Das Erdvolk

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kaipi

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„Es gibt dort eine gleißende Scheibe, die so hell ist, dass man erblindet, wenn man zu lange hineinsieht.“
Das schlohweiße Haar der alten Maya stand wüst in alle Richtungen ab. Im Schein der Flammen konnte Yaro deutlich erkennen, dass unzählige Falten wie ein feines Netz über ihrem Gesicht lagen.
Der Junge lauschte mit offenem Mund. Maya war immer schon alt gewesen, seit er sich erinnern konnte, aber der Ton in ihrer Stimme und ihre eigene Begeisterung zogen ihn in ihren Bann, auch wenn er wusste, dass es eigentlich keine leuchtende Scheibe gab, das war Unsinn.
Er sah zu Mira, die sich neben ihm in ihre Decke geschlungen hatte, aber sie hing genauso an Mayas Worten wie der Großteil der Sippe. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass selbst die Nähe zum großen Feuer, das niemals erlosch, die Kälte nicht vertreiben konnte. Als sie Yaros Blick bemerkte, senkte sie verlegen den Kopf.
„Niemand, der die Oberwelt erlebt hat, würde sich hier wohlfühlen. Die Luft ist stickig und verbraucht.“
Maya hustete demonstrativ. Unter der Schmutzschicht, die allen Höhlenbewohnern anhaftete, war die Haut der Greisin totenbleich.
„Wer weiß, möglicherweise führt das Tor uns an die Oberfläche. Aber es ist verschlossen.“ Die Alte kicherte leise.
„Wer hat den Schlüssel? Wer hat den Schlüssel?“

Jetzt war es Mira, die den Jungen verstohlen beobachtete. Ihre langen Haare waren einmal blond gewesen. Der Staub hatte sie grau gefärbt. Es gelang ihr nicht den Dreck mit dem Wasser des unterirdischen Sees abzuwaschen, genauso wenig, wie die hauchdünne Schicht Erde, die Stirn, Wangen und Kinn des Mädchens bedeckte. In ihren großen, grünen Augen spiegelten sich die lodernden Flammen. Der Junge spürte wie seine Wangen glühten und das nicht etwa, weil er so nahe am Feuer saß.
Er nahm wahr, wie einige der Höhlenbewohner neben ihm aufstanden und ihre Decken zusammenrafften. Jemand näherte sich mit schnellen Schritten dem großen Feuer. Als der Junge die Person erkannte, zuckte er instinktiv zusammen und zog sich eilig seine eigene Decke wie eine Kapuze über den Kopf, so dass sie sein Gesicht verbarg.
Yaros Vater war das Stammesoberhaupt. Er trug einen makellos gestutzten, weißen Vollbart und war in ein mit goldenen Ornamenten verziertes Gewand gehüllt. Obwohl die Farbe bereits an einigen Stellen abzublättern begann, war seine Kleidung ungleich prunkvoller als alles, was die anderen Höhlenbewohner am Leibe trugen.
„Schweig Weib, du faselst wirres Zeug!“
Die alte Maya wich einen Schritt zurück, aber sie stemmte die Hände in die Hüften und hatte das Kinn kampfeslustig nach vorne gereckt.
„Wer hat den Schlüssel!“, keifte sie.
Als Yaros Vater seinen Stecken hob, floh sie laut zeternd in den Schutz der Schatten.
„Er ist vor langer Zeit verloren gegangen“, sagte das Stammesoberhaupt mehr zu sich selbst.

Am Grund des Schachtes flammte das ewige Feuer. Ein Pfad führte spiralförmig in die Höhe und war nur mit einer Brüstung aus morschem Wurzelholz gesichert. In unregelmäßigen Abständen zweigten Gänge ab, sie mündeten in die Behausungen der Bewohner. Unterhalb der Höhlendecke, zwischen mit Drachenstatuen verzierten Säulen befand sich ein weiterer Durchgang. Doch das eiserne Tor, das ihn versperrte, war versiegelt.


