Das Krokodil

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galaxykarl

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Das Krokodil

…17


Das Vieh war mindestens sechs Meter lang und sonnte sich am gegenüberliegenden Ufer des kleinen Sees. Sie beobachtete es, seit sie aus der Ohnmacht erwacht war, was nach ihrer groben Schätzung vielleicht zweieinhalb oder drei Stunden her sein musste. Ihre Zunge fühlte sich trocken und geschwollen an und sie litt fürchterlichen Durst. Der Durst war aber nicht der Punkt, der ihre Hoffnungslosigkeit nährte, sondern ein seltsames Gefühl der Vertrautheit. Alles um sie herum schien ihr irgendwie bekannt, ja sogar gewohnt. Sie versuchte den Kopf zu schütteln, was ihr aber ihre verspannten Hals- und Nackenmuskeln mit einem unangenehmen Krampf quittierten. Wieder - wieder? - stellte sie ernüchtert fest, dass sie ihre Fesseln nicht ohne Hilfe würde lösen können.

Als das Krokodil sich regte, wusste sie es einen Bruchteil einer Sekunde schon vorher.

Mit Entsetzen sah sie hilflos zu, wie sich das Tier gemächlich ein wenig zur Seite drehte und ihr nun direkt in die Augen sah. Fast eine Viertelstunde blickten sie sich gegenseitig an, das Tier mit kaltem, gefühllosem Ausdruck, die Frau mit immer heftiger werdendem Atem. Schließlich bewegte die Echse langsam seinen riesigen gepanzerten Körper und schob sich - fast ohne ein Geräusch zu erzeugen - in das brackig aussehende Wasser. Die Frau wusste nun, was folgen würde. Das Tier würde zwei, vielleicht drei Minuten brauchen, um den See zu durchqueren. In diesen Minuten würde sie um Hilfe schreien und niemand würde kommen, um sie zu retten. Mit panischer Angst und gleichzeitigen, völlig nüchternem Erstaunen darüber, dass sie bereits jede Bewegung, jedes noch so kleine Geräusch und vor allem ihre eigenen Reaktionen auf das Unvermeidliche wusste, beobachtete sie die Bestie, die nun langsam an ihr Ufer kroch. Einen Moment schien das Krokodil unschlüssig darüber, ob ihm von seiner Beute vielleicht doch eine bisher unentdeckte Gefahr drohte, dann aber schoss es auf einmal blitzschnell nach vorn und schnappte das linke Bein der blonden Frau. In der Sekunde des größten Schmerzes, als das Bein in einer wilden, drehenden Bewegung vom Körper gerissen wurde, fiel ihr der eigene Name ein. Terence, von allen nur kurz Terry genannt.

Wer waren alle? Wo sind sie? Warum kommt niemand und knallt das Mistvieh über den Haufen?

Der Schock ihrer Verletzung raubte ihr für einige Sekunden den Atem. Sie war schweißgebadet und überall mit ihrem eigenen Blut besprenkelt. Das Krokodil warf seinen Rachen nach hinten und deutlich knackten die Knochen ihres abgetrennten Beines in seinem Schlund. Mit ruckartigen Bewegungen verschlang es das Bein und schluckte hörbar. Dem Herzstillstand nahe, betete Terry, die Bewusstlosigkeit aufgrund des enormen Blutverlustes möge diesmal schneller kommen als das Tier, das zum tödlichen Biss ansetzte. Woher wusste sie, dass der nächste Angriff sie töten würde? Wieso rechnete sie mit der Chance, dieses Mal vor dem Biss wegzutreten? Mit diesem Gedanken wurde es schwarz vor ihren Augen. Vor dem Biss.

