Capriosa, die Dame im Stall

Capriosa, die Dame im Stall. Ein Döneken aus dem Sauerland.

Damals, in den Zeiten der Bescheidenheit, hatte wohl jeder Bewohner der „Siedlung Heimkehr“ eine Ziege im Stall. In den Familien, in denen Töchter auf das heiratsfähige Alter zuwuchsen, wurden auch schon mal weitere Exemplare dieser nützlichen Spezies mit durchgefüttert, um bei späteren Verhandlungen ein überzeugendes Argument in der Hinterhand zu haben.

Wahrscheinlich hatten wir im Laufe der Jahre mehrere Ziegen, aber ich erinnere mich eigentlich nur an eine. Wir nannten sie Capriosa, und ich habe seit dieser Zeit niemals wieder ein Lebewesen gekannt, für den der Name so zutreffend gewesen wäre wie Capriosa für diese, unsere Ziege.

Kapriziös hätte ihr zweiter Vorname sein können und kapriziös war sie wirklich, von der vordersten Hornspitze bis zum letzten Haar ihres steil aufgerichteten, kurzen Stummelschwänzchens. Ja, sie war, sozusagen, eigentlich die Dame unter den Ziegen in unserer „Siedlung Heimkehr“. Dieses damenhafte Licht, das von ihr ausging, hat sie allerdings auch nie unter den Scheffel gestellt.

Dieser unserer Capriosa will ich gedenken, ohne zu verschweigen, dass sie zu bestimmten Zeiten unsere ganze Familie beherrschte und tyrannisierte. Es gab Anlässe und Begebenheiten, zu denen uns, ernsthaft, nicht ganz klar war, wer jetzt in unserem Hause das Sagen hatte: unser Vater, der Herr im Hause, oder unsere Capriosa, die Dame im Stall. Wie sich im weiteren Verlauf noch zeigen wird, war besonders die Beziehung zwischen meinem Vater und der Dame Capriosa von ganz besonderer Art. Aber wir wollen dem Ablauf der Geschichte nicht vorgreifen.

Heute, in unseren Zeiten des Überflusses, hat die Ziege von ihrer einst dominierenden Stellung empfindlich eingebüßt. Kaum mehr vorstellbar, dass die Ziege, übrigens seit Jahrtausenden, ein hoch angesehenes Mitglied der Familie war und zum Überleben der Menschheit einen Betrag geleistet hat, der nicht hoch genug einzuschätzen ist. Wer, zum Beispiel, würde heute noch, Jahr für Jahr, das dreifache seines Körpergewichts uneigennützig in Form von Milch und daraus herzustellenden Nahrungsmitteln zur Verfügung stellen? Wobei das Adjektiv „uneigennützig“ für unsere Capriosa nicht gelten kann. Sie hat uns immer unmissverständlich spüren lassen, dass es für sie nicht selbstverständlich war, ihre Nahrungs- und, ja, zum Teil, Überlebensmittel zur Verfügung zu stellen. Nein, im Grunde gab sie uns ihre Milch immer etwas „von oben herab“.

Einmal, zum Beispiel, lag unsere Mutter, was sehr selten vorkam, krank im Bett. Sie war absolut nicht in der Lage, das Melken unserer Capriosa zu übernehmen. Schlimm insofern, da sie für ihre schnellere Genesung partout einige Tröpfen der leckeren Milch von unserer Capriosa gebraucht hätte. Just an diesem Tage hatte unser Vater eine seiner eher seltenen Anwandlungen von Großzügigkeit und sprach zu ihr: „Ik gloiwe, vandage melke ik mol dai Hitte“, woraufhin er über die steile, dunkle Treppe im Keller verschwand. Wir Kinder saßen in der Küche auf unserer Holzbank hinter dem Tisch und warteten gespannt darauf, dass unser Vater mit dem Schälchen warmer, dampfender, gesunder Ziegenmilch wieder die Treppe heraufkam. Plötzlich hörten wir aus dem Keller ein großes Gepolter, einen lauten Schrei und dann den Satz unseres Vaters, gerichtet an Capriosa: „Diu dämeliches Fratzendeyer“. Was war geschehen?