Yaro betrachtete missmutig den mickrigen, gebratenen Fisch, der ihm zugeteilt worden war. Wie sollte er davon bloß satt werden? Plötzlich durchdrang ein von Panik erfüllter Schrei die Stille. Ohne zu überlegen, stürmte er in die Richtung aus der er den Hilferuf vermutete. Dabei entfernte er sich so weit vom Feuer, dass er kaum noch den Boden vor seinen Füßen ausmachen konnte. Schon bald stolperte er über einige Steine und wäre beinahe gestürzt. Als er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, sah er in der Ferne mehrere schemenhafte Gestalten und trat vorsichtig näher.
„Gib mir deinen Fisch!“
Mira kauerte in einer Felsnische und zitterte am ganzen Körper. Vor dem Mädchen hatte sich ein kräftiger Höhlenbewohner aufgebaut, der fordernd eine Hand ausstreckte. Sein Begleiter war einen Kopf kleiner und grinste verschlagen.
„Stell dich nicht so an. Wir werden uns auch erkenntlich zeigen.“
„Geht weg!“ Miras Stimme überschlug sich.
Noch waren sie nicht auf Yaro aufmerksam geworden. Er hätte unbemerkt wieder mit den Schatten verschmelzen können, aber was würde dann aus Mira werden? Er hatte sie einfach zu gern, um sie diesen Rohlingen zu überlassen. Einen Augenblick lang verharrte er regungslos, gelähmt vor Angst. Doch er rief sich in Erinnerung wie sie ihn angesehen hatte und sofort durchströmte ein Gefühl der Wärme seinen ganzen Körper. Schließlich stellte er sich mit laut klopfendem Herzen vor das Mädchen.
„Lasst sie in Ruhe!“
Überrascht musterten die beiden Stammesmitglieder den Eindringling.
„Du hast hier nichts verloren. Gleich wirst du dir wünschen niemals geboren worden zu sein.“
Der Kräftige ballte die Hand zur Faust, aber sein Kamerad ergriff ihn am Arm.
„Er ist der Junge vom Anführer.“
Der Kräftige stieß Yaro unsanft zur Seite und er ließ vor Schreck den Fisch fallen, den er noch immer bei sich trug. Kurz darauf hatte die Finsternis Miras Peiniger verschluckt. Yaro bückte sich hastig nach dem Fisch und hob ihn auf. Verzweifelt versuchte er die feuchte Erde abzukratzen.
„Lass nur, du kannst meinen haben.“ Mira lächelte.
Yaro schüttelte den Kopf. Sie musste ebenso hungrig sein, wie er selbst.
„Dann teilen wir ihn uns.“
Mira löste behutsam das Filet von der Gräte und reichte dem Jungen einen Streifen von dem zarten, weißen Fleisch. Er griff zögernd danach und während ihre Finger sich flüchtig berührten, spürte er ein angenehmes Kribbeln auf der Haut. Als er sich neben sie auf den steinigen Boden hockte, sah Mira ihn aus großen Augen an. Schweigend verzehrten sie ihr karges Mahl.

Yaro hatte die Orientierung verloren. Er war erleichtert, als seine Begleiterin ihn mit dem ausgestreckten Arm auf ein winziges, flackerndes Etwas aufmerksam machte. Was in der Ferne den Anschein eines tanzendes Glühwürmchens erweckte, musste das große Feuer sein.
Mira griff nach seiner Hand. Zum Glück schien sie in der Dunkelheit nicht zu bemerken, wie seine Wangen rot anliefen.
Der Junge hörte Miras entsetztes Keuchen. Sie war über ein Gebilde gestolpert, dass Yaro zunächst für einen Felsen gehalten hatte. Erst auf den zweiten Blick erkannte er den abgetrennten Oberkörper des größeren der beiden Stammesmitglieder, die das Mädchen bedrängt hatten. Eine blutige Spur führte vom großen Feuer weg, tiefer in das unterirdische Gangsystem. Yaro wehte der beißende Geruch des faulenden Fleisches entgegen und er befürchtete sich übergeben zu müssen. Seine Begleiterin, die sich die Decke um Mund und Nase geschlungen hatte, zerrte an seinem Arm. Es fiel ihm nicht leicht, den Blick von dem Grauen abzuwenden und Miras Drängen nachzugeben.