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Die Sonne brannte heiß auf die gefesselte Blondine am Strand des kleinen Gewässers. Sie erwachte und versuchte angestrengt ihre dicke Zunge vom Gaumen zu lösen, damit sie sich die Lippen lecken konnte. Nach einiger Anstrengung schaffte sie es, aber von Lecken konnte nicht die Rede sein. Zu trocken war ihr Mund. Sie blinzelte ins Licht und versuchte sich zu orientieren. Da lag der See mit seinem völlig unbewegten Wasser, auf dem viele Insekten tanzten. Sie hatte die Augen noch nicht an das blendend helle Sonnenlicht angepasst, als sie schon wusste, was sie am gegenüberliegenden Ufer entdecken würde. Sie schloss schnell wieder ihre Augen, um vielleicht so den Dingen eine andere Wendung geben zu können. Wieso denke ich - und dabei dachte sie bewusst von sich als Terry -, dass sich die Dinge ändern könnten? Mit geschlossenen Augen dachte sie über das Krokodil nach.

Es wird über den See schwimmen, einen Moment warten und mich dann fressen.

Die Angst ließ sie die Augen aufreißen, in der wilden Hoffnung, dass sie alles nur träumte. Nein. Da war das grünbraune Miststück und aalte sich in der Sonne. Döste vor sich hin und schien ebenfalls zu wissen, dass nach seinem Schlaf eine leichte Beute auf es wartete. Während sie heftig und mit plötzlich hervor schießenden Tränen an ihren Fesseln zerrte, arbeitete ihr Verstand und kämpfte mit der Tatsache, dass sie sich an ihren Tod erinnern konnte. Sie meinte sogar, die unsagbaren Qualen zu fühlen, welche die mit messerscharfen Zahnreihen bewehrten Kiefer des Untiers ihr zufügen würden, zugefügt hatten!

Sie keuchte heftig und ihr Atem ging stoßweise, so dass sich ihre Brust schnell hob und senkte, aber sie schaffte es nicht, die Fesseln auch nur ein wenig zu lockern. Erschöpft gab sie ihre Bemühungen auf und versuchte sich zu beruhigen. Wenn sie sich recht erinnerte, dauerte es noch einige Stunden, bis das Tier ausgeschlafen hatte. In dieser Zeit könnte jemand vorbeikommen oder ihr konnte etwas einfallen. Aber gleichzeitig wurde ihr klar, dass die letzten Male niemand gekommen war.

Die letzten Male? Wie oft habe ich meinen Tod schon erlebt oder überlebt? Bin ich etwa verrückt oder träume ich vielleicht doch?

Terry drehte ihren Kopf und versuchte irgendetwas zu entdecken, was ihr weiterhelfen könnte und in ihrem Innern tobte ein Kampf um die Frage, ob dies alles wirklich geschah oder eine Täuschung, eine Illusion oder sonst was war.

Sie musste mehr Zeit damit verbracht haben, als sie gedacht hatte, denn plötzlich regte sich das Krokodil und sah zu ihr herüber. Jetzt beginnt es wieder, dachte sie und wurde von einem Insekt abgelenkt, das schnurstracks zu ihr flog und sich auf ihren linken nackten Oberarm setzte. Mit Faszination musterte sie das Tierchen, das acht weite Flügel hatte, die äußerst filigran gewachsen waren und sie an irdische Libellen des Trias erinnerten.

Ich bin Terry van Dalen, Exo-Biologin an Bord des Forschungsraumschiffes U.N.S.S. GANDHI, fiel ihr plötzlich ein.

Sie hatte gerade eine brillante Arbeit abgeliefert, in der sie die bisher ungeklärte Fortpflanzung der kyrrillianischen Wind Anemonen beschrieben hatte, was ihr einen der begehrten Plätze in der Mannschaft des Flaggschiffes der irdischen Forschungsflotte eingebracht hatte.

Das Insekt brachte sie mit einem Stich in die Realität zurück. Halb auf den überraschend heftigen Schmerz des Einstiches achtend, halb auf das auf sie zu schwimmende Krokodil starrend, blitzte ihr ein Gedanke durch den Kopf: Der Stich war neu! In der Vergangenheit war dies nicht vorgekommen! Fast war sie dem libellenähnlichen Ding dankbar, obwohl ihr Arm sich an der Stichstelle bereits bläulich verfärbt hatte, angeschwollen war und zunehmend mehr schmerzte. Mit Grauen sah Terry der Echse zu, wie sie sich ans Ufer schob und wie erwartet einen Augenblick zögerte. Sie schrie mit aller Kraft, als das Krokodil ihr das Bein abriss, aber ihr Schrei hatte einen neuen Ton angenommen. Unbestreitbar Schmerz und Todesangst, aber auch ein winziges Stück Gewissheit, dass der Ablauf der Dinge nicht unabänderlich war. Beim nächsten Mal würde es wieder ein klein wenig anders sein.