Unser Vater hatte sich mutigen Schrittes in den Stall von Capriosa begeben, den Melkschemel in greifbarer Nähe zu den Eutern aufgestellt, sich darauf niedergesetzt, um Hand an den prall gefüllten Zweiteiler zu legen. Seine Hände hatten sich jedoch noch nicht ganz um das Objekt der Begierde geschlossen, als Capriosa plötzlich ihr linkes Hinterbein hob und kräftig in Richtung des ungewohnten Melkers austrat. Sie traf unseren Vater voll vor die Brust, er fiel vom Melkschemel und landete unsanft auf dem Stallboden. Als Capriosa dann auch noch siegesgewiss zu Meckern begann, konnte unser Vater die bereits zitierte Ansprache an die nicht zum Geben bereite Dame nicht mehr zurückhalten. Es bleibt nach diesem Vorfall festzuhalten, dass unsere Mutter an diesem Tage ihre Genesung ohne die leckere Ziegenmilch fortsetzen musste – und dass unser Vater nie wieder Hand an ein Ziegeneuter legte.

Wie schon erwähnt, hatte wohl jeder Bewohner unserer „Siedlung Heimkehr“ damals eine Ziege im Stall. Da die Ziege eine ziemlich lange Lebensdauer von etwa 15 Jahren hat, sehnt sie sich, um die lange Zeit zu überbrücken, nach Geselligkeit, will heißen: sie ist nicht gern allein. Auch kam es vor, dass aus Geldnot heraus die Ziege einmal den Gang durch die Mägen der hungernden Familie antreten musste, bevor sie ihr hohes Alter erreichte. Um also Möglichkeiten zur Fortpflanzung und damit zur Auffrischung des Bestandes zu schaffen, hatte sich gleich zu Beginn in unserer „Siedlung Heimkehr“ „Hoffmanns Bockstation“ etabliert.

Eigentümlicherweise hatte diese Station eine fast magische Anziehungskraft für uns Kinder. Was geschah dort hinter verschlossenen Türen und was war der Grund für die ungewöhnlichen Geräusche, die durch die Fenster drangen, an denen wir uns die Nasen platt drückten?

Wir sahen die Ziegenhalter mit ihren Ziegen die Straße herauf kommen. Fast tänzelnd näherten sich die Vierbeiner Hoffmanns Bockstation, um, unseren Blicken und Ohren entzogen, eine, wenn auch äußerst kurze, Erfahrung zu machen. Diese führte dazu, dass sie nach Verlassen von Hoffmanns Bockstation von ihren Ziegenhaltern, unter lautem Protest-Gemecker, mit roher Gewalt von dort weggezogen werden mussten. Was nun unsere Capriosa betrifft, hatte sie sich schon von früh auf zu Eigen gemacht, Hoffmanns Bockstation gelegentlich Besuche auf freiwilliger Basis abzustatten. Das wurde wegen der kurzen Entfernung – unser Haus lag praktisch direkt neben Hoffmanns Bockstation – sehr begünstigt. Capriosa kam von diesen ausgedehnten Besuchen immer sehr beschwingt und gut gelaunt zurück. Tagelang danach hatten wir viel weniger Probleme mit ihr als sonst üblich.

Das Ziegenhüten war unter uns Kindern zum einen verhasst, da wir sehr darauf achten mussten, dass sie uns nicht wegliefen. Zum anderen konnten wir, wenn wir unsere Ziegen „am langen Seil“ sicher angebunden hatten, unseren eigenen Interessen nachgehen, die natürlich wesentlich anders geartet waren, als die Interessen der Gras, Sträucher und Büsche fressenden Ziegen.

Einmal hatte sich unsere Capriosa, ohne dass ich das bemerkt hatte, von ihrem Seil befreit. Sie hatte sich ein Kleefeld von Bauer Schlothmann zum Fressen ausgesucht, der gerade dabei war, sein Feld zu eggen. Als er Capriosa bei der Vertilgung seines Kleebestandes erwischte, band er sie kurz entschlossen an seine Egge. Sie hatte dann einen äußerst mühsamen Nachmittag, da Schlotmanns Franz sie bis zum Ende seiner Eggerei nicht mehr von der Egge losband. Ich musste sie dann abends mehr oder weniger einlösen. Kaum erwähnenswert, dass ich einige Tage lang zu Hause ziemlich schlechte Karten wegen dieses Verfalls hatte.

Auch beim Ziegenhüten zeigte sich dann irgendwann eine besondere Vorliebe unserer Capriosa für den Verzehr von bedrucktem Papier. An einem schönen, sonnigen Nachmittag hatte ich mir ein Buch zum Lesen mitgenommen, mit dem Titel „In den Schnee geschrieben“ von Henry Morton Robinson. Das war natürlich das richtige Buch für einen heißen Sommernachmittag, denn es handelt davon, dass eine Familie in einem Schneesturm praktisch von der Außenwelt abgeschnitten wird.

