Das Kind, das nicht weinen konnte.

pleistoneun

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Das Kind stand nur da und weinte wieder seine trockenen Tränen, während es aus dem Fenster dieses abgelegenen Hauses am Rande einer kleinen Waldlichtung schaute. Es stand da mit den Händen in den Taschen vergraben, und dem ausdruckslosen Gesicht eines Kindes, dessen Mutter nun schon den vierten Tag ausblieb. Zurückgelassen als Kind, als schutzsuchendes, kleines Kind, das noch nie lachen konnte, weil niemand da war, der ihn hätte jemals zum Lachen bringen können. Es war einsam und litt an der Empfindungslosigkeit und Gefühlsleere seiner Mitmenschen. Nur der gequälte Blick zeugte vom inneren Schmerz und einer großen Sehnsucht, die zu erfüllen nur seine Mutter imstande gewesen wäre.
Das Kind senkte seinen Blick, als es vom Tod seiner Mutter erfuhr, vergrub wieder seine Hände in den Taschen und setzte sich geschwächt. Seine Mutter war unterwegs in die Stadt zu einem Arzt verunglückt, der sich hätte um das teilnahmslose Kind kümmern sollen. Was die Mutter aber nicht wusste, war, dass dieses Kind nur die Zuwendung seiner Mutter ersehnte, nur ganz kurz, einmal am Tag vielleicht, ohne großen Anspruch, nur damit es bei einer mütterlichen Umarmung sein Herz wieder schlagen hören konnte und die Hände sich langsam entkrampften und die Ohren wieder hellhörig wurden und die Augen wieder wahrnahmen und es endlich wieder verstehen konnte, warum es auf der Welt war. Doch dieser Moment wurde ihm nie zuteil. Seine Quelle, aus der er schöpfen wollte, war versiegt und mit ihr der Wunsch, Lebensfreude daraus trinken. Niemals mehr in seinem Leben würde es wohl einen Menschen geben, der ihm den vergeblichen Wunsch nach Zuneigung und Herzenswärme zurückgeben kann.

Als 78-jähriger, alter Mann beschloss er, in eine Zeitung mit folgendem Gedicht zu inserieren:

"Mein Leben ist für mich bereit,
diese schreiend leere Einsamkeit
und diesen stummen Tränendrang,
der mich so sehr zum Weinen zwang,
von mir zu nehmen, das Quälen beenden
so sollte ich hier nicht verenden,
nicht sterben, ohne mich gefragt zu haben,
ob ungeweinte Tränen sind wie Narben,
wie Schmerz, wie Gram und Leid,
wie abgetötete Lebendigkeit.
So verblasst mit jedem Tag die Hoffnung dann,
wenn das Weinen selbst nicht weinen kann."


Knapp vier Wochen darauf meldete sich ein sechsjähriges Mädchen, deren Mutter plötzlich verstorben war und sie ebenfalls die ungeweinten Tränen nicht mehr weinen ließ.

Das kleine Mädchen stand stumm mit seinen kleinen Händchen in ihren Taschen vergraben vor dem alten Mann, vor seinem armseligen, alten Haus, unter einem großen Baum, der beschützend den Schatten der Vergangenheit auf die beiden warf. Ihre Blicke, die sie tauschten, waren nicht einfach nur Blicke. Sie zeichneten damit ihre Geschichte in das Herz des anderen und je länger sie sich ansahen, desto deutlicher trat das Bildnis ihrer großen Mutlosigkeit und der noch größeren Angst vor den strengen Augen der Welt, die Kummer zu Starrsinn und Seelenlast zu Eigensinn machten. Und zum ersten Mal erfuhren die beiden jenen Beifall und Herzenswärme, um die sie bei ihren Müttern so gefleht hatten. Zur Begrüßung nahm der alte Mann seine Hand aus der Hosentasche, und in diesem Moment bemerkte er, dass eine dicke Träne an seiner Nase entlang lief. Seine versteinerten Gesichtszüge veränderten sich zu einem herzlichen Lachen, einem Lachen, dass die Welt schaudern ließ und ihm alle Güte und alle Zuneigung aller Menschen zusammen spüren ließ. "Du kannst deine Hände jetzt aus deinen Taschen nehmen", sagte er zu dem Mädchen, als sie ins Haus gingen.
 



 
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