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Die Hitze war unerträglich und der Rücken tat ihr weh. Terry van Dalen lag gefesselt am Ufer eines kleinen stehenden Gewässers. Noch bevor sie die Augen öffnete, hasste sie das Krokodil am anderen Ufer.

Wie oft frisst du mich noch auf, bis ich eine Chance bekomme, dir deine schuppige Haut abzuziehen und als Trophäe an meine Kabinenwand zu hängen? Vielleicht ändere ich die Zukunft schon, wenn ich einfach regungslos daliege und das Vieh nicht auf mich aufmerksam mache?

Mit fast unmenschlicher Geduld und einer Hartnäckigkeit, die nur bestimmten Frauen zu Eigen ist, lag sie Stunde um Stunde am sandigen Ufer. Der Gestank des unbewegten Wassers stieg ihr in die Nase und verlangte das letzte an Selbstbeherrschung von ihr ab. Wenn sie nicht gefesselt gewesen wäre, hätte sie längst von dem Wasser getrunken und sich wahrscheinlich alles Mögliche an fremden Bakterien einverleibt. Ein leises Summen näherte sich ihr und sie spürte die zarte Landung des Insekts. Diesmal war es ihr rechter Arm.

Die Zukunft ist in Bewegung, dachte sie triumphierend und hoffte, dass das leise Platschen nicht von der ins Wasser gleitenden Echse stammen möge.

Aber kurz darauf hörte sie Schritte an ihr Ufer kommen, die unüberhörbar von nassen, flachen Klauenfüßen stammten. Sie hielt die Luft an und erwartete das Reißen der Zähne an ihrem Bein, aber stattdessen wurde sie in der Mitte gepackt und von der Stelle weggerissen, an der sie gefesselt war. Es tat zwar fürchterlich weh, als ihre Hände in den Fesseln gefangen am Strand zurückblieben, aber die Kiefer zermalmten sie nicht, sondern hielten sie nur fest und das Tier zog sie unter Wasser. Wahrscheinlich wollte es sie in die Nahrungshöhle unterhalb der Wasserlinie schleppen und dort vorerst lagern. Sie glaubte sich zu erinnern, dass irdische Reptilien eine Vorliebe für mürbes Fleisch hatten. Kurz bevor sie ertrank, erstaunte sie der Gedanke an eine parallele Entwicklung dieser artverwandten Spezies auf verschiedenen Planeten.

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Das ist es, dachte sie sofort nach dem Erwachen.

Ich darf nicht ertrinken! Wenn der Ablauf sich nur in kleinen Veränderungen niederschlägt, dann habe ich eine Chance zu Überleben. Doch wie wird der Zeitstrom beeinflusst?

Sie war sich nach dem x-ten Male des Durchlebens von Erwachen, Warten und Gefressenwerden nunmehr sicher, dass sie sich in einer Art Zeitfalle oder Schleife befinden musste, die sie nur durchbrechen oder verlassen konnte, wenn sie den Angriff des Krokodils überlebte. Sie hatte auf der Akademie mehrere Physikvorlesungen erduldet, in denen sich die Professoren und interessierten Teilnehmer mit der Relativitätstheorie, Zeitabläufen, Zeitlöchern und Parallelwelten beschäftigt hatten. Terry hatte aber schon immer nur ihre Biologie im Kopf gehabt und die Vorlesungen nur deshalb besucht, um ihre Physikprüfung zu bestehen. Jetzt verfluchte sie sich, ob ihrer damaligen Unaufmerksamkeit. Sie glaubte sich zu erinnern, dass temporale Effekte auch räumlich begrenzt waren. Doch wie weit? Sie musste ihren Standort verändern, um aus dem Wirkungsbereich zu entkommen. Genügte es, sich von der Echse vom Strand zerren zu lassen? Und durch was entstanden die kleinen oder größeren Abweichungen des Geschehens? Nichtlineare Abläufe. Dieser Begriff der einfachen Chaostheorie fiel ihr wieder ein. Jede kleinste Varianz einer Situation, eines Gegenstandes oder einer menschlichen Handlung potenzierte sich zur veränderten - mitunter katastrophalen - Geschehnissen, dessen Ausgang nichts und niemand vorhersehen konnte. Das hieß aber auch, dass sie nicht sicher sein konnte, dass ein abzweigender Handlungsarm ihr tatsächlich irgendwann zur Rettung verhalf. Alles war möglich ...