Irgendwann im Laufe des Nachmittags legte ich das Buch beiseite, da meine Freunde mich mit einem Ball zum Fußballspielen abholten. Leider hatte ich nicht darauf geachtet, das Buch außer Reichweite von Capriosa zu deponieren, bzw. wusste ich damals ja noch nichts von ihrer Vorliebe für bedrucktes Papier. Wie auch immer, als ich vom Fußballspielen zurückkam, war Capriosa auf Seite 124 des Buches angekommen. Sie hatte auf dieser Seite ihre Mahlzeit eingestellt; wahrscheinlich lag ihr der viele Schnee zu kalt im Magen. Übrigens träume ich heute immer noch davon, einmal, versehen mit reichlichen Vorräten, einzuschneien. Zu diesem Traum und den reichlichen Vorräten gehört aber nicht gerade Ziegenmilch, Ziegenkäse oder Ziegenfleisch.

Capriosas’ Vorliebe für bedrucktes Papier sollte auch letztendlich einer der wesentlichen Gründe für ihren vorzeitigen Abschied aus dem Kreise unserer Familie sein. Aber der Reihe nach.

In jenen entbehrungsreichen Zeiten war es schon ein Glück, wenn ein Familienvater eine Arbeitsstelle hatte, die ein einigermaßen angenehmes Leben ermöglichte. Unser Vater hatte dieses Glück und war schon seit Jahren als Spritzer und Lackierer bei der Firma Klingel & Söhne („Klingel & Söhne – große Tüten, kleine Löhne“) in Lohn und Brot. Der Spruch mit den großen Tüten und kleinen Löhnen ging zurück auf die damals bei Klingel & Söhne (und sicher vielen weiteren Firmen) übliche Form der Lohnauszahlung. Diese erfolgte in einer Lohntüte, etwa 12 cm hoch und 30 cm lang. Sie war gut verschlossen und informierte handschriftlich über Anzahl der geleisteten Stunden, den Stundenlohn, die verhassten Abzüge und die zur Auszahlung kommende Endsumme. Diese Tüte enthielt dann den Lohn der Arbeit einer Woche.

Heute, in den Zeiten bargeldlosen Geldverkehrs kaum noch vorstellbar, war es damals – auch bei Lohnempfängern – eine beliebte Form der Lohnübergabe. Bei einer gut gepflegten Beziehung zum Lohnbuchhalter ergab sich so die Möglichkeit, eine kleine Summe des Lohnes, praktisch an der Tüte vorbei, unauffällig an der zu Hause auf die „Fläppen“ wartenden Finanzministerin des Haushalts vorbeizuschleusen. Manchmal ließ die Motivation zu dieser Manipulation von Seiten des Lohnbuchhalters etwas nach. Diese ließ sich jedoch in den meisten Fällen durch Mitnahme und diskrete Übergabe einer Gabe aus der Räucherkammer des Lohnempfängers auffrischen.

Nun jedoch zu dem Vorkommnis, das unserer Capriosa – nun, sagen wir es einfach frei heraus, dem Leben in unserer Mitte ein Ende setzte.
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Üblicherweise war der Samstag der Tag, an dem der Ernährer der Familie mit seiner großen Tüte nach Hause kam, um dort von der Finanzministerin des Hauses, meistens bereits an der Haustür, sehnlich erwartet zu werden. Zeitverzögerungen zwischen dem Arbeitsende und der Übergabe der Lohntüte waren äußerst schwierig zu begründen und hatten früher oft zu unangenehmen Diskussionen und Streitereien geführt. So war es eigentlich für beide Beteiligten, den Ernährer und die Finanzministerin, nur zum Besten, dass der Ernährer eine Möglichkeit gefunden hatte, mit den abgezweigten paar Groschen solche Diskussionen bereits im Vorfeld zu ersticken.

So übergab unser Vater auch an diesem Samstag seine große Tüte bereitwillig und ohne Verzögerung unserer Mutter. Diese verstaute die Tüte mit dem mühsam unter der Woche erarbeiteten Lohn in ihrer Schürzentasche und begab sich in den Stall, zum täglichen Melken unserer Capriosa. Später, nachdem sich die ganze Aufregung, nicht gelegt, aber etwas geglättet hatte, erzählte uns unsere Mutter, dass sie sich eigentlich hätte Gedanken darüber machen müssen, dass etwas bei dem Melken von Capriosa nicht so ablief, wie sonst üblich. Capriosa sei sehr willig bei der Abgabe ihrer Milch gewesen, sagte sie, und sie hätte diese Milchabgabe sogar mit kehligen Geräuschen begleitet, die man durchaus als Ausdruck tiefer Zufriedenheit hätte bezeichnen können.