Yaro beobachtete, wie die Höhlenbewohner panisch über den Platz vor dem großen Feuer hetzten. In ihren Gesichtern las er Todesangst.
„Ich muss meine Eltern suchen.“
Nur schweren Herzens lockerte der Junge den Griff, so dass Mira ihre Hand daraus lösen konnte. Bereits im nächsten Moment hatte er das Mädchen in dem Chaos aus umhereilenden Stammesmitgliedern aus den Augen verloren. Ein Gefühl der Leere ergriff von ihm Besitz. Würde er sie noch einmal wiedersehen?
„Wir sind dem Untergang geweiht. Er wird uns alle verschlingen.“ Die alte Maya raufte sich die Haare. Ihre Augen waren derart verdreht, dass nur noch das Weiße zu erkennen war.
‚Wer ist er?’, dachte Yaro verwirrt. Er blickte sich suchend um und im nächsten Moment kannte er die Antwort. Ein abscheuliches Wesen kroch auf den Grund des Schachtes zu. Sein äußeres Erscheinungsbild war das einer gigantischen, dickfleischigen Made und an seinem von messerscharfen Zähnen gesäumten Schlund klebte verkrustetes Blut. Ohne Zweifel hatte dieses Ungetüm den Höhlenbewohner in Stücke gerissen, dessen Überreste sie gefunden hatten.
Die Riesenmade hatte das große Feuer beinahe erreicht. Yaro hastete zum Pfad. Er wusste, dass der Durchgang unterhalb der Höhlendecke versperrt war, aber der monströse Wurm ließ ihm keine Wahl. Er schnitt ihm den Weg zu den Gängen ab, die tiefer unter die Erde und zum unterirdischen See führten. Der Junge hatte den Eindruck, dass das Ungetüm ihn aus seinen pechschwarzen Augenpaaren geradewegs anstarrte, während es sich stoßweise auf ihn zu bewegte. Yaro blickte sich nicht noch einmal um. So schnell er konnte, lief er den Pfad entlang, der sich vor ihm in die Höhe schraubte. Er wollte nicht zulassen, dass die Angst vor dem, was der Wurm mit ihm anstellen mochte, ihn lähmte. Wie lange er noch durchhalten konnte, bis er vor Erschöpfung zusammenbrechen würde, wusste er nicht. Gleichwohl war er fest entschlossen bis zum letzen Atemzug zu kämpfen.
Eine gewaltige Erschütterung fegte Yaro fast von den Beinen. Einige Abschnitte des hölzernen Geländers neben dem Jungen brachen heraus und stürzten in die Tiefe. Just in diesem Augenblick hatten sich weitere Würmer durch die Wand des Schachtes gefressen. ‚Dies ist das Ende’, dachte er. Seine Energiereserven waren nahezu erschöpft, doch er zwang sich dazu, immer wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen und diese Standhaftigkeit war es, die ihn vor dem sicheren Tod bewahrte. Denn direkt hinter dem Jungen zerfiel die feste Erde, die er soeben noch mit seinen bloßen Sohlen berührt hatte, zu Staub und kleinen Steinen. Der Pfad war nun unpassierbar. Das bedeutete, dass der gigantische Wurm ihm zumindest nicht mehr so leicht folgen konnte. Nur noch wenige Meter trennten Yaro noch von dem im Fackelschein metallisch glänzenden Tor, dass seit Äonen verschlossen war. Wegen des Erdbebens, das der Wurmangriff verursachte, hatten sich mehre Fackeln aus ihren Verankerungen an der Außenwand des Schachtes gelöst und waren erloschen. Alles, was sich nicht unmittelbar vor dem großen Tor befand, versank in völliger Finsternis. Deshalb hätte der Junge die schattenhafte Gestalt beinahe übersehen, die an der Höhlenwand lehnte. Ihr linkes Bein war widernatürlich verdreht. Als Yaro vor ihr in die Hocke ging, erkannte er seinen Vater.

„Ich bin erfreut darüber, dich noch ein letztes Mal zu sehen.“ Die Stimme des Stammesoberhauptes hatte all ihre Kraft verloren.
„Wie konnte das nur passieren, Vater?“
„Sie waren die ganze Zeit über da. Es spielt jetzt keine Rolle mehr. Das Schicksal unseres Volkes neigt sich dem Ende zu und ich habe nur noch eine einzige Aufgabe zu erfüllen.“
Mit zitternden Fingern nahm Yaros Vater die Kette ab, die er unter seinem Gewand getragen hatte. An dem Schmuckstück war ein glänzender Gegenstand festgemacht. Der Junge keuchte vor Überraschung auf. Hatte sein Vater nicht behauptet, der Schlüssel sei verloren gegangen?
„Es gibt keine Welt an der Oberfläche, mein Sohn. Aber was auch immer du hinter dem Tor vorfinden magst, ist gewiss besser als der sichere Tod.“
Zögernd nahm Yaro die Halskette entgegen, die ihm das Stammesoberhaupt reichte.
„Du wirst doch mit mir kommen?“
Er war nicht gewillt, seinen Vater den grausamen Bestien zu überlassen, auch wenn er ihm in der Vergangenheit oft zugesetzt hatte.
Das Stammesoberhaupt schüttelte müde den Kopf.
„Ich bin ein nur alter Mann, der vor dir im Staube liegt. Mit diesem Bein werde ich nirgendwo mehr hingehen.“
Der Junge verspürte den Drang, ihm zu widersprechen.
„Trauere nicht um mich, du Narr. Sieh zu, das du deine eigene Haut rettest.“
Yaro wandte sich hastig ab, er wollte nicht, dass sein Vater die Tränen in seinen Augenwinkeln bemerkte.

