Das Glück der Anderen

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ebbajones

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Das Glück der Anderen


„Sie haben wirklich Glück gehabt!“
Fast bewundernd, so als ob sie diese Leistung mit Absicht vollbracht hätte, betrachtete der Arzt ihre Röntgenbilder.
Ein sehr attraktiver Mann, groß, schlank mit intelligentem Gesichtsausdruck.
Als er sich ihr zu wandte war sein Blick konzentriert.
„Ich möchte jetzt, dass sie mit den Augen meinem Finger folgen!“
Schweigend folgte Sofia seiner Anweisung.
Was erwartete er eigentlich?
Etwa einen Freudentanz?
Schlecht zu verwirklichen mit einem doppelten Schienbeinbruch und
zwei angebrochenen Rippen.
Durch die halb geöffnete Schiebetür der Notfallambulanz drang das unterdrückte Lachen der drei Intensivschwestern, die sich bei einer Tasse Kaffee leise unterhielten.
Es schien eine ruhige Nacht zu sein.
Als der Arzt zum dritten Male ungläubig ihre Röntgenbilder betrachtete, schloss Sofia erschöpft die Augen.
Es war eine Wohltat endlich dem grellen Licht zu entfliehen.
Allem zu entfliehen war das eigentliche Ziel dieser Nacht gewesen.
„Es ist wirklich ein Wunder, dass sie noch am Leben sind!“
Wie durch einen dichten Nebel drang seine Stimme zu ihr.
„Wir werden sie Glückskind aber zur Sicherheit noch etwas dabehalten!
Gibt es jemanden den wir benachrichtigen sollten?“
Er schien wirklich nicht ausgelastet in dieser Nacht.
Sofia versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen, den Schlaf vorzutäuschen, der sich trotz der verabreichten Schmerz und Beruhigungsmittel einfach nicht einstellen wollte. Im Gegenteil, sie war hellwach, registrierte jedes Geräusch.
Leichte Schritte näherten sich dem Untersuchungstisch.
Eine kühlende Hand, begleitet von einem leichten Maiglöckchenduft
legte sich sanft auf ihre Stirn. Ein angenehmes, ungewohntes Gefühl.
Schon lange war sie nicht mehr so zärtlich berührt worden.
„ Sie ist endlich eingeschlafen.
Keiner der Ersthelfer kann es fassen, dass sie nicht schwerer verletzt ist.
Die Feuerwehr musste sie aus dem Jaguar schweißen.
Der Wagen war anscheinend regelrecht um einen Baum gewickelt.
Sogar der Notarzt hat gerade noch einmal telefonisch nachgefragt.“
Eine melodische Stimme, passte perfekt zum Maiglöckchenduft.
„Hast du wieder mit ihm geflirtet?“
Beinahe hätte Sofia vor Schreck die Augen aufgerissen.
Zu oft war ihr dieselbe Frage gestellt worden.

Aber diese Stimme klang vollkommen entspannt.
Kein Hauch von unterdrückter Aggression lag in der Luft und er schien nicht wirklich eine Antwort zu erwarten.
Also stellte Sofia sich weiter schlafend. Routinierte Hände breiteten eine wärmende Decke der Geborgenheit über ihren leicht fröstelnden Körper.
„Mein Gott, schaue dir diesen Schmuck an, wir müssen ihn für sie aufbewahren, bevor ich sie auf die Station bringe! Der liegt ihr bestimmt am Herzen!“
Nur die gebrochenen Rippen hinderten Sofia daran laut zu Lachen über die weibliche Fehleinschätzung dieser Attribute eines schlechten Gewissens.
Glück war nicht käuflich.
Eine harte Lektion, die sie in ihrem exklusiven Leben schnell gelernt hatte.
„Sie scheint in der Tat ein richtiges Sonntagskind zu sein,
so etwas werde ich dir nie schenken können!“
Seine Worte klangen ehrlich bedrückt.
Als es ganz still wurde im Raum, wagte Sofia vorsichtig zu blinzeln.
Eng umschlungen standen sie direkt neben ihr.
Sie ging auf die Zehenspitzen, flüsterte ihm leise etwas ins Ohr.
Er schob sie zärtlich ein wenig von sich und flüsterte mit einem Lächeln zurück:
„Na warte, bis wir wieder zu Hause sind!“
Sofia widerstand der Versuchung die Hand auszustrecken.
Zu oft hatte sie es schon vergeblich versucht, aber Glück war nicht greifbar.
Mit einem leisen Stöhnen schloss sie wieder die Augen.
Ständig schien das Glück sie zu verspotten, selbst hier in diesem kalten sterilen Raum.
Ein Gespenst dem sie ihr ganzes bisheriges Leben vergeblich hinterher gejagt war. Ausgerechnet in dieser Nacht sollte es nun neben ihr auf dem Beifahrersitz gesessen haben. Wie von Furien gehetzt war sie von ihrer eigenen Wohltätigkeitsveranstaltung davon gelaufen. Ein erfolgreicher Abend, wieder einmal waren unglaubliche Summen gespendet worden. Irgendwann hatte Sofia es nicht mehr ausgehalten.
Das Strahlen in den Augen aller Beteiligten, diese Attacke geballter Seligkeit.
Ihre eigene Ernüchterung bei der Erkenntnis, dass Glück auch nicht bestechlich war.
Es schien eine Maßanfertigung, nicht verfügbar in ihrer Größe.
Sofia wusste, dass sie es wieder tun würde.
Weil sie es nicht mehr ertragen konnte.
Das Glück der Anderen.
 

Rafi

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Auf kleinliche Fehlersuche will ich mich hier gar nicht begeben … aber zum Text etwas sagen. Er hat mich nicht befriedigt, weil ich die Situation (Knochenbrüche, Prellungen, Schürfwunden, wie bei einem solchen Unfall zu erwarten) und die darauf folgenden Reaktionen nicht wirklich nachempfinden kann. Diese befremdende „Bewunderung“ des Arztes, die zärtlichen Empfindungen der Verletzten der Schwester gegenüber bleiben meiner Meinung nach kalt und seelenlos im Raum hängen. Da packt mich nichts Emotionales, auf das ich doch beim Lesen die ganze Zeit gewartet habe, das mir die Worte und Sätze in sich auch versprechen. Die „Schreibe“ ist eigentlich gut, aber scheint sie mir eher aus dem Kopf denn aus dem Bauch zu kommen. Wer ist diese Frau, wie kam der Unfall zustande, wer sind Arzt und Schwester? Gefallen würde mir mehr Angst (ich bin verletzt, weiß nicht, welche Folgen das hat!), mehr Schmerz (Knochen sind gebrochen!), mehr Hilflosigkeit. Durch den vorgetäuschten Schlaf wirkt die Protagonistin auf mich kühl und abgeklärt. Hier böten sich meines Erachtens klarere, direkte Vergleiche (vielleicht auch Neid o.ä.) zwischen ihrem Leben und dem Unfall und dem Verhalten der Mediziner an.
Von der Idee her – wie gesagt – finde ich die Gechichte nicht schlecht, sie müsste aber vielleicht noch ein wenig ausgebaut werden, da könte man sicher hier und da noch ein bisschen feilen.
 



 
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