Das Fenster zum Hof

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Silke_Honert

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Das Fenster zum Hof

Er hatte das Bild zuerst im Trödelladen an der Ecke gesehen. Immer wenn er bei seinem täglichen Spaziergang am Laden vorbeigekommen war, hatte er innegehalten, um fasziniert den wunderbaren Ausblick zu genießen, den das gemalte Fenster auf den gemalten Hof bot. Natürlich hatte er das Bild nicht gekauft– wie hätte er so etwas Wunderbares auch in seiner düsteren Wohnung aufhängen können? Doch wie bitter war die Enttäuschung für ihn gewesen, als das Gemälde plötzlich verschwunden war. Verkauft an einen anderen, der von nun an die traumhafte Aussicht genießen würde. Doch nichts geht für immer verloren und als das Bild ein halbes Jahr später im Antiquariat, in dem er ab und zu nach neuem Lesestoff stöberte, wieder auftauchte, hatte er es spontan gekauft. Der neue Verkäufer hatte ihn mit seinen kohlschwarzen Augen intensiv angesehen und ihn gefragt, ob er sicher sei, dass er unbedingt dieses Bild kaufen wolle. Der merkwürdige, stechende Blick des Mannes war ihm unangenehm gewesen, doch jetzt hing das Fenster zum Hof in seinem Wohnzimmer an der Wand und ersetzte ihm das echte Fenster, mit dem Blick auf den schäbigen Hinterhof.

Er hatte nicht lange gebraucht, um herauszufinden, dass das Gemälde in jeder Hinsicht etwas Besonderes war. Vielleicht brauchte es erst einen alten Mann wie ihn, der stundenlang die schöne Aussicht bewunderte, um sein Geheimnis zu offenbaren. Jeden Tag veränderte sich die Sicht auf den Hof. Zuerst hatte man im linken Bildausschnitt den Springbrunnen mit den tanzenden Elfen gesehen und rechterhand die Bank aus silbrig schimmerndem Marmor, umgeben von einer Wolke aus herrlich blühenden Pflanzen in Farben, die er so nie zuvor gesehen hatte. Doch mittlerweile hatte das Bild den Blick auf einen verzauberten Garten preisgegeben, in dem ein Bach floss und Kolibris durch die Luft tanzten. Und auch die Traumwelt selbst veränderte sich. Blumen blühten auf und verblühten wieder um von anderen ihrer Art ersetzt zu werden. Wolken zogen über den azurblauen Himmel und mit ihnen phantastische Vögel, die seine Vorstellungskraft bei Weitem übertrafen.

Einem jüngeren Mann wären die Vorgänge im Bild vielleicht unheimlich vorgekommen, doch wenn man erst ein bestimmtes Alter erreicht hatte, hörte man auf sich zu wundern und lernte, dankbar für die Magie des Lebens zu sein. Natürlich machte er immer noch jeden Tag seinem gewohnten Spaziergang durch die Stadt, traf sich hin und wieder zum Boule spielen mit einigen Bekannten im Park und suchte im Antiquariat nach neuen Geschichten, doch das Bedürfnis seiner Wohnung zu entkommen, hatte nachgelassen, zumal es für ihn immer beschwerlicher wurde, am Leben außerhalb seiner vier Wände teilzunehmen. Manchmal beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Wenn im Park aus dem lauen Lüftchen plötzlich ein eisiger Wind zu werden schien, der ihm in die Knochen fuhr und ihm eine Botschaft übermittelte, die er nicht entschlüsseln konnte. Wenn er plötzlich aus den Augenwinkeln eine dunkle Gestalt wahrzunehmen glaubte, die sich ihm einfach nicht zeigen wollte. Dann glaubte er zu spüren, dass etwas Unausweichliches auf ihn zukam und empfand Angst.

Nicht jedoch, wenn er die Aussicht aus dem Fenster zum Hof, der jetzt ein Garten geworden war, genoss. Er war nicht überrascht, als er plötzlich auch Geräusche aus dem Bild wahrnehmen konnte. Und was waren das für Geräusche! Das lustige Plätschern des Baches, der phantastische Gesang der Vögel und der Wind, der über diesen wunderbaren Ort strich. Neuerdings bewegte sich, Tag für Tag ein bisschen mehr, ein herrlicher türkisfarbener See in den Bildausschnitt. Auf diesem See, der von riesigen alten Weiden umgeben war, konnte er ein Boot ausmachen, in dem eine einzelne Person saß. Er konnte nicht erkennen, ob sie vielleicht angelte, oder sich einfach nur ausruhte, doch er zweifelte nicht daran, dass er es erfahren würde.

So traumhaft das Gemälde war, so wenig verwunderlich war es, dass er sich sehnsüchtig zu wünschen begann, auch ein Teil dieses Bildes zu werden, einfach die Hand auszustrecken, in die Farben einzutauchen und die Welt, die ihm schon lange nichts mehr bedeutete gegen die einzutauschen, die sich innerhalb des Bilderrahmens befand. Wenn er vorsichtig die Leinwand berührte, überkam ihn ein merkwürdiger Schwindel und er war sich sicher, dass seine Finger tatsächlich ein wenig im Bild verschwanden.