21

Sie musste eingenickt sein, denn sie erwachte durch Wasser, das auf ihre Füße tropfte. Woher?

Das verdammte Schuppenvieh ist schon wieder an meinem Strand, dachte sie und kochte innerlich vor Wut und Machtlosigkeit.

Einige Sekunden hoffte sie darauf, dass ihre Regungslosigkeit das Krokodil davon abhalten könnte zuzubeißen, aber dann spürte sie allzu deutlich das Zuschnappen der Kiefer in ihrer Körpermitte. Die grenzenlose Wut, die sie halb für das Tier, halb für ihre Situation empfand, half ihr sich tot zu stellen und die starken, aber ertragbaren Schmerzen des Zugriffes auszuhalten.

Ich bin nicht tödlich verletzt, dachte sie ununterbrochen, und versuchte nicht an ihre abgetrennten Hände in den Fesseln zu denken. Wenn ich es schaffe, so lange die Luft anzuhalten, bis das Vieh mich deponiert und wieder verlassen hat, könnte ich ...

Doch die Zeit war zu lange und so musste sie wieder den Mund öffnen und ertrank bevor das Reptil seinen Bau erreicht hatte.

22

Terry van Dalen stieß einen triumphierenden Schrei aus, als sie erwachte und die mit ihren Füssen in den Sand gedrückten Striche sah. 21! Genau so viele hatte sie vor dem letzten Mal gemacht. Und sie konnte sich auch genau daran erinnern! Wieder und wieder hatte das Krokodil sie getötet, aber jedes Mal unter leicht veränderten Umständen. Einmal - war es das fünfzehnte oder sechzehnte Mal gewesen? - hatte sie schon gehofft, aus dem tödlichen Zeitablauf ohne Gefressen werden zu entkommen, als das Untier mitten im See einen anscheinend größeren Fisch fraß und danach eine Zeitlang im trüben, von Insekten umschwirrten Wasser dümpelte. Doch dann hatte es seinen ursprünglichen Weg wieder aufgenommen und war zu ihr an den Strand gewatschelt. Der Rest lief in wohlbekannter Weise ab.

Inzwischen konnte sie es kaum erwarten, bis eine Situation durchgespielt war, und sie kam sich stellenweise wie eine Schauspielerin, nein, eher wie eine Statistin ohne Text vor. Einzig die Schmerzen, die sie erdulden musste, machten das ganze zu einem nicht enden wollenden Alptraum. Doch sie fühlte in sich eine Stärke heranwachsen, eine Kraft, die nur Frauen eigen war. Ein Mann hätte solche Schmerzen nicht auf diese kalte, berechnende Art und Weise ertragen, die sie sich mittlerweile angewöhnt hatte. Terry hatte sich mental so abgestumpft, dass sie die Wunden und Verletzungen, das Eindringen der Zähne in ihr Fleisch, das eklig lauwarme, trübe Wasser, dass in ihren Mund, Hals und Lungen eindrang, schon fast beiseite schieben, ja manchmal sogar ignorieren konnte. Ein Mensch kann jeden Schmerz aushalten, hatte einer der Kampfausbilder an der Akademie zu ihnen gesagt und hatte einige beeindruckende Demonstrationen vorgeführt, so dass den Kadetten schaurigschöne Schauer über die Haut liefen.

Vor ihrem 21. Tod war es Terry zwar gelungen, nicht zu ertrinken, aber sie war dann - alleingelassen von der Bestie - an Blutverlust gestorben, da aus beiden Armstümpfen das Blut schneller schoss, als sie verhindern konnte. Sie hatte zwar die Stümpfe unter die Achseln gepresst, um die Blutung zu stoppen, aber trotzdem verlor sie kurze Zeit später das Bewusstsein und verblutete.