Im flackernden Schein der Fackeln, erweckten die steinernen Drachen auf den Säulen den Eindruck, sie wären lebendig und im Begriff, sich aus ihrer Verankerung zu befreien und davonzufliegen. Yaro gelang es nicht die goldenen, aus geschwungenen Linien bestehenden Symbole auf dem Portal zu entziffern. Es war auch nicht wichtig, was die Inschrift besagte. In wenigen Augenblicken würde der Junge ohnehin wissen wohin das Tor ihn führen würde.
Noch immer verursachten die Würmer einen ohrenbetäubenden Lärm im Schacht. Yaro musste sich beeilen, wenn er verhindern wollte, das die Höhlendecke über ihm zusammenbrach und ihn unter sich begrub. Er drehte den Schlüssel im Schloss und stieß das Tor ohne große Mühe auf. Dahinter lag ein Gang der in sanfter Neigung aufwärts führte. Bevor er daran denken konnte, seine Flucht fortzusetzen, spürte der Junge eine Hand auf der Schulter und erschrak.
„Du hast das Tor geöffnet.“
Eine Woge der Erleichterung überwältigte ihn. Solange er Mira in seiner Nähe wusste, war die Beklommenheit in seinem Herzen wie ausgelöscht. Aber die Augen des Mädchens waren rot und geschwollen. Yaro verzichtete darauf, sie danach zu fragen, was mit ihren Eltern geschehen war.
„Vielleicht sind die Geschichten der alten Maya über eine Welt an der Oberfläche doch wahr.“
Der Junge zuckte mit den Schultern.
„Wie können wir denn von etwas reden, dass es nicht gibt?“
„Wir werden es bald herausfinden.“
Nachdem Yaro ihre Hand ergriffen hatte, machten sie sich gemeinsam an den Aufstieg.

Sie kamen in eine geräumige Höhle. Wie über dem unterirdischen See, hingen auch hier fluoreszierende Kristalle an der Decke, die es Yaro und seiner Begleiterin ermöglichten ohne weitere Lichtquelle die Umrisse in ihrer Umgebung zu erkennen. Einer von ihnen hatte die Form einer Sichel.
„Was ist das nur für ein seltsamer Ort? Hier wachsen die Wurzeln aus der Erde heraus.“
„Mein Vater hat sich doch nicht geirrt. Wir werden niemals einen Weg aus den Höhlen herausfinden.“
Mira schwieg. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken und lehnte sich an eine der breiten und kräftigen Wurzeln. Yaro setzte sich neben sie. Der Untergrund war viel weicher als die steinige Erde im großen Schacht. In diesem Augenblick flatterte eine Fledermaus über ihre Köpfe hinweg und stieß fremdartige, krächzende Laute aus. Ängstlich schmiegte sich Mira an den Körper des Jungen und er legte einen Arm um sie.
„Das ist unser Ende“, stellte sie bekümmert fest.
Sie ahnten nicht, dass in wenigen Stunden die Sonne aufgehen würde.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

endzeitstory. da brauch ich ja wohl nicht nach ner fortsetzung zu fragen, so sehr mich auch das weitere schicksal der jugendlichen interessiert.
lg
 

kaipi

Mitglied
Hallo Flammarion,

eine Fortsetzung ist nicht geplant, aber möglicherweise überarbeite ich das Ende der Geschichte noch einmal.

Danke fürs Lesen.

Gruß kaipi
 

agilo

Mitglied
Spannende Geschichte, v.a. der offene Schluss gefällt mir, könnte man auch einen ganzen Roman daraus machen,
agilo
 

steyrer

Mitglied
Dir ist da eine sehr berührende Geschichte gelungen. Vor allem der Schluss gefällt mir. Gratulation.

Zum meckern gibt es nur wenig: Warum lässt sich das versiegelte Tor weder aufbrechen, noch mit einem Nachschlüssel oder Dietrich öffnen? Ist das Siegel mit einem magischen Bann belegt? Das geht aus der Story nicht klar hervor. Eine Unsauberkeit am Schluss: Du übernimmst als Erzähler die Sichtweise der beiden Flüchtlinge und beschreibst die Außenwelt als neue Höhle. Tatsächlich wissen Du und der Leser aber natürlich mehr.

Schöne Grüße
steyrer
 



 
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