Manchmal warf er dann einen langen, traurigen Blick auf die Photos, die auf dem alten Eichenschrank standen und die geliebte Menschen zeigten, die lange nicht mehr lebten, und auf denen glückliche Augenblicke aus längst vergangenen Zeiten eingefangen waren. Dann wünschte er sich, dass diese Bilder genauso lebendig wären, wie das Gemälde. Schließlich bemühte er sich, die Photos nicht mehr anzusehen, da er in diesen Momenten häufig das unheimliche Gefühl hatte, dass ihm jemand über die Schulter sah und er zu spüren meinte, dass ein kalter Hauch über seine Haut strich.

Stattdessen konzentrierte er sich lieber auf das Gemälde, so als könne seine Vorstellungskraft bewirken, dass sich die Szenerie schneller veränderte. Nach einigen Tagen, war der See bereits so nahe, dass er die wilden Schwäne darauf erkennen konnte. Auch das Boot war näher herangekommen, doch er konnte die Person darin immer noch nicht erkennen. Dennoch kam sie ihm merkwürdig vertraut vor. Am darauf folgenden Tag machte er seinen letzten Spaziergang. Im Park, der immer sein Lieblingsort gewesen war, kamen ihm alle Farben trübe vor, die Stimmen der Menschen zu schrill und obwohl es fast schon zu warm war, fror er erbärmlich. Es machte ihm nichts aus, seine Wohnung so gut wie nicht mehr zu verlassen. Er hatte ja das Bild.

Dann kam der Tag, an dem er die Person im Boot erkennen konnte. Lautlos weinend stand er vor dem Gemälde und konnte vor lauter Tränen das Gesicht seiner geliebten Frau kaum erkennen. Doch das machte nichts, hatten sich ihre Züge doch schon vor langer Zeit für immer tief in seine Erinnerung eingegraben. Sie trug das weiße Kleid, das er immer so an ihr gemocht hatte und den alten zerfransten Strohhut. Selbst die rötlichen Locken, die vorwitzig unter dem Hut hervorlugten, waren genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Er war froh, dass sie an so einem schönen Ort war und bedauerte mehr denn je, ihr nicht in das Bild folgen zu können. Er ließ das magische Bild jetzt kaum noch aus den Augen, konnte sich nicht satt sehen. Wenn er ganz nahe davor stand, spürte er einen sanften, warmen Wind, der ihm über das Gesicht strich.

Wie an jedem Tag, genoss er auch am nächsten Morgen den wunderbaren Ausblick auf den See und wieder glaubte er wahrzunehmen, dass er nicht allein war und er schlang die Arme um seinen dünnen Oberkörper um die Kälte zu vertreiben. Plötzlich bemerkte er Bewegungen am gegenüber liegenden Ufer des Sees. Dort waren Menschen, die ihm zuwinkten! Er ließ seine Augen zwischen diesen Menschen und der zierlichen Frau im Boot hin und herwandern und plötzlich kannte er die Antwort auf die Frage, die er im Geiste schon lange formuliert hatte, ohne es sich einzugestehen.

Er wusste jetzt, wer die Menschen am anderen Ufer waren. So wie er wusste, wer die Person war, die sich seit geraumer Zeit in seiner Nähe aufhielt und ihm über die Schulter schaute, die ihm jetzt jedoch keine Angst mehr machte. Er drehte sich nicht um. Stattdessen streckte er ein letztes Mal die Hand aus, um das Bild zu berühren und diesmal spürte er keinen Widerstand.

„Schmitz & Törz – Haushaltsauflösungen und Entrümpelungen“ stand auf dem schmutzigen, weißen Lieferwagen in der Hofeinfahrt. Mehrere Männer trugen den gesamten Hausrat aus einer der Wohnungen im vierten Stock, in der kürzlich ein alter Herr verstorben war, von dem die meisten Mieter nicht einmal den Namen gekannt hatten. Schon merkwürdig, woran alte Leute so hängen, dachte eine Frau die am Fenster ihrer Wohnung im Erdgeschoss stand und das hässliche, verblichene Bild betrachtete, das ein Fenster mit Blick auf einen schmutzig-grauen See zeigte, und das zur Verladung an den Lieferwagen gelehnt stand. Noch merkwürdiger war allerdings der junge Mann mit den Kohleaugen und dem traurigen Lächeln, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war und darum bat, das Bild mitnehmen zu dürfen.
 
Ich bin von dieser Geschichte sehr angetan, denn sie hat "etwas" von Hans-Christian Andersen...(z.B. "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern")
Sensibel in der Wortwahl, nirgends zu dick aufgetragen und mit dem gelungenen Hauch des Magischen, weil sie zwei Erklärungen offenhält: (1) Es gibt diesen Mann mit den Kohleaugen wirklich/ (2) Der Protagonist erlebt, ohne es zu bemerken, die häufige Alterkrankheit der Dehydration, welche in Halluzinationen (im Text zuerst optischen, dann auch akustischen) und einem schnellen Tod endet.

Ich würde mich auf weitere Texte dieser Art freuen.

(Frage: Gibt es den Titel "Das Fenster zum Hof" nicht bereits?)
 
P

Parsifal

Gast
Hallo Silke,

großartig - solche Geschichten möchte ich öfter lesen!
Genau wie Waldemar habe ich zuerst an Andersen gedacht, aber nicht an das Mädchen mit den Schwefelhölzern, sondern an "Ole Luk-Oie", der den kleinen Hjalmar in ein Bild hineinführt und ihn wundersame Geschichten erleben läßt.

Danke!
Parsifal
 



 
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