Das Licht im Ewigen Eis

Hochgiftig

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Ein merkwürdiges Geschenk

Es ist der 21. Dezember, Pias 10. Geburtstag. Draußen ist es schon dunkel und innen strahlen die Lampen des Wohnzimmers. Am Wohnzimmertisch sitzt Pias Verwandtschaft, darunter auch ihr Onkel Jack aus England.
„Er ist extra für dich aus London hergekommen, also zieh nicht so ein Gesicht, ja?“, hatte Pias Mutter ihr am Nachmittag gesagt.
So kurz vor Weihnachten Geburtstag haben ist echt blöd. Die Verwandtschaft nutzt die Gelegenheit, um Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke auf einmal zu schenken.
Mit künstlichem Lächeln nimmt sie die Geschenke entgegen, sagt jedes mal „danke“ und stellt sie dann auf den Geburtstagstisch. Als sie nach draußen schaut sieht sie den Regen, der schon seit Stunden auf die Erde fällt.
\"Dabei ist es so kurz vor Weihnachten ...“, murmelt sie leise. Laut Wetterbericht hätte schon seit zwei Wochen Schnee liegen müssen. „Wieso schneit es an meinem Geburtstag nicht?“, fragt sie in den Raum hinein.
Aber es hört sie niemand, denn alle reden laut, trinken Wein und Bier und rauchen eine Zigarette nach der anderen, Onkel Jack sogar Zigarre. Das ist das Einzige, was Pia nie an ihm leiden konnte. Mit großen Augen schaut sie ihn an, wie er grad mit Tante Elisabeth redet. Für einen winzigen Moment wird es still im Raum, so als ob jedes Geräusch verschluckt worden wäre, und Jack dreht die Augen zu seiner Nichte. Ihre Blicke treffen sich und er lächelt, sie lächelt zurück, dann zwinkert er.
Gegen 23 Uhr sitzen nur noch Pia, Onkel Jack und ihr Vater im Wohnzimmer, die anderen sind schon gegangen. Pias Mutter ist in der Küche und spült. Im Raum duftet es nach Zimt und Gebäck, eine Duftkerze brennt auf dem Tisch.
„Entschuldigt mich bitte eben, das Bier ...“, sagt Papa und geht aus dem Wohnzimmer. „Pia, setz dich doch mal neben mich.“, sagt Onkel Jack und Pia steht vom gemütlichen Schaukelstuhl auf und setzt sich neben ihren Onkel. „Ich habe dir vorhin ja gesagt, dass ich noch etwas für dich habe. Allerdings wollte ich damit warten, bis wir beide einen stillen Moment für uns haben.“ Er steckt sich eine neue Zigarre in den Mund und zündet sie an. Als er den Rauch auspustet bemerkt Pia den anderen, süßlichen, Duft. Onkel Jack kramt in seiner Jacketinnentasche. „Hier, mach deine Hand auf.“ Ein kleines Schächtelchen liegt nun in Pias Hand, ungefähr so groß wie eine Gabel, ein kleines Schloss ist an der Seite angebracht. „Wie bekomme ich das Schloss denn auf? Hast du den Schlüssel verloren?“, fragt Pia verwirrt. „Zu gegebener Zeit wirst du es auf bekommen Glaube mir.“, antwortet Onkel Jack und zwinkert ihr wieder zu.
Eine halbe Stunde später steht Pia an ihrem Zimmerfenster und schaut zu, wie Onkel Jack durch den strömenden Regen zu seinem Auto geht und abfährt. Sie hebt die Hand neben ihre Schulter und winkt leicht, obwohl sie weiß, dass er sie nicht sehen kann. „Pia, Zeit für’s Bett.“, ruft Papa aus dem Wohnzimmer. Pia geht ins Badezimmer und macht sich fertig, dann setzt sie sich noch kurz zu ihren Eltern. „Alles Gute zum Geburtstag mein Schatz.“, sagt Mama und gibt ihr einen Kuss auf die Schläfe. Pia lächelt sie an und geht dann ins Bett. Dick verpackt unter ihrer Bettdecke schaut sie die Leuchtsterne an, die an der Decke kleben und schließt die Augen. „Ich hasse meinen Geburtstag.“, sagt sie leise und eine einsame Träne läuft ihr die Wange hinab, dann dreht sie sich um und schläft ein.

Aus einer Träne
Von oben fällt ein riesengroßer Tropfen hinab und klatscht auf das Bettlaken, aber anstatt zu zerfallen und sich zu verflüssigen bleibt er auf dem Bett liegen. Er bäumt sich auf, dann ploppen auf einmal zwei Arme und Beine aus ihm heraus. Ein Tränenmännchen ist geboren. Es schaut nach links, dann nach rechts, dann schaut es hinauf zu seiner Schöpferin. Tränenmännchen können nur geboren werden, wenn jemand etwas so gerne haben möchte, dass dieser Jemand Tränen vergießt Es winkt in die Richtung seiner Schöpferin, aber irgendetwas stimmt nicht. Sie bewegt sich nicht. Achja, es ist dunkel und still, sie scheint zu schlafen.
Das Tränenmännchen dreht sich ein paar Mal im Kreis, dann sieht es zum Fenster hoch. Es schwingt die Arme vor und zurück und auf einmal macht es einen großen Satz und landet auf der Fensterbank. Es quietscht und gurrt glücklich, denn draußen sieht es den Regen, der auf den Boden fällt. Was würde es jetzt dafür geben draußen mit den Regentropfen spielen zu können. Aber halt! Es hat doch eine Mission zu erfüllen. Wenn es nur nach draußen käme könnte es den Hilfsboten rufen. Nach allen Seiten blickend schaut es sich nach einer Öffnung um und entdeckt schließlich auch eine – die Zimmertür steht offen. Es schwingt wieder die Arme vor und zurück und – Ohje, es hat zu viel Anschwung genommen! Wie ein Flummiball schießt es durch den Raum, bevor es gegen die Türe klatscht und an ihr auf den Boden rutscht. Was für ein Flug.
Das Tränenmännchen quetscht sich unter der Tür durch. Von links dringen Stimmen zu ihm heran. Man darf es nicht sehen, sonst löst es sich sofort auf und die Mission wäre gescheitert. Rechts ist eine weitere Tür, aber sie ist geschlossen. Wenn es doch nur ein Fenster finden könnte. „Schatz ... du ... Fenster ... auf ...“, hört das Tränenmännchen die Menschen sagen. Das ist seine Gelegenheit. Vorsichtig schaut es um die Ecke und reißt erschrocken die Hände vor seinen tropfenförmigen Kopf. Ein Mensch ist auf dem Weg zu ihm. Blitzschnell schaut es sich um und sucht nach einem Versteck – Da! Eine Topfpflanze! Mit einem Satz springt es in den Topf und beobachtet zwei Menschen, wie sie aus dem Raum gehen.
Es wartet noch einen Augenblick, dann hüpft es aus dem Topf wieder heraus und springt schnell in das Zimmer. Das Fenster steht halb offen. Flink läuft es über den Teppich bis unter das Fenster, duckt sich und springt mit einem Satz hoch und hinaus in die verregnete Nacht.

Beim Frühstück am nächsten Morgen macht Pia kein glückliches Gesicht. Ihr Hals tut weh und ihre Augen brennen. Sie erzählt ihren Eltern nicht, dass sie sich letzte Nacht in den Schlaf geweint hat.
Draußen regnet es immer noch, die Leute vom Wetterdienst sagen, dass es noch mehrere Tage so bleiben soll. Na klasse, dabei wollte Pia heute eigentlich Annett besuchen gehen. Immerhin hat sie noch ein Geschenk für Pia, da sie gestern krank war. Aber Annetts Mutter meinte, ein Krankenbesuch habe noch niemandem geschadet.
„Wenn es weiter so regnet wird das wohl heute nichts mit deinem Besuch bei Annett, hab ich recht, Pia?“ „Ja, glaube ich auch. Schade.“ Aber was soll’s, so ein Tag vor dem Fernseher kann doch auch ganz toll sein.
Nach dem Frühstück legt Pia sich auf die Couch und schaltet den Fernseher ein. Es läuft natürlich nur Müll. Nichts Interessantes, wie immer so kurz vor Weihnachten. Es dauert nicht lange und ihre Hände erdrücken den Aus-Knopf. „Dann geh ich eben wieder ins Bett und lese.“, denkt sie, nimmt sich eine Tasse Tee und geht in ihr Zimmer. Hier drinnen ist es ganz still, nur der stetige Regen, der gegen das Fenster schlägt. Sie schließt es und legt sich unter die Decke. „Welches Buch lese ich denn diesmal?“, sagt sie zu sich. „’Tom Sawyer’, nee, „Tims Reise“, auch nich’, ‚Die Schneekönigin’, ach, schon tausend Mal gelesen.“ Frustriert lässt sie sich auf’s Bett zurückfallen und starrt an die Decke. „Dann schlaf ich eben ...“, sagt sie leise und schließt die Augen. Der Regen trommelt gegen das Fenster.