Mit dieser Glückseligkeit war es jedoch in dem Augenblick vorbei, als neben dem Melkschemel, praktisch aus dem Maul von Capriosa fallend, plötzlich die kümmerlichen Reste der von unserer Mutter in der Schürzentasche deponierten Lohntüte lagen. Die Beschreibung der Tüte entsprach jetzt nicht mehr dem Slogan „Klingel & Söhne – große Tüten, kleine Löhne“ sondern eher dem Slogan „Capriosa, siehe da, kaum noch Tüte, kaum noch „Fläppen“ da.“

An diesem Samstag sagte keiner in unserem Hause: „Was für ein schöner Samstag“. Vielmehr wurde für den Abend eine Sondersitzung der gesamten Familie anberaumt. Diese dauerte fast bis in die Nacht hinein und während der ganzen Zeit kamen aus dem Stall im Keller keine Artikulationen, die einer Entschuldigung hätten gleichen können. Es wurde sehr kontrovers zwischen uns diskutiert, aber am Ende der Sondersitzung wurde eine einstimmige Entscheidung getroffen: Capriosa muss gehen!

Unser Vater übernahm den Part des Verkaufs, wobei diverse, unabdingbare Kriterien zu erfüllen waren. Erstens durfte der neue „Wohnort“ von Capriosa nicht zu nah an unserem Wohnort liegen, um zu vermeiden, dass die Ziege, vielleicht aus Heimweh, den Weg zurück in unsere „Siedlung Heimkehr“ finden konnte. Zweitens durfte der neue Ziegenhalter keinerlei Kontakt zu einem Bewohner der „Siedlung Heimkehr“ haben. Dieser hätte ihm von den Besonderheiten Capriosas erzählen können. Mein Vater hatte jedoch allen potentiellen Abnehmern, mit denen er vorher in Kotakt getreten war, mit gehobener rechter Hand geschworen, dass es sich bei Capriosa um eine ganz normale, liebe Hausziege handele, die sehr pflegeleicht sei und die sich willig und anstandslos die tägliche Milchmenge ihren Eutern entnehmen lasse. Natürlich war ein absolutes Tabu die Weitergabe des besonderen Geschmacks von Capriosa an bedrucktem Papier, in welcher Form auch immer. Letztendlich sollte es in den Verhandlungen auch um den Preis gehen, denn natürlich wollte, besonders unsere Mutter, die Finanzministerin, so viel wie eben möglich von den bedruckten Fleppen zurückbekommen, die Capriosa an jedem schicksalhaften Tag genüsslich aus ihrer Schützentasche gefressen hatte.

Um einen direkten Kontakt zwischen dem neuen Besitzer und Bewohnern unserer „Siedlung Heimkehr“ zu verhindern, band unser Vater ein letztes Mal einen Strick um den filigranen Hals von unserer Capriosa und begab sich über Land, zu den möglichen Abnehmern. Außer der Ziege nahm er auch die paar Groschen mit, die zuletzt an der Lohntüte vorbei in seiner Tasche gelandet waren. Schließlich würde sich eine bessere Gelegenheit nicht so schnell wieder ergeben, diese paar Groschen, praktisch außerhalb des Einzugsgebiets unserer „Siedlung Heimkehr“, für den dafür gedachten Zweck flüssig umzusetzen.

Unser Vater kam erst sehr spät abends von seiner Verkaufsreise zurück. Er berichtete, etwas schwankend, von den Anstrengungen des langen und mühsamen Tages und von äußerst schwierigen Verhandlungen. An deren Ende hätte sich aber, nach Annäherung von beiden Seiten, schließlich doch ein Verkaufspreis ergeben. Dieser konnte, nach kurzem Zögern, auch von unserer Mutter, unter Berücksichtigung der schwierigen Verhandlungsposition unseres Vaters, als akzeptabel betrachtet wurde.

So fand also das langjährige Zusammenleben mit unserer Hausziege „Capriosa“ doch noch, zumindest finanziell, ein gutes Ende. Bleibt noch zu sagen, dass wir nach ihr nie wieder eine Ziege in unserem Hause aufgenommen haben.

Ihr Stall wurde renoviert, dem Schweinestall einverleibt und die Anzahl der Schweine um ein weiteres Exemplar erhöht. Auch von dieser veränderten Stallsituation gäbe es Interessantes zu berichten, ab das wäre eine andere Geschichte, aus unserem Leben, damals in der „Siedlung Heimkehr“.
 



 
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