Wie kann ich das Blut stoppen? Wenn ich es soweit geschafft habe, dass ich weder gefressen oder zerrissen werde, noch ertrinke, all die Qualen ohne Bewusstlosigkeit überstehe, dann wird es mir doch verdammt noch mal auch gelingen, die Blutung aufzuhalten, dachte sie und sah zu dem immer noch dösenden Krokodil auf der anderen Seeseite hinüber.

Sie durchforstete ihr Gedächtnis nach allen möglichen Methoden, Verletzungen abzubinden, offene Wunden provisorisch zu schließen, aber alles was ihr einfiel, verlangte zwingend den Gebrauch von mindestens einer brauchbaren Hand. Sie kochte innerlich vor Zorn, als das Tier sich aus seinem Schlaf erhob und damit den Startschuss für ihren 22. Tod gab. Mit aggressiven Bewegungen machte Terry einen neuen Strich in den Sand und verfluchte sich dafür, dass sie so einfallslos war. Sie schrie jetzt wieder das Krokodil an, das ungeachtet dessen langsam herüberschwamm und patschend auf sie zulief. Neue Hoffnungslosigkeit erfüllte sie und trieb ihre neue, heiße Tränen in die Augen. Mit aller Kraft der Verzweiflung warf sie sich hin und her und versuchte den Kiefern zu entkommen. Fast schien es, als ob das Krokodil einen Moment überrascht schien, dass sie sich wehren könnte, doch dann biss es entschlossen zu.

In dem Moment, als sie in der Mitte gepackt wurde und die Echse sie von ihren gefesselten Händen riss, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf:

Erinnerte sich das Krokodil ebenfalls an die variierenden Szenen? Besaß es soviel Intelligenz, dass es die Situation als nicht normal erkannte?

Nein, verwarf sie ihre Überlegung und hatte darüber vergessen, ausreichend Luft zu holen und ertrank diesmal folgerichtig noch auf dem Weg zum Nahrungsdepot, bevor sie dort ankamen. Ihr letzter Gedanke war:

Warum hat das Drecksvieh gezögert, als ich herumstrampelte?

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Warum hat das Drecksvieh gezögert, als ich herumstrampelte?

Mit diesem ersten - letzten? - Gedanken erwachte Terry in der brütenden Hitze und registrierte nur noch nebenbei die 22 Striche im Sand. Böse funkelte sie zu der schlafenden Bestie hinüber und fing auf einmal zu rufen an:

„Hey, du schuppige Ausgeburt der Hölle! Wie oft willst du noch herüberkommen und mich auffressen? Gibt es auf deinem lausigen kleinen Planeten nicht genug zu fressen, dass du friedliche Besucher anfallen musst? Los, komm herüber und beiß mich, ich kann es kaum erwarten deine stinkenden Zähne in meinem Fleisch zu spüren!“

Sie holte ein wenig Luft und versuchte ihren trockenen Mund mit Speichel anzufeuchten, aber da kam nichts. Sie hatte Schwierigkeiten, die Worte klar auszusprechen, da ihre Lippen bereits aufsprangen und schmerzten. Aber diese Leiden waren nichts im Vergleich zu den Dutzenden Toden, die sie bisher durchlebt hatte. Als das Tier sich endlich erhob, wusste sie nicht, ob es durch ihr Rufen erwacht oder bereits die Zeit danach war.

„Na los schon, auf was wartest du noch? Schlepp deinen hässlichen Körper ins Wasser und komm her!“, rief sie weiter.

Als einzige Reaktion blieb das Tier stehen, anstatt sich ins Wasser gleiten zu lassen. Fast schien es Terry so, als ob es zuhörte. Ein wenig verdutzt fielen ihr keine weiteren Beschimpfungen ein, obwohl sie als langjährige Raumfahrerin über ein umfangreiches Vokabular einschlägiger Ausdrücke und Bemerkungen verfügte. Das Krokodil legte in einer seltsam anmutenden Geste seinen Kopf ein wenig schräg, so wie dies irdische Hunde, Katzen oder Vögel tun, wenn ihre menschlichern Halter sie ansprechen.