Geschafft! Die Nacht hat das Tränenmännchen im Restwasser einer Topfpflanze im Garten verbracht, dort war es kuschelig warm und schön nass. Nun steht es am Fuße des Hügels und schaut hinauf. Wenn es doch jetzt nur fliegen könnte. Die vielen Freunde, die vom Himmel fallen, können ihm leider auch nicht helfen, denn sie bewegen sich in die genau entgegengesetzte Richtung. So viele bekannte Gesichter und so viele neue, da müsste man eigentlich stehen bleiben und sie begrüßen Aber das geht nicht. Denn immerhin hat es eine Mission zu erfüllen. Mühsam kämpft es sich den Hügel hinauf, springen geht nicht, denn die Freunde drücken es immer wieder zu Boden.
Es kommt ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, aber dann endlich – das Tränenmännchen steht auf dem Hügel. Es streckt seine Ärmchen zum Himmel, als ob es alle Freunde, die vom Himmel fallen, auffangen wollte und fängt an im schönsten und hellsten Sopran zu singen.

Überall Wolken, nichts als Wolken, dunkle Wolken, schwarze Wolken, nasse Wolken. Nirgendwo ein Blick gen Boden, nichts zu Hören vom Rufer. Gosse braune Schwingen peitschen durch den Regen, geführt von einem Schemen mit einem Stab. Da – ein Riss in der Wolkendecke, seltsame Töne dringen an das Ohr des Reiters. Die Flügel senken sich nach unten und ein gigantischer Vogel durchbricht die Wolken.

Als es nach oben blickt entdeckt das Tränenmännchen einen dunklen Schatten, der unaufhaltsam näher kommt. Ob er das ist? Schnell rennt es zum nächsten Baum und versteckt sich hinter dessen Stamm. Von oben hört es einen lauten Schrei, genau aus der Richtung des Schattens kommend.
„Ahhhhhh Vorsicht, so brems doch AB!“
„Nicht geht, Boden zu nah. Halt fest!“
Mit einem lauten Geräusch, das sich anhört wie ein Felsen, der in einen See voller Schlamm fällt, schlägt der Schatten auf dem Boden auf.
„Na fa-bel-haft, nun schau dir mal meinen Umhang an, völlig versaut, so kann ich doch dem Auserwählten nicht entgegen treten, dass du auch immer so schnell fliegen musst, ich habe dir schon SO OFT gesagt, dass du auch mal abbremsen sollst, aber NEIN, warum sollte man auch auf mich hören, nur weil ich klein und blind bin heißt das noch lange nicht, dass ich vom Fliegen keine Ahnung habe, also könntest du nun ...“
„Herr, schaut um Euch.“
„Was soll ich denn sehen?“
„Kein Rufer!“
Das Tränenmännchen hört gebannt zu, ein kleines Wesen hüpft vom Rücken eines großen Vogels. Aber – ist es wirklich ein Vogel?
„Toll. Toll, toll, TOLL! Dass sowas auch immer mir passieren muss, erst bekomme ich diesen ungeheuer wichtigen Auftrag und dann verpatzt mir so ein dahergelaufener Idiot wie du einer bist das Ganze, indem er einfach an einem falschen Punkt landet wo ich ihm doch noch gesagt habe, dass wir hier bestimmt falsch sind, aber nein, du …”
„Herr, Ihr gesagt mir haben ich landen soll, also ich haben gelandet bin. Ich nicht sehen irgendwas sein dran falsch!“
„Wage es ja nicht mir zu widersprechen!“
„Ich niemals würde widersprechen Herr!“
Na, die beiden sind ja lustig. Das Tränenmännchen hält sich die Ärmchen vor den Mund und kichert fröhlich.
„Herr, ich hören Geräusch.“
„Aus welcher Richtung kommt es?“
„Baum vorne!“
Da das Tränenmännchen so beschäftigt ist mit kichern bemerkt es nicht, wie der Winzling immer näher kommt, bis er schließlich vor ihm steht. Erschrocken reißt es die Ärmchen hoch und versucht davon zu rennen, aber es hilft nichts mehr. Der Winzling streckt seine Hand aus und schließt sie um das Tränenmännchen.

Eine kleine seltsame Gestalt steht neben dem Baum. Zirkon schaut genauer hin und kann seinen Augen kaum trauen – ein Tränenmännchen! Diese Wesen waren bis zum jetzigen Zeitpunkt nur eine Sage, aber hier steht leibhaftig eines vor ihm. Als es ihn sieht schaut es erschrocken und versucht davon zu rennen, aber Zirkon ist schneller und hebt es auf.
„Hast du uns gerufen?“, fragt er es.
Keine Antwort.
„Bist du der Rufer?“
Da holt das Männchen einmal tief Luft, als ob es etwas sagen möchte, aber aus seinem Munde kommen nur Töne, die klingen wie tropfendes und plätscherndes Wasser, gemischt mit Gurren und Schnalzen.
„Er sagen Ihr ihn sollen lassen los.“
„Du verstehst ihn?“
„Natürlich ich verstehen ihn, ich sprechen alle Sprachen des Reiches, auch diese die kommen vor nicht oft!“
Zirkon lässt das Männchen los und es hüpft auf den Boden. Empört reibt es sich die Hüften, schaut zu ihm hoch und spuckt ihm Wasser ins Gesicht.
„Wo ist der Auserwählte?“
Es öffnet den Mund und heraus kommen seltsame Töne, im Klang etwas freundlicher als die ersten.
„Er sagen wir folgen sollen. Außerdem er sagen Ihr sein fett und hässlich.“
„WAS? Das kann nicht dein Ernst sein, wenn ich dich erwische du ...“
Aber das Tränenmännchen läuft bereits den Hügel hinab, aus seiner Richtung hallen Töne zu den Beiden hoch, die wie ein Kichern klingen. Missmutig folgt Zirkon dem Männchen, der Vogel, Tipo sein Name, läuft hinter ihm her.
„Wir müssen nur aufpassen, dass uns keiner erwischt. Ich kann mich ja schnell verstecken, aber bei dir wird es ein wenig schwieriger.“
„Ich alles tun was Herr wollen.“
„Dann halt den Rand!“
„Das nicht gehen.“
„Du hast eben gesagt ...“
„Ja, aber das nicht gehen.“
„Ja, aber ...“
„Herr, guck!“
Vor ihnen taucht ein kleines Häuschen auf, im Garten sehen sie das Tränenmännchen tanzen und herum hüpfen
„Ich bezweifele, dass wir hier richtig sind, aber wir müssen ihm vertrauen ...“
“Wir nie herausfinden wenn herumstehen wie Ölgötzen!“
„Jaja, ist ja gut, dann mal los.“
Und somit betreten die beiden zum ersten Mal ein von Menschen belebtes Gebiet, ohne zu wissen, was auf sie erwartet.

