ich jetzt, was Du damals dachtest!

In den ersten drei Tagen, nachdem Du mich verlassen hattest, riefen sie alle an. Freunde, Bekannte, Verwandte, die, die es gerne wären. Von allen die gleichen Floskeln, die gleichen mitleidigen Worte, durch das Telefonkabel geschickt wie kleine Happen Brot, die man einem gefangenen Vogel in den Käfig wirft... Sowas ertrag ich nicht. Also habe ich mich abgekapselt, die Nabelschnur zwischen mir und der restlichen, mitleidigen Welt zerschnitten, die Türklingel abgestellt. Ich kann es nicht ertragen, von all diesen Menschen zu hören, wie gut sie meine Trauer verstehen können. Keiner von ihnen weiß, wie wunderschön Deine Seele ist, keiner kennt den süßen Geschmack Deiner Tränen und niemand von ihnen ahnt auch nur, was es bedeutet, von Dir geliebt zu werden.

Ich versuche, das zu tun, von dem ich weiß, dass Du sie von mir erwartet hättest: Ich lebe weiter. Ich schlucke die Tränen hinunter, - meistens zumindest - und versuche, nicht darüber nachzudenken, warum Du fortgingst.

Natürlich gelingt mir das nicht, aber das weißt Du sicherlich. Ich entwerfe die unterschiedlichsten Theorien, in der Hoffnung, dass ich eines Tages das, was passiert ist, begreifen kann...

"Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben" - trifft das auch auf Dich zu? Nein, das will ich nicht glauben, würde es doch bedeuten, dass Dir all das, wofür ICH Dich liebte, zum Verhängnis geworden ist. Besser gefällt mir folgende Version:

SIE WAREN NEIDISCH! Jawohl, neidisch waren sie, in dem Glauben, solches Glück, wie Du mir schenkst, stünde nur einem Gott zu. Darum haben sie Dich mir weggenommen, allein deswegen.

Mein Engel, ich warte auf ein Zeichen von Dir, irgendetwas. Lass mich fühlen, dass Du noch bei mir bist, dass es etwas gibt, worauf ich mich freuen kann: Meinen Tod, damit ich Dich endlich wiedersehe.

In ewiger Liebe,

N.
 
G

Guest

Gast
Hallo Calistra,

ich konnte nicht aufhören, Deinen wirklich emotionsgeschwängerten Text bis zum Schluss zu lesen. Ich mag Geschichten in Briefform. Ich könnte mir vorstellen, dass über jede Deiner Lettern eine Träne geflossen ist, oder?!?
Viel zu oft erscheinen mir Geschichten zu sachlich, Deine sprengt vereiste Herzen. Deine Story sollte von vielen Leuten gelesen werden, finde ich.

SUPER!!!

LG,
GUIDO
 

herb

Mitglied
Hallo Calistra,

ein wunderschöner Brief. Ich hoffe nicht Wirklichkeit, das wäre dann sehr traurig. Ein Wort nur stört mich, "scheiße",
passt nicht in den Schreibstil. Wenn du nur geschrieben hättest sch... , mit diesen drei Punkten, wäre der Text in meinem Gefühl besser. Aber vielleicht ist das Ansichtssache.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

calistra, ich bin völlig hin und weg. stolze leistung, deine geschichte. kommt in meine sammlung, rubrik "Lupengold". ganz lieb grüßt
 

Calistra

Mitglied
Danke

an euch alle für euer Lob. Es freut mich sehr, zu lesen, dass ich vielleicht nicht umsonst hoffe, etwas, das ich geschrieben habe, veröffentlicht zu sehen!

Vielen Dank auch für die konstruktive Kritik, denn nur so kann ich mich verbessern! Sonnige Grüße, Calistra
 
A

Arno1808

Gast
Wow!

Hallo Calistra,

mir fällt spontan nur ein Wort ein: Klasse!!!

Arno
 

Zwiebelsaft

Mitglied
also einfach nur...... wow!
Du schaffst es wirklich die Seelen zu berühren. Schenk uns mehr von Deinen Wirklichkeitspausen!!!

Gruss ... Birgit
 



 
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