Kann das Vieh mich etwa verstehen? Unsere Scanner registrierten aber beim Anflug keinerlei technische Zivilisation. Sollte dieses Exemplar dort auf seinen krummen Beinen die vorherrschende Intelligenz auf diesem Planeten sein? Aber warum frisst es mich dann unentwegt und erkennt in mir nicht ebenfalls eine intelligente Lebensform?

„Kannst du mich verstehen?“, schrie sie über den kleinen See hinweg und ignorierte das Insekt, das plangemäß angeflogen kam, sich auf ihren rechten Arm setzte und sie stach.

Wie soll es mich auch verstehen können? Selbst wenn es intelligent wäre, versteht es sicher weder Interlingua noch Pan-Galactic.

Trotzdem sprach sie weiter. Der Effekt, dass das Vieh stehen blieb und ihr offensichtlich zuhörte, war ihr lieber als die endlosen Schmerzen und Tode.

„Ich bin Terry van Dalen, Exo-Biologin an Bord der U.N.S.S. GANDHI. Wir sind eine Forschungsexpedition und suchen nach neuen Planeten für die Menschheit. Wir ... wir haben beim Anflug keinerlei Zivilisation anmessen können und so sind wir gelandet. Ich weiß zwar nicht, wie ich hierher komme und wer mich gefesselt hat, aber wenn du das warst, dann ... dann friss mich nicht.“

Ich bin ein Idiot, dachte sie. Ich sitze am Ufer eines Sees, auf einem schönen, aber kleinen erdähnlichen Planeten und schreie ein Krokodil an.

Bevor sie erneut mit ihrer einseitigen Unterhaltung fortfahren konnte, entschloss sich das Krokodil doch ins Wasser zu gehen. Schnurstracks hielt es auf sie zu. Auch dann, als der große Fisch, der bereits einige Male seine Zwischenmahlzeit darstellte dicht an ihm vorbeischwamm, reagierte es nicht entsprechend. Mit zielstrebigen Schritten lief es auf die junge Forscherin zu und blieb - wieder abweichend von früheren Durchläufen - kurz vor ihr stehen und legte wieder den Kopf schief.

„Äh ... Hallo“, sagte Terry wenig intelligent und musste fast grinsen. Ich Jane, und wer bist du?

Sie blickte angestrengt in die Augen des Schuppenwesens und versuchte darin ein Anzeichen für Verstehen, für Bewusstsein zu entdecken. Aber das Tier gab den Blick ungerührt zurück.

„Vielleicht ist es gut, dass niemand mich sieht. Für wie blöde müssten die mich halten, wenn sie sehen würden, wie ich mich kurz vor dem Gefressenwerden noch meinem Mörder vorstelle.“

Es verwirrte sie aber doch, das seit ihrem ersten Erwachen, sie dieses Mal massiv den Ablauf der Dinge verändert hatte. Das Vieh stand ganz nah vor ihr und sie lebte noch. Sie erinnerte sich, auch früher das Krokodil angeschrieen zu haben, aber immer nur mit unartikulierten Lauten, nie mit Worten oder gar Sätzen.

Was soll ich bloß sagen? Halte ich es mit meinen Worten auf und bringe es womöglich gar dazu, mich in Ruhe zu lassen? Wenn ich aufhöre zu reden, frisst es mich wahrscheinlich wieder.