Draußen scheint der Regen richtig gegen das Fenster zu trommeln, so als ob er nicht wolle, dass Pia einschlafen kann. Sie setzt sich auf und schaut hinaus.
„Warum kann es jetzt nicht schneien? Wenigstens ein kleines Bisschen ...“, sagt sie leise. Grade als sie sich wieder hinlegen will bemerkt sie den Schatten, der durch den Garten huscht. Ein kleiner gebückter Schatten. Erschrocken reißt Pia ihre Augen auf und drückt ihre Nase gegen die Scheibe. Jetzt ist der Schatten natürlich weg, dabei ist sie sich vollkommen sicher, dass dort draußen etwas ist. Voller Angst greift sie nach dem Griff, um das Fenster, welches auf Kipp steht, zu schließen, hält jedoch einen Augenblick inne.
„Meinst du wir werden hier fündig?“ Wir? „Ich schon denken, wir ihn finden müssen den Auserwählten.“ „Jaja, deine klugen Sprüche gehen mir langsam aber sicher auf den Wecker, dabei habe ich dir nie erlaubt so großmäulig zu reden, denn du stehst ja immer noch in meinen Diensten und erst wenn ich dir erlaube so zu ...“ „Seid still kurz, mein Herr. Sich dort bewegen was.“
Oh nein, sie haben mich entdeckt, denkt Pia und duckt sich rasch.
„Verdammt, sie haben uns erwischt, dabei habe ich dir doch ausdrücklich befohlen vorsichtig zu sein und nun das, mit dir hat man auch immer nur Ärger, das liegt wohl daran, dass du so ein riesengroßer ...“
Mit einem lauten Geräusch verstummt die Stimme, es klingt so, als ob man die dazugehörende Person in den Schlamm gedrückt hat.
Vorsichtig lugt Pia über das Fensterbrett nach draußen Der Bewegungsmelder ist angegangen und Pia muss sich das Lachen verkneifen.
Sie sieht einen großen Vogel mit einem langen Hals, der einen Zwerg in den Schlamm drückt. Dort, wo der Kopf des Zwerges sein sollte, befindet sich eine blubbernde Pfütze aus Schlamm.
„Und vor so etwas fürchte ich mich ...“, sagt sie ganz leise, huscht in ihre Pantoffeln und geht still aus ihrem Zimmer. Im Flur ist es dunkel und sie schleicht am Zimmer ihrer Eltern vorbei zur Haustür, aus dem Schirmständer nimmt sie sich einen Schirm.
Der Regen fällt mit unheimlich lauten Geräuschen auf den aufgespannten Schirm. Vorsichtig geht sie weiter auf die merkwürdigen Gestalten zu, sie ist sich nicht sicher ob die beiden sie bereits bemerkt haben.
„Lfff mfff lff!“, hört sie den Zwerg von unten blubbern. „Nicht können, nicht bewegen.“ „Entschuldigung ihr beiden, wer oder was seid ihr?“
Auf einmal dreht sich der Vogel herum und Pia holt erschrocken Luft.
„Wff ifft lff?“ „Still seien, da Mensch seien.“ „Wff ifft denn LOS?“ Bei den letzten beiden Worten gelingt es dem Zwerg sich aus dem Griff des Vogels zu befreien und den Kopf zu heben. Er bleibt abrupt in der Bewegung stehen, offensichtlich geschockt, dass Pia ihn und den Vogel anschaut.
„Versteht ihr mich?“, fragt Pia.
„Was Mensch versuchen?“ „Ich denke sie will Kontakt zu uns aufnehmen.“ „Was wir tun?“ „Wir sprechen am Besten in einfachen Sätzen!“
Der Zwerg steht auf und schüttelt sich, sofort fällt sämtlicher Schlamm von seinem kleinen Mantel ab und er ist wieder sauber.
„Mein Name ist Zirkon. Wer bist du?“
„Pia ...“
„Sei gegrüßt Pia. Ich bin ein Freund.“
„Was wollt ihr hier? Und wer ist dieser Vogel?“
„Das ist mein treuer Diener und Reitvogel. Wir sind hier nur auf ...“
„Mein Herr schauen! Tränenmännchen herum hüpfen!“
„Du sollst mich doch nicht unterbrechen wenn ich mit Menschen Kontakt aufzunehmen versuche, ich habe dir das doch schon tausend Mal gesagt und JEDESMAL unterbrichst du mich als ob ich dir das noch nie erzählt hätte!“
Als der Zwerg diese Worte sagt hüpft er wütend im Kreis und stampft auf dem Boden auf.
„Aber er hat doch recht ...“, sagt Pia leise.
Sie schaut das Tränenmännchen an und sieht, dass es aufgeregt durch den Garten springt und immer wieder auf Pia zeigt.
„Was will es bloß?“, fragt der Zwerg.
„Das sein offensichtlich.“
„Wage es ja nicht, du missratener ...“, will der Zwerg gerade brüllen, als ihm das Tränenmännchen ins Gesicht springt und seinen Kopf in Pias Richtung dreht.
„Zur Hölle mit dir was ... Nein! Willst du etwa sagen, dass sie ...“
Das Tränenmännchen nickt. Pia schaut nur verwirrt alle an, sie versteht überhaupt kein Wort von dem, was die beiden sagen, beziehungsweise meinen.
„Auserwählte ...“, sagt der Zwerg untertänig und kniet vor Pia im Schlamm nieder.
„Hey, steh auf, du machst dich doch noch ganz dreckig.“
„Kein Dreck der Welten kann mich aufhalten vor der Auserwählten niederzuknien!“
„Was soll der Quatsch mit der Auserwählten? Was meinst du damit?“
„Ich erkläre es euch gerne, oh Auserwählte, aber nicht hier an diesem unwirtlichen Ort. Bitte, erlaubt mir euch an einen weitaus angenehmeren Platz zu begleiten.“
„Aber was ist mit meinen Eltern, sie werden sich Sorgen machen!“
Der Zwerg lächelt nur und schnippt einmal mit seinen Fingern. Augenblicklich hört es auf zu regnen, aber als Pia genauer hinschaut bemerkt sie, dass es immer noch regnet. Der Zwerg hat tatsächlich die Zeit angehalten, denn die Tropfen sind mitten in der Luft stehen geblieben
„Das ist ... Magie ...“, haucht Pia.
“Ich zeige euch gerne noch mehr, aber seid so freundlich, oh Auserwählte, und folgt mir bitte.“
„Ihr steigt auf, Auserwählte.“, sagt der große Vogel und lässt sich herab, damit Pia aufsteigen kann.
„Ich ... weiß nicht ...“, sagt sie leise.
„Ihr braucht keine Angst zu haben, oh Auserwählte.“
„Gebt mir fünf Minuten, ich will nur schnell ein paar Sachen aus meinem Zimmer holen.

Die Reise in die andere Welt
Die Luft über der Erde ist eisig, und obwohl es nicht regnet machen die Tropfen mich nass. Mir ist kalt, zum Glück habe ich meine Jacke mitgenommen. Die Federn des Vogels sind weich und ich halte mich fest, ich habe Angst herunter zu fallen. Das Tränenmännchen sitzt auf meiner Schulter und kichert die ganze Zeit. Es ist süß Ich beginne mich zu fragen wo der Zwerg mich hinbringen will.

„Wir sind gleich da, haltet Euch gut fest!“, brüllt der Zwerg über den Flugwind hinaus.
„Wurde auch Zeit, ich bin schon fast erfroren!“
Der große Vogel kippt leicht nach vorne und fliegt abwärts, der nicht fallende Regen peitscht in Pias Gesicht. Ungefähr in der Mitte des Fluges hat sie sich getraut kurz die Federn los zu lassen und ihre Kapuze über den Kopf zu ziehen. Als sie durch die Wolken tauchen fühlt es sich an, als ob sie kurz ihren Kopf in den Gefrierschrank steckt.
Unter ihnen tauchen Baumspitzen auf, erst nur ein paar wenige, dann werden es immer mehr. In der Ferne kann Pia die Silhouette eines Hauses ausmachen, aber genau erkennt sie es nicht.
„Da ist es, ist es nicht schmuck?“
„Sie es nicht sehen können, es zu dunkel sein und sie nicht sehen können im Dunkeln!“
„Jaja, halt den Mund und mach dich lieber bereit zur Landung!“
Der große Vogel kippt noch ein wenig mehr nach vorne und kurz darauf spürt Pia, wie seine Füße auf dem Boden auftreffen. Sie stehen auf einer kleinen Lichtung, ein kleiner Weg führt in den Wald hinein.
„Folgt mir, oh Auserwählte, und habt keine Angst vor dem was Ihr sehen werdet, sie werden Euch nichts tun!“
„Sie?“
„Wächter des verborgenen Landes, dunkle Kreaturen, die aufpassen, dass kein Ungeduldeter sich der Pforte nähert.“
Bei diesen Worten muss Pia schlucken. Sie hatte schon immer leichte Angst im Dunkeln, und mit dem Wissen, dass unzählige Monster um sie herum sind, die sie nicht sehen kann, wird diese Angst nicht gerade weniger.
„Vogel, du gehst hinter uns, leuchte uns den Weg!“
„Jawohl, Herr.“
Der große Vogel öffnet seinen Schnabel und heraus scheint plötzlich ein helles Licht. Pia bemerkt sofort, dass sich zwischen den Bäumen Schatten bewegen und hin und her huschen, sie hört auch ein leises Flüstern.
„Die Wächter fürchten das Licht, es ist die einzige Möglichkeit an ihnen vorbeizukommen.“
„Du sagtest doch gerade eben noch, dass sie mir nichts tun werden?“
„Ich meinte natürlich auch die anderen Menschen dieser Welt.“
Schweigend gehen die drei den Weg entlang, nur das Flüstern der Wächter ist die einzige Geräuschquelle. Immer wieder schaut Pia kurz in den Wald hinein und erblickt furchterregende Schatten, jedoch bekommt sie die Wächter nie richtig zu Gesicht. Nach kurzer Wanderung kommen sie an eine Weggabelung.
„Wir müssen links, merkt Euch allerdings die andere Abzweigung. Es kann sein, dass Ihr schnell hierhin zurückkommen müsst, um den anderen Weg zu gehen.“
Nach ein paar Minuten, Pia kommen sie wie Stunden vor, erreichen sie eine kleine Hütte. Kein Licht brennt, sie ist in vollkommene Dunkelheit getaucht.
„Luminada!“, ruft der Zwerg und sofort entfachen unzählige Kerzen am ganzen Haus, Pia reißt vor Staunen den Mund weit auf.
„Hübsch, nicht wahr?“
Der Zwerg geht zur Tür und spricht etwas in einer merkwürdigen Sprache, die Pia noch nie gehört hat.
„Bannflüche, ich musste doch verhindern, dass irgendwer oder irgendwas in mein Haus einbricht.“
Mit einem lauten Knarren öffnet sich die Tür und Pia betritt das Haus. Auch innen brennen hunderte Kerzen, das gelbe Licht wärmt den ganzen Raum. Der große Vogel läuft zum Kamin und spuckt eine Flamme ins Feuer, woraufhin sich das Holz entzündet, dann legt er sich vor das Feuer.
„Setzt Euch bitte und lasst mich Euch erklären, warum ich Euch hierher geführt habe.“
Stillschweigend setzt Pia sich an einen dunklen Holztisch und schaut den Zwerg aufgeregt an.

Es ist lange her, als meine Welt noch heile war. Damals war das weite Land erfüllt von Wärme und Sonnenschein, die Menschen und Tiere haben sich vertragen und lebten in Harmonie miteinander. Doch vor genau 444 Jahren ereignete sich ein schreckliches Missgeschick. Der Hofzauberer des Königs hat sich mit einem Zauberspruch vertan. Er war derjenige, der dafür zuständig war, dass immer genügend Harmonie unter uns weilte. Eines Tages jedoch hat er die falsche Schriftrolle verwendet, wodurch meine Welt vollkommen dem Chaos ausgeliefert wurde. Menschen und Tiere wandten sich gegeneinander, sie verlernten die Fähigkeit zu lieben und friedlich miteinander umzugehen. Dem Hofzauberer jedoch wurde jedoch ein größeres Übel und zugleich eine unvorstellbar große Bürde auferlegt. Der Zauberspruch traf ihn mitten in sein reines Herz und verwandelte es zu Schwarz. Fortan sog er alle freundlichen Gedanken und jegliche Liebe aus den Herzen der Menschen und Tiere und säte so das Unglück. Angetrieben durch den ganzen Hass wandelten sich die angesammelten Gefühle des Hofzauberers in negative Energie und schon bald darauf verdunkelte sich der Himmel. Seitdem ist meine Welt begraben unter einer hohen Schneedecke, die Menschen haben sich mit der Zeit angepasst an die Kälte und den Schnee, die Tiere jedoch wurden zu Sklaven des Hofzauberers, der seitdem „Der Schwarze Chaosbringer“ genannt wurde. Sein menschliches Aussehen hat er gänzlich verloren, sein Inneres kehrte sich nach außen und enthüllte das Schwarz in seinem Herzen. Der König konnte all dem Hass und Chaos nicht widerstehen und wurde vom Schwarzen Chaosbringer zerstört. Man erzählt sich allerdings eine Sage. Sollte das Schwarze Herz des Schwarzen Chaosbringers auch nur einen einzigen Sonnenstrahl abbekommen, so löst sich das Schwarz gänzlich und für immer auf und Liebe und Frieden regieren wieder in meiner Welt. Leider ist dies nur alle 444 Jahre möglich, denn dann bildet sich auf dem Sonnenberg eine Lichtsäule, die für kurze Zeit durch die Wolkendecke dringt und das Sonnenlicht anzieht. Bislang ist es noch niemandem gelungen auch nur einen winzigen Strahl einzufangen. Doch dafür gibt es den Auserwählten. Er soll fähig sein das Sonnenlicht zu bündeln und in ewiges Eis zu sperren, um dann dem Schwarzen Chaosbringer gegenüber zu treten und ihn zu vernichten.

„Versteht Ihr nun, warum Ihr hier seid? Ihr seid dazu auserwählt meine Welt zu retten, ihr endlich wieder Liebe und Frieden zu geben und uns vom Fluch des Schwarzen Chaosbringers zu erlösen.“
Pia nippt am Tee, den der Zwerg ihr gegeben hat.
„Und wie soll ich das anstellen?“
„Ihr müsstet eine kleine Schachtel mit einem Schloss dran besitzen, in ihr befindet sich der Schlüssel zu unserer Welt und das magische Instrument. Nur Ihr könnt die Schachtel öffnen und in meine Welt einkehren.“
Pia holt Onkel Jacks Geschenk hervor und legt es auf den Tisch. Sofort beginnen die Augen des Zwerges vor Freude zu leuchten und er grinst.
„Das ist sie, öffnet sie!“
„Das geht nicht, mir fehlt der Schlüssel.“
„Benutzt Euren Verstand, Ihr seid in der Lage sie zu öffnen!“
Pia denkt nach. Die Form des Schlüsselloches kommt ihr sehr bekannt vor. Irgendwo hat sie es schon einmal gesehen. Nach kurzem Nachdenken fällt es ihr ein. Es war in einem Märchenbuch. Sie steht vom Tisch auf und geht zum Bücherregal des Zwerges. Ihr Blick streift über die vielen Buchrücken, dann nimmt sie wahllos ein Buch heraus und schlägt es auf. Auf der Seite ist ein großer Schlüssel abgebildet, ein Lächeln breitet sich auf Pias Gesicht aus. Sie greift in die Seite und zieht einen Schlüssel aus ihr hervor.
„Ich wusste es, sie ist es.“, hört sie den Zwerg atemlos sagen.
Pia geht zurück zum Tisch und nimmt Onkel Jacks Geschenk in die Hand. Sie schiebt den Schlüssel in das Schloss und dreht ihn herum. Mit einem leisen Klick schnappt der Deckel auf und enthüllt einen weiteren Schlüssel. Als Pia ihn aus der Schachtel nimmt, sieht sie, dass dieser aus Glas ist, außerdem fühlt er sich eiskalt an. Ganz vorsichtig legt sie ihn auf den Tisch und schaut nochmal in die Schachtel. Dort wo der Schlüssel war ist eine Vertiefung, in der eine kleine Flöte liegt.
„Wofür ist die?“, fragt Pia.
„Das weiß ich leider nicht, oh Auserwählte.“
„Sie ist Hilfe, ihr sie spielt und alle Hindernisse sich wegmachen.“
Pia legt die Flöte wieder in die Schachtel und betrachtet den Schlüssel genauer. Obwohl er aus Glas zu sein scheint kann sie nicht durch ihn hindurch schauen.
„Ist ewiges Eis, nicht Glas.“, sagt der große Vogel. „Da man nicht durch sehen kann, nur drin was aufbewahren kann.“
Auch der Schlüssel verschwindet wieder in der Schachtel und Pia legt alles sorgfältig und vorsichtig in ihren Rucksack. Schweigend setzt sie sich wieder an den Tisch zu Zirkon und gerade als dieser den Mund auf macht, um etwas sagen zu wollen, klatscht etwas gegen die Fensterscheibe. Entsetzt starrt Pia auf das Ding, welches an der Scheibe klebt und seine gelben Augen auf sie richtet. Es sieht aus wie eine Schnecke, nur haben Schnecken keine mit Zähnen gefüllten Spalten an ihrem Bauch.
„Es sind Ponkter, sie sind hier um Euch zu holen, oh Auserwählte?“
„Ponkter?“
„Seelenlose Kreaturen, geschickt, um zu verhindern, dass das Licht seine Bestimmung findet, wir müssen fliehen, schnell.“
„Aber wohin?“
„In meine Welt.“
Mit diesen Worten zerrt Zirkon Pia vom Stuhl und aus der Tür heraus.
„Flattermann, beschütze uns.“
„Sehr wohl.“
Der große Vogel öffnet sein Maul und eine rote Kugel fliegt daraus hervor und kurz danach hört Pia das Quietschen eines verbrennenden Reifens.
„Auserwählte, erinnert Ihr Euch noch an die Weggabelung?“
„Ja.“
„Gut. Jetzt müsst Ihr den rechten Weg wählen, bis zum Ende und dann die verborgene Pforte mit dem Schlüssel, den Ihr soeben fandet, öffnen. Beeilt Euch, Ihr könnt es nicht verfehlen.“
„Du kommst nicht mit?“
„Ich kann nicht in meine Welt, solange Ponkter in Eurer sind. Ein schwarzer Zauber liegt auf ihnen und ich muss sie vernichten. Wenn wir Glück haben sind es nur ein paar. Aber ich bezweifele dies ehrlich gesagt.“
„Was ist mit den Wächtern?“
„Sie werden Euch nichts tun, solange Ihr zügig voranschreitet und nicht stehen bleibt“
„Aber du sagtest man kann sie nur mit Licht verjagen!“
„Ihr tragt ein besonderes Licht in Euch. Das Licht der Unschuld. Und jetzt lauft, ich bitte Euch. Beeilt Euch und rettet mein Land. Wenn ihr dort seid fragt nach Filius, er wird Euch den weiteren Weg weisen.“
„Aber...“
„Geht, nun los.“
„Aber ...“
„SOFORT!“
Zirkon dreht sich um und auf einmal schießen Feuerbälle aus seinen Händen heraus. Mit vor Schreck geweiteten Augen schaut Pia sich eine furchtbare Kulisse an:
Aus dem Wald kriechen hunderte und abertausende Ponkter hervor und stürzen sich auf das Haus und seine beiden Bewohner, die sich schreiend verteidigen. Der Anblick treibt Pia Tränen in die Augen.
„LAUFT, NUN MACHT SCHON!“
Pia lässt sich nicht mehr lange aufhalten uns rennt los. Der Weg scheint sich elendig weit zu ziehen. Rechts und links sieht sie die Schatten hin und her huschen, ein unheimliches Geflüster dringt an ihr Ohr. Nach einigen Minuten, die ihr wie Stunden vorkommen, erreicht sie die Weggabelung und hält inne. Schnaufend und hustend beobachtet sie den rechten Weg. Er ist stockdunkel. Keine Angst Pia, du schaffst das schon. Und zeitgleich schießen ihr Zirkon’s Worte in den Kopf. ... solange Ihr zügig voranschreitet und nicht stehen bleibt
Eine Bewegung hinter ihr. Pia dreht sich blitzartig um. Nichts. Geflüster. Wieder eine Bewegung. „Du trägst das Licht in dir Pia, du trägst das Liihiicht ... Dir kann keiner was tun ...“ Vorsichtig geht sie rückwärts in Richtung des rechten Weges, als etwas über ihren Kopf hinweg fliegt Pia öffnet den Mund und fängt an laut zu schreien, sie dreht sich um um rennt den rechten Weg entlang, erfasst von Panik und Ekel. Das Ding, welches über sie hinweg geflogen ist, fühlte sich wie Eis an.
Pia rennt und rennt, als sie über die Schulter hinweg schaut sieht sie die Schatten näher kommen, die Silhouetten sind nun gut erkennbar.
Pia erreicht eine Wand und bemerkt es erst, als sie beinahe dagegen läuft. Sie holt den Schlüssel hervor und sucht nach Atem ringend nach einem Schlüsselloch.
„Wo ist es denn nur“?, fragt sie zähneknirschend.
Pia spürt, das etwas hinter ihr steht, spürt kalten Atem in ihrem Nacken. Langsam dreht sie sich um und als sie kurz davor ist, die Gestalt zu erkennen, legt sie die Hände über die Augen und fängt an zu schreien. Die Gestalt schreit auch, ein schriller hoher Laut, der ruckartig abbricht. Pia lugt durch ihre Hände und sieht, dass der große Vogel sich auf den Wächter gestürzt hat.
„Ihr die Pforte öffnen!“
„Wie? Ich finde kein Schlüsselloch?“
„Wenn kein Schlüsselloch da Ihr müsst euch machen eines! Macht schnell!“
Pia dreht sich um und sucht die Wand ab. Wenn kein Schlüsselloch da ist musst du dir eines machen ... Sie hebt den Schlüssel und holt einmal tief Luft, dann drückt sie ihn gegen die Wand.
Er verschwindet in einem unsichtbaren Loch, sofort erscheint der Umriss einer Tür in der Wand.
„Ihr sie nun öffnen müsst! JETZT!“
Pia zerrt an einer leuchtenden Türklinke, dann schwingt die Tür mit einem Ruck auf und Pia schaut in das weißeste Weiß, welches sie jemals erblickt hat. Hinter ihr türmen sich die Schatten auf und als sie zurückschaut sieht sie nur noch schwarz.
„HINDURCH IHR GEHEN SOLLT!“
Und Pia schreitet durch die Pforte und es fühlt sich so an, als gehe sie durch flüssiges Eis.