„Also, äh ... wir sind Menschen, Humanoiden. Wie leben auf Sauerstoffplaneten, so wie dieser hier, wie dein Planet“, plapperte sie los. „Wir sind friedlich, leben auf über dreißig Kontaktplaneten auch mit anderen Spezies zusammen. Entgegen früherer Annahmen gibt es Tausende von bewohnbaren Planeten, die für eine Besiedlung durch den Menschen geeignet sind. Schöne, pflanzenreiche Planeten, so wie deiner hier. Wir fliegen die Nachbarsysteme unseres Heimatsystems an und scannen die in Frage kommenden Kandidaten. Wenn keine vorherrschende Spezies oder gar Zivilisation entdeckt wird, wird der Planet als Kolonialplanet markiert. Dann kommen Schiffe wie die U.N.S.S. GHANDI und machen eine Art Bestandsaufnahme. Aufgrund der ermittelten Daten wird dann die Ausrüstung der ersten Kolonisten zusammengestellt ...“

Das Krokodil hatte plötzlich den Kopf gehoben und ein heißeres Fauchen ausgestoßen. Dann stand es wieder still und starrte Terry an. Die war so verdutzt über die überraschende Reaktion, dass ihr Wortschwall verstummte. Ein leises Rascheln hinter ihr verursachte ihr ein Kribbeln wie von tausend Ameisen auf ihrer Haut. Nach wenigen Augenblicken erkannte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung.

Ein zweites Krokodil!

Das erste stand immer noch dicht bei ihr und wartete anscheinend auf das zweite, das sich nun langsam neben sie stellte. Das erste drehte seinen Kopf dem Neuankömmling zu und gab deutlich akzentuierte Fauch- und Zischlaute von sich, die Terry einwandfrei als Sprache erkannte, die sie aber logischerweise nicht verstehen konnte. Gleichzeitig erfolgte eine zweite, lautlose Unterhaltung, von der sie nichts mitbekam.

Dieses Wesen ist intelligent, Calesh.

Woher weißt du das?

Es hat erkannt, dass es in einer Zeitfalle sitzt.

Das können unsere Haustiere auch, selbst niedere Fleischlieferanten spüren die Wirbel eines Zeitloches. Wie lange hast du dich mit diesem Wesen amüsiert, bevor du erkanntest, dass es denkt?

Einhundertundvierzehn Mal, Calesh. Mir war so entsetzlich langweilig und diese Beute war die interessanteste, die ich in den letzten Jahren fing.

Ich habe schon immer gesagt, dass du genusssüchtig bist, Reshar. Aber warum hast du mich gerufen? Wenn es intelligent ist, lass es in Frieden ziehen. Such dir eine andere Beschäftigung.

Es beschrieb mir, wie es Vorbereitungen trifft, so dass viele seiner Art auf unsere Welt kommen können.


Das zweite Krokodil sagte und sendete auch nichts mehr, aber Terry hatte sowieso nur das Fauchen und Zischen gehört. Stattdessen machte Calesh eine ungewöhnliche Bewegung mit einer Klaue und ging danach einfach davon. Das erste Krokodil mit dem Namen Reshar sah die Frau mit einem Ausdruck von Bedauern und Konsequenz an, der dem Menschen nicht unbemerkt blieb. Terry kam nicht mehr dazu, irgendetwas Neues zu äußern, bevor ihr Reshar den Kopf abbiss. Mit wenig Appetit fraß Reshar die Frau vollständig auf und gab seinem Zeitorgan den bewussten Befehl die Schleife zu beenden. Es wäre schön gewesen, noch ein paar Perioden mit diesem Mensch-Wesen zu spielen, aber der Schutz des Planeten ging vor. Reshar empfing den allgemeinen Ruf, der von Calesh an Tausende in der Region befindliche Krokodile erging. Sie mussten so schnell wie möglich zu diesem Menschen-Schiff. Es brauchte schon eine Menge ihrer Art, um ein so großes Zeitfeld zu erzeugen, dass es das ganze Schiff erfassen konnte.

- Ende -

Copyright © 1998 by Werner Karl
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Sehr schöne Idee, auch wenn es etwas gruslig ist. Mag ich. Also Idee und Ausführung jetzt, nicht unbedingt das Gruslige.
 
D

Donkys Freund

Gast
Spannend, raffiniert, gut erzählt. Mit das Beste, was ich hier seit Langem gelesen habe.
 

HerbertH

Mitglied
sehr schön! der plot ist in sich logisch, die idee mit dem zeitorgan als hilfsmittel beute zu machen und sich zu vergnügen ist herrlich schräg.

die geschichte könnte man bestimmt zu etwas längerem ausbauen. und auch das käme gut an, denke ich

lG

Herbert
 



 
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