Vier Götter
Weißes Licht umgibt Pia, so hell, dass sie ihre Augen schließen muss. Doch obwohl alles um sie herum weiß ist empfindet sie keine Kälte, im Gegenteil – eine wohlige Wärme durchströmt ihren Körper. Um sich herum hört sie ein leises Surren, doch als sie genauer hinhört erkennt sie, dass jemand zu ihr spricht.
„Hab’ keine Angst, es tut dir niemand etwas.“
„Lasse die Augen geschlossen, es ist besser so.“
„Bewege dich nicht, es ist alles gut.“
„Sprich nicht, es gibt im Moment nichts zu fragen.“
Pia verharrt ganz still. Sie scheint zu schweben, jedenfalls spürt sie keinen Boden unter ihren Füßen Dann merkt sie einen leichten Wind. Er fährt ihr durch’s Haar, schlägt Wellen am Stoff ihrer Hose und drückt sie sachte nach vorne. Auch der Wind ist warm.
„Komm näher, wir tun dir nichts.“
„Wir brauchen dich.“
„Lasse die Augen geschlossen, es ist besser so.“
„Mach deinen Kopf frei von allem Schlechten.“
Dann wird es etwas dunkler vor ihren Augen und Pia merkt, dass sich etwas vor ihr befindet. Der Wind hat aufgehört zu wehen und Pia bewegt sich nun nicht mehr. Ihre Füße berühren den Boden und Pia sackt ein kleines Bisschen ein.
„Hab’ keine Angst, es tut dir niemand etwas.“
„Entspanne dich, es ist alles gut.“
„Öffne die Augen, empfange unsere Gestalt.“
„Öffne den Mund, nun sind Fragen gewährt.

Pia öffnet die Augen und erschrickt ganz leicht. Sie steht in der Mitte von vier riesigen Stühlen, auf diesen sitzen vier riesengroße Gestalten. Bis auf die Farbe ihrer Haare ähneln sie sich wie ein Ei dem anderen.
„Wer seid ihr?“
„Ich bin die Hüterin des Feuers.“, sagt die Gestalt mit den roten Haaren.
„Ich bin die Wächterin des Wassers.“, sagt die Gestalt mit den blauen Haaren.
„Ich bin der Beschützer der Erde.“, sagt die Gestalt mit den grünen Haaren.
„Und ich bin die Weise des Himmels.“, sagt die Gestalt mit den weißen Haaren.
Pia schluckt trocken.
„Mein Name ist Odera.“, sagt die Hüterin des Feuers.
„Mein Name ist Likida.“, sagt die Wächterin des Wassers.
„Mein Name ist Hark.“, sagt der Beschützer der Erde.
„Und ich bin Bhar.“, sagt die Weise des Himmels. „Wir zusammen sind die Götter von Thorea. So heißt unsere Welt.“
„Könnt ihr mir sagen wo ich nun hin muss?“
„Nein, das können wir leider nicht.“, sagt Hark. „Du musst deinen Weg selbst finden.“
„Aber es wird sich ein Gefährte dir an die Seite stellen, du wirst sie bald treffen.“, verkündet Bhar. „Nun mach dich auf den Weg, lass dir vom Licht den Weg weisen.“
„Wir werden dich beschützen aus den Tiefen des Wassers...“
„... der Hitze des Feuers...“
„... mit den Geschöpfen der Erde ...“
„... und mit dem Geschenk des Himmels. Jedoch können wir dir jeder nun ein einziges Mal helfen, entscheide gut, wann du unsere Hilfe brauchst und rufe unsere Namen. Nun leb wohl, erfülle deine Aufgabe.“
Und es wird wieder hell um Pia und sie schließt ihre Augen.

Das Dorf Marsenwald
Als Pia um sich blickt sind die Götter verschwunden und sie steht am Rande eines verschneiten Feldes. Dichter Schnee fällt in großen Flocken aus den Wolken und es ist eiskalt. Ein paar hundert Meter weiter hinten erkennt Pia den Umriss eines Dorfes und setzt sich in Bewegung. Der Weg durch den Schnee ist sehr schwer und nach wenigen Schritten protestieren ihre Füße unter Schmerzen. Sie bleibt stehen und schaut zum Himmel. „Vier Götter ...“ Nach ein paar Minuten Pause geht sie weiter und mit mehreren kleinen Pausen erreicht sie endlich das Dorf. „Marsenwald, Pforte zum Himmel“ steht auf dem Schild. Das Dorf sieht sehr gemütlich aus, aus allen Schloten kommt dicker weißer Qualm, überall laufen Kinder herum in dicken Wintermänteln und erfreuen sich am Schnee. Es scheint gerade Markt zu sein, denn es stehen unzählige Stände auf einem großen Platz, es herrscht ein lautes Stimmengewirr. Als Pia auf den Markt zu geht bemerkt sie, dass ein kleiner Junge am Rock seiner Mutter zieht und auf Pia zeigt. Die Frau schlägt die Hand vor den Mund und geht schnell zu einer anderen Frau. Kurze Zeit später steht Pia inmitten einer großen Menge, alle schauen sie an und sind mucksmäuschenstill.
„Wer ist das?“, hört Pia irgendwo jemanden fragen.
„Eine Fremde!“
„Was will sie hier?“
„Hoffentlich nichts Schlimmes ...“
Pia geht immer weiter, doch die Dorfbewohner versperren ihr den Weg. Zwei große Männer bäumen sich vor ihr auf.
„Was willst du hier, fremdes Mädchen?“
„Ich bin geschickt worden, um...“
„Geschickt worden! Natürlich! Ich sage euch – das Schwarz hat sie geschickt!“
Als der Mann den Namen des Bösen sagt schreien einige Frauen schrill auf und ein hektisches, erschrockenes Gemurmel erklingt.
„Nein, nicht er hat mich geschickt, ein kleiner Mann namens Zirkon!“
„Zirkon? Der Magier?“
„Wofür hat er dich geschickt?“
„Ich soll ... er bat mich ...“
„Nun sprich schon.
Pia atmet tief ein.
„Ich bin die Auserwählte. Ich soll zum Sonnenberg reisen, um dort das Sonnenlicht in Empfang zu nehmen und den Schwarzen Chaosbringer zu vernichten.“
Aus dem erschrockenen Gemurmel werden schlagartig erstaunte „Oh’s“ und auf einmal teilt sich die Menge.
Eine große Frau schreitet auf Pia zu, ihre dunklen Haare sind das perfekte Gegenstück zum Schnee.
„Seid gegrüßt, oh Auserwählte. Mein Name ist Saia. Ich bin Eure Gefährtin. Lasst uns am Besten sofort aufbrechen, die Zeit drängt.“
„Lass das Mädchen in Ruhe, Hexe. Hast du nicht gehört was sie gesagt hat?“
„Das habe ich sehr wohl. Ich bitte Euch mir zu vertrauen, oh Auserwählte.“
„Geh wieder in dein Hexenhaus und brau deine Tränke!“
„Genau, lass uns zufrieden mit deiner dunklen Magie.“
„Niemand braucht eine Hexe wie dich.“
„Mach, dass du hinfort kommst, sonst ...“
„HALTET ALLE DEN MUND!“
Pia ist auf einen Brunnen geklettert, als die Dorfbewohner Saia niedergemacht haben und hat alle aus Leibeskräften angeschrien.“
„Ich denke, dass ich immer noch selber entscheiden kann, wem ich vertraue und wem nicht. Saia, bitte begleite mich und zeige mir den Weg zum Sonnenberg.“
„Sehr gerne, oh Auserwählte.“
„Und ihr alle – ihr solltet euch lieber freuen, dass jemand gekommen ist, um euch zu retten, ihr solltet ihn besser nicht gleich wieder verscheuchen.“
Wütend springt Pia vom Brunnen und geht zu Saia.
„Hättest du vielleicht einen dieser tollen Mäntel für mich? Mir ist richtig kalt ...“
„Aber gewiss, alles was mein ist soll das Eurige sein.“
Die Menge flüstert und tuschelt, als Pia und Saia Richtung Dorfausgang gehen und einer der Männer, die Pia aufgehalten haben, ruft ihnen etwas hinterher.
„Du wirst es noch sehen, fremdes Mädchen. Der Hexe darf man nicht trauen!“
„Hört bitte nicht auf sie, oh Auserwählte. Sie ächten mich, weil ich außerhalb des Dorfes wohne und kranke Tiere mit selbst gebrauten Tränken heile.“
„Ach schon ok. Aber nenn mich bitte Pia, das ganz Geplänkel um die Auserwählte ist mir unangenehm ...“
„Sehr gerne, Pia.“, sagt Saia und lächelt.
Nach einem kurzem Marsch erreichen die beiden Saias Hütte. Sie ist klein und Pia findet sie niedlich. Sie steht etwas schief, woran der Schnee wohl Schuld ist. Saia läuft kurz hinein und verweilt dort einen Augenblick, dann kommt sie mit einem warmen Mantel und einer Tasche wieder heraus.
„Hier, der Mantel ist für dich. Er ist aus dem Fell eines sprechenden Bären gemacht, den ich nicht mehr retten konnte. Ich hoffe er wird dir gute Dienste bringen und der Geist des Bären sich wärmen.“
„Was ist in der Tasche?“
„Ein paar Tränke, falls wir unterwegs verletzten Tieren begegnen, einem Zauberbuch und etwas Proviant.“
„Dann ist es also wahr, du bist eine Hexe?“
„Es gibt gute und böse Hexen, die letzte böse Hexe wurde vor vielen vielen Jahren verbrannt, doch seit der Herrschaft des Chaosbringers bekennen sich immer mehr Hexen zur falschen Seite.“
„Und was ist die richtige Seite?“
„Das Sonnenlicht zu fangen und den Schwarzen Chaosbringer zu vernichten. Mein Volk hat lange genug unter ihm gelitten.“
Schweigend gehen die beiden weiter durch den Schnee, eine kleine Gruppe der verschiedensten Waldtiere begleitet sie.
„Das sind alles meine Freunde, das Eichhörnchen hier – es lag halb erfroren im Schnee. Ich gab ihm einen meiner Tränke und schon war es wieder putzmunter.“
„Du scheinst dich sehr gut mit den Tieren zu verstehen.“
„Sie sind meine einzigen Freunde und ich habe sie sehr gerne. Die Dorfbewohner achten die Tiere nicht genug, deswegen verachte ich sie und gehe nur sehr selten in ihr Dorf.“
„Klingt ja nicht gerade harmonisch ...“
„Ich bin glücklich, warum sollte es also anders sein?“
„Das ist wohl wahr.“, sagt Pia und lächelt Saia an.

Nach vielen Stunden hartem Fußmarsch halten die beiden an, um eine Pause zu machen, Saia beschwört ein kleines Feuer und Pia wärmt sich auf. Das letzte Tier hat schon vor einigen aufgegeben ihnen zu folgen, so dass die beiden eine große Strecke alleine gelaufen sind.
„Wir brauchen noch ungefähr anderthalb Tagesmärsche, bis wir am Sonnenberg ankommen. Aber wir müssen durch das Nebeltal.“
Saia schluckt schwer und wischt ihre Nase ab.
„Was ist am Nebeltal denn so schlimm?“
„Es ist bisher nie jemand zurückgekehrt.“
Mit erschrockenem Blick schaut Pia Saia an, als diese ihre Augen aufreißt
„Es ist jemand hier. Nimm deine Sachen.“
Mit einem Wink erlischt das Feuer und es ist still. Saia schaut angestrengt umher, als ob sie versuche irgendetwas zu sehen.
„Irgendetwas ...“
„Ich habe Angst.“
„Bleib ganz ruhig, sonst ...“
Mit einem lauten Brüllen kracht etwas zwischen den Bäumen hervor, es sieht aus wie ein riesiger Wolf, aber er hat zwei Köpfe.
„Schnell, versteck dich!“, ruft Saia noch, aber es ist zu spät. Der Wolf springt genau zwischen Saia und Pia und die Erde erbebt. Im rechten Maul des Wolfes brennt ein großes Feuer, im linken eine grüne Kugel und er schaut Pia mit hungrigen Augen an.
„Hey, lass sie in Ruhe, du Monster!“, ruft Saia, doch der Wolf hört nicht hin. Er öffnet das Maul und eine Flamme schießt aus seinem Maul hervor, als es plötzlich hinter ihm knallt und er sich umdreht.
„Penrake disimbile peridian.“, ruft Saia und ein kleiner Blitz schlägt in den linken Kopf des Wolfes. Er schüttelt sich kurz, dann öffnet er wieder sein Maul und die Flamme beginnt zu wachsen.
Jedoch können wir dir jeder nun ein einziges Mal helfen, entscheide gut, wann du unsere Hilfe brauchst und rufe unsere Namen.
„Das ist es, das brauchen wir jetzt!“, ruft Pia laut. „Likida, Hark – bitte helft uns!“
Kurze Zeit passiert nichts, als plötzlich die Erde wieder erzittert, diesmal jedoch heftiger, als beim Wolf. Grosse Risse zeichnen sich auf dem gefrorenen Boden ab, rings um das Monster.
„Pia, lauf schnell zu mir, das ist ein Erdbeben.“
Blitzschnell läuft Pia um den Wolf herum und als sie Saia erreicht bricht der Boden zusammen und begräbt den Körper des Wolfes in einer Senke, seine Köpfe allerdings sind so wütend, dass sie Flammen und grünes Licht in alle Richtungen schießen
„Was ist das für ein Rauschen?“, fragt Saia.
„Es klingt wie Wasser, wie viel Wasser ...“
Und kaum hat Pia die Frage beantwortet, schon stürzt eine riesige Welle von über den Bäumen auf das Geschehen hinab, Saia brüllt „Pensir tehas“ und einen Moment später ist alles still, da die Welle alles überschwemmt hat. Langsam, aber stetig fällt der Wasserstand und alles ist wieder trocken, bis auf einen kleinen See, der einmal die Senke war, in seiner tiefen Mitte treiben die Wolfsköpfe gespenstisch hin und her.
Dann ist alles wieder still, nichts regt sich. Die Oberfläche des neues Sees ist spiegelglatt. Pia und Saia stehen in einer Lichtkugel, Saia hält die Arme nach oben. Kein Tropfen ist zu ihnen vorgedrungen. Dann erlischt die Lichtkugel und Saia lässt keuchend ihre Arme fallen.
„Man war das knapp!“
„Das kannst du laut sagen ...“
„Bereit weiter zu gehen, Pia?“
„Ich denke schon.“
Pia lässt Saia noch ein paar Minuten verschnaufen, dann setzen die beiden sich wieder in Bewegung.
Es dauert ein paar Stunden, bis Saia durch ein Handzeichen Pia zum Stoppen bringt. Sie hebt den Finger an ihre Lippe und deutet an still zu sein.
Vor ihnen befindet sich nur weiß. Dichter Nebel erstreckt sich wie eine Wand über ein ganzes Tal und sogar darüber hinaus. Kein Wind bläst hier, der Ort fühlt sich tot an.
„Das ist das Nebeltal, richtig?“, fragt Pia.
„Absolut richtig.“
„Da müssen wir durch?“
„Mhhm.“
„Wird es gefährlich werden?“
„Mhhhhhhhm.“
„Puh, aber gut – es geht nun mal nicht anders. Außerdem habe ich noch eine letzte Rettung falls alles plötzlich schief läuft.“
Mit diesen Worten treten die beiden über die Schwelle zwischen Licht und Nebel.

Im Nebeltal
\"Lord, die beiden haben das Nebeltal erreicht.“
„Ich weiß.“
„Sie haben den Wolfswächter vernichtet.“
„Ich weiß.“
„Glaubt Ihr, Lord, sie schaffen es durch das Nebeltal?“
„Nein.“
„Soll ich vorsichtshalber die Wächter aus ihrem Gefängnis lassen?“
„Ja.“
„Sehr wohl, Lord. Alles geschieht wie Ihr es befehlt.“
Der Diener verbeugt sich und verlässt den Thronsaal.
„Tz tz tz. Ein Kind soll mich stürzen. Kleine Pia, möge dein Tod langsam und schrecklich sein, ich möchte schließlich auch ein wenig Freude an deinem Versuch haben, mich zu vernichten.“
Und es wird dunkel im Saal.

Der Nebel ist kalt. Pia und Saia laufen nun schon seit einer guten halben Stunde durch den Nebel, ohne jedoch zu wissen wohin genau sie der Weg führt.
„Woher wissen wir eigentlich wo wir lang müssen?“
„Schau auf den Schlüssel, er wird uns weisen.“
Pia holt den kalten Schlüssel hervor und er beginnt im matten Licht des Nebels zu leuchten.
„Und nun?“
„Dreh dich mal ein wenig.“
Pia dreht sich wenig nach links und ein wenig nach rechts und plötzlich strahlt der Schlüssel tiefrot.
„In diese Richtung müssen wir laufen.“
Als Pia einen Schritt nach vorne geht erzittert der Boden.
„Was war das?“
„Ich weiß es nicht ...“
Das Zittern wird immer heftiger, dann bricht es auf einmal ab. Ein tiefes Grollen kommt von ganz weit hinten und wird von Atemzug zu Atemzug lauter.
Plötzlich brechen rings um die beiden herum vier riesige Arme aus dem Boden hervor, aber keine gewöhnlichen Arme. Nebelarme. Zu ihnen gesellen sich vier unglaublich große und massige Körper und einen weiteren Atemzug später stehen vier ausgewachsene Nebelriesen vor ihnen.
„Pia, LAUF!“, brüllt Saia.
Pia hält sich an Saias Hand fest und die beiden rennen in die Richtung, die ihnen der Schlüssel gezeigt hat.
„Peratra diffendi!“, schreit Saia und dreht sich dabei um. Ein Lichtstrahl durchtrennt die vier Riesen und ihr Körperhälften fallen auf den Boden. Doch einen Augenblick später stehen plötzlich acht Riesen vor ihnen, gebildet aus den zerteilten Körpern der alten.
„PERATRA DIFFENDI!“ Wieder ein Lichtstrahl. Wieder zertrennte Riesen. Und dann stehen doppelt so viele Riesen vor ihnen.
„Es bringt nichts, wir müssen einfach laufen.“
„Nein warte, lass mich bitte.“, sagt Pia.
Pia rennt los und in die Mitte, zwischen die vielen Riesen.
„Kommt und holt mich doch!“
Langsam und fließend drehen die Riesen sich zu ihr um und beugen sich zu ihr herunter.
„Odera, Bhar – bitte helft mir!“
Einen kurzen Moment passiert gar nichts. Dann schießt aus dem Himmel auf einmal eine Lichtsäule herab und hüllt Pia in strahlendes Gelb. Sie erfasst sofort die Riesen, welche sich schmerzerfüllt im hellen Licht winden. Dann ein lautes Krachen und die Lichtsäule entzündet sich.
„PIA, NEEEEEEEEEIN!!!“
Einen Augenblick später brennt die Lichtsäule und die Flammen fressen sich am Verlauf entlang zu den Riesen und verbrennt sie alle gnadenlos. Aber nicht nur das. Durch die Hitze verdampft der ganze umliegende Nebel und gibt den Blick frei auf ein ödes steiniges Tal.
Und dann ist alles auch schon wieder vorbei. Das Feuer erlischt und das Licht verschwindet, nun steht nur noch Pia in dem einstmaligen Kreis und duckt sich auf dem Boden. Saia rennt zu ihr und umarmt sie.
„Ist es vorbei?“
„Ja, ich glaube schon. Nun komm Pia, es ist nicht mehr weit.“
Pia und Saia rennen dem Schlüssel nach und kurze Zeit später verlassen sie das Tal.
„Siehst du da vorne? Das ist der Sonnenberg! Es dauert nicht mehr lange und wir sind da!“
Ein Berg ragt vor ihnen empor und eine lange Treppe führt auf seinen Gipfel empor. Ganz oben kann Pia eine Mauer sehen, die scheinbar rings um den Gipfel herum läuft.
Pia und Saia machen keine Pause, sondern beginnen sofort die Treppe zu ersteigen. Anfangs ist es noch leicht, aber nach ein paar hundert Stufen muss Pia anhalten.
„Ich kann nicht mehr.“
„Du musst, nur noch ein kleines Stück.“
„Gib mir eine Pause.“
„Pia, bitte. Du hast es bald geschafft.“
Pia atmet noch ein paar Mal tief ein und aus, dann hält sie auch schon wieder Saias Hand und rennt weiter die Treppe hinauf.

„Die Giganten sind besiegt, Lord.“
„Ich weiß.“
„Was machen wir nun?“
„Ich schicke das Schwarz, es wird sich um sie kümmern.“
„Seid Ihr ganz sicher, dass ihr ...“
„Schweig! Es ist meine letzte Chance.“
Und er hebt die Arme und aus ihnen heraus schießt das Schwarz und es fliegt Richtung Sonnenberg.

Das Licht im Schlüssel
Als Pia sich belanglos umdreht sieht sie ganz fern am Horizont einen dünnen schwarzen Strich in den Himmel emporsteigen.
„Saia, was ist das?“
„Oh nein.“
„Was denn? Was ist es?“
„Das Schwarz. Komm, wir müssen uns beeilen, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Wenige Minuten später erreichen sie die Mauer und Pia rennt durch eine Lücke hindurch. Als Saia zwischen die Steine tritt wird sie von einem schwarzen Lichtstrahl erfasst und zurück geworfen.
„Ich kann nicht weiter, lauf Pia, rette unser Land.“
„Aber ich kann nicht ohne dich weiter!“
“Doch, du musst. Nun geh, ich schaffe es schon ... irgendwie ...“
„Saia!“
„Pia. Nur du kannst uns retten. Sieh wie nah das Schwarz schon ist.“
Und Saia hat recht. Der schwarze Streifen ist größer geworden und hat nun schon fast das Nebeltal erreicht. Traurig schaut Pia zu Boden.
„Du schaffst es, ich weiß es.“
Pia schaut Saia ins Gesicht. Dann nickt sie.
„Ich werde es schaffen. Halte durch.“
Sie umfasst den Schlüssel feste, atmet tief durch und rennt weiter. Die letzten Stufen erweisen sich als leicht, schon nach wenigen Minuten steht Pia ganz oben auf dem Gipfel und als sie sich umschaut bekommt sie einen großen Schrecken.
Das Schwarz beginnt nun den Berg hinauf zu kriechen und von der Welt dahinter ist nichts mehr zu sehen. Kein Licht, kein Nebeltal, keine Saia, nichts.
„Verdammt, was muss ich denn nun tun?“
Sie dreht und wendet den Schlüssel in ihren Händen, sucht einen Knopf, einen Schalter, irgendetwas. Dann hört sie ein wildes Flüstern. Es ist das Schwarz, es tritt nun hinter die Mauer. Verzweifelt dreht sich Pia im Kreis, weiß nicht wohin und was sie tun soll.
„Sie werden Euch nichts tun, solange Ihr zügig voranschreitet und nicht stehen bleibt.“
„Aber du sagtest man kann sie nur mit Licht verjagen!“
„Ihr tragt ein besonderes Licht in Euch. Das Licht der Unschuld.“
Das ist die Lösung. Pia schaut sich den Schlüssel noch einmal genau an, das Schwarz kommt bereits von allen Seiten auf sie zu gekrochen Dann setzt sie den Schlüssel an ihrer Brust an, schließt die Augen – und drückt ihn in sich herein.

Die Wolken brechen auf, Hitze schießt von oben herab und hüllt Pia in wohlige Wärme. Das Sonnenlicht dringt in Pia ein, in jede Pore ihres Körpers. Es erwärmt ihr Blut und fließt in den Schlüssel in ihrer Brust, Pia scheint zu schweben.
Dann donnert es mit einem ohrenbetäubenden Lärm aus ihr heraus, bahnt sich mit geradem Strahl den Weg durch das Schwarz und Richtung Schloss des Chaosbringers. Wo es auf das Schwarz trifft reißt es es in Stücke, zerreißt es, löst es auf, nach einem einzigen Augenblick schießt es über das Dorf und eine Sekunde später dringt es durch die Fenster in den Thronsaal ein.

Der Lord weiß, dass es zu spät ist, als er das Sonnenlicht sieht. Einen Moment später dringt es durch die Fenster seines Thronsaales zu ihm heran und beginnt an ihm zu fressen. Ein stummer Schrei gellt durch die Dunkelheit des Schlosses und eine Sekunde später ist aller Hass, alles Böse, alles Schwarz aus dem Schloss vernichtet und verbannt, die Wolkendecke löst sich auf und die Sonne erleuchtet das Land. Aber der Lord ist froh, wenigstens ein einziges so etwas einzigartiges und wunderschönes gesehen zu haben wie das Sonnenlicht. Dann hört er auf zu existieren.

Mit einem kleinen Hüpfer erwacht Pia in ihrem Bett und schaut sich verwirrt um. Wo ist Saia? Das Schwarz? Was ist passiert? Konnte sie Thorea retten?
Sie schlägt die Decke über ihren Kopf und zwingt sich dazu wieder zurückzukehren, doch als sie wieder auftaucht befindet sie sich immer noch in ihrem Zimmer.
Als sie aus dem Fenster schaut lächelt sie ganz plötzlich – es schneit. Dicke weiße Flocken fallen von Himmel und als sie ans Fenster tritt sieht sie, dass die Welt draußen von einer dicken Schneeschicht bedeckt ist.
Auf einmal weht ein Windhauch den Schnee an ihr Fenster und an der Glasscheibe bilden sich Eiskristalle. Pia traut ihren Augen nicht, reibt einmal heftig an ihnen, aber trotzdem stehen dort plötzlich Worte und Buchstaben.

Pia,
mein Land ist gerettet, du hast es geschafft. Dank dir kann
Thorea wieder aufatmen und in Frieden weiter existieren.
Wir werden uns leider nie wieder sehen, ich hoffe du bist
nicht allzu traurig.
Ich habe in deinem Herzen einen Wunsch gelesen und
ich hoffe ich habe ihn zu deiner Zufriedenheit erfüllt.
Es war wunderschön dich kennen gelernt zu haben.
In tiefster Verehrung,
Saia.


Dann kommt ein weiterer Windhauch und als Pia wieder hinschaut ist der Brief verschwunden.
So hat sich alles doch noch zum Guten gewendet. Das Schwarz ist besiegt und Thoreas Bewohner sind wieder friedlich zueinander. Und auf einmal bemerkt Pia, dass es doch nicht so schlimm ist, dass sie kurz vor Weihnachten Geburtstag hat. Denn das größte Geschenk hat ihr heute eine ganz besondere Person gemacht.
Schnee von Saia, einer ganz besonderen Freundin.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe.
eine sehr gute fantasy story ist dir hier gelungen. bin gespannt auf dein nächstes werk und wünsche dir viel vergnügen im grünen land.
lg
 

Hochgiftig

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Ein merkwürdiges Geschenk

Es ist der 21. Dezember, Pias 10. Geburtstag. Draußen ist es schon dunkel und innen strahlen die Lampen des Wohnzimmers. Am Wohnzimmertisch sitzt Pias Verwandtschaft, darunter auch ihr Onkel Jack aus England.
„Er ist extra für dich aus London hergekommen, also zieh nicht so ein Gesicht, ja?“, hatte Pias Mutter ihr am Nachmittag gesagt.
So kurz vor Weihnachten Geburtstag haben ist echt blöd. Die Verwandtschaft nutzt die Gelegenheit, um Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke auf einmal zu schenken.
Mit künstlichem Lächeln nimmt sie die Geschenke entgegen, sagt jedes mal „danke“ und stellt sie dann auf den Geburtstagstisch. Als sie nach draußen schaut sieht sie den Regen, der schon seit Stunden auf die Erde fällt.
\"Dabei ist es so kurz vor Weihnachten ...“, murmelt sie leise. Laut Wetterbericht hätte schon seit zwei Wochen Schnee liegen müssen. „Wieso schneit es an meinem Geburtstag nicht?“, fragt sie in den Raum hinein.
Aber es hört sie niemand, denn alle reden laut, trinken Wein und Bier und rauchen eine Zigarette nach der anderen, Onkel Jack sogar Zigarre. Das ist das Einzige, was Pia nie an ihm leiden konnte. Mit großen Augen schaut sie ihn an, wie er grad mit Tante Elisabeth redet. Für einen winzigen Moment wird es still im Raum, so als ob jedes Geräusch verschluckt worden wäre, und Jack dreht die Augen zu seiner Nichte. Ihre Blicke treffen sich und er lächelt, sie lächelt zurück, dann zwinkert er.
Gegen 23 Uhr sitzen nur noch Pia, Onkel Jack und ihr Vater im Wohnzimmer, die anderen sind schon gegangen. Pias Mutter ist in der Küche und spült. Im Raum duftet es nach Zimt und Gebäck, eine Duftkerze brennt auf dem Tisch.
„Entschuldigt mich bitte eben, das Bier ...“, sagt Papa und geht aus dem Wohnzimmer. „Pia, setz dich doch mal neben mich.“, sagt Onkel Jack und Pia steht vom gemütlichen Schaukelstuhl auf und setzt sich neben ihren Onkel. „Ich habe dir vorhin ja gesagt, dass ich noch etwas für dich habe. Allerdings wollte ich damit warten, bis wir beide einen stillen Moment für uns haben.“ Er steckt sich eine neue Zigarre in den Mund und zündet sie an. Als er den Rauch auspustet bemerkt Pia den anderen, süßlichen, Duft. Onkel Jack kramt in seiner Jacketinnentasche. „Hier, mach deine Hand auf.“ Ein kleines Schächtelchen liegt nun in Pias Hand, ungefähr so groß wie eine Gabel, ein kleines Schloss ist an der Seite angebracht. „Wie bekomme ich das Schloss denn auf? Hast du den Schlüssel verloren?“, fragt Pia verwirrt. „Zu gegebener Zeit wirst du es auf bekommen Glaube mir.“, antwortet Onkel Jack und zwinkert ihr wieder zu.
Eine halbe Stunde später steht Pia an ihrem Zimmerfenster und schaut zu, wie Onkel Jack durch den strömenden Regen zu seinem Auto geht und abfährt. Sie hebt die Hand neben ihre Schulter und winkt leicht, obwohl sie weiß, dass er sie nicht sehen kann. „Pia, Zeit für’s Bett.“, ruft Papa aus dem Wohnzimmer. Pia geht ins Badezimmer und macht sich fertig, dann setzt sie sich noch kurz zu ihren Eltern. „Alles Gute zum Geburtstag mein Schatz.“, sagt Mama und gibt ihr einen Kuss auf die Schläfe. Pia lächelt sie an und geht dann ins Bett. Dick verpackt unter ihrer Bettdecke schaut sie die Leuchtsterne an, die an der Decke kleben und schließt die Augen. „Ich hasse meinen Geburtstag.“, sagt sie leise und eine einsame Träne läuft ihr die Wange hinab, dann dreht sie sich um und schläft ein.

Aus einer Träne
Von oben fällt ein riesengroßer Tropfen hinab und klatscht auf das Bettlaken, aber anstatt zu zerfallen und sich zu verflüssigen bleibt er auf dem Bett liegen. Er bäumt sich auf, dann ploppen auf einmal zwei Arme und Beine aus ihm heraus. Ein Tränenmännchen ist geboren. Es schaut nach links, dann nach rechts, dann schaut es hinauf zu seiner Schöpferin. Tränenmännchen können nur geboren werden, wenn jemand etwas so gerne haben möchte, dass dieser Jemand Tränen vergießt Es winkt in die Richtung seiner Schöpferin, aber irgendetwas stimmt nicht. Sie bewegt sich nicht. Achja, es ist dunkel und still, sie scheint zu schlafen.
Das Tränenmännchen dreht sich ein paar Mal im Kreis, dann sieht es zum Fenster hoch. Es schwingt die Arme vor und zurück und auf einmal macht es einen großen Satz und landet auf der Fensterbank. Es quietscht und gurrt glücklich, denn draußen sieht es den Regen, der auf den Boden fällt. Was würde es jetzt dafür geben draußen mit den Regentropfen spielen zu können. Aber halt! Es hat doch eine Mission zu erfüllen. Wenn es nur nach draußen käme könnte es den Hilfsboten rufen. Nach allen Seiten blickend schaut es sich nach einer Öffnung um und entdeckt schließlich auch eine – die Zimmertür steht offen. Es schwingt wieder die Arme vor und zurück und – Ohje, es hat zu viel Anschwung genommen! Wie ein Flummiball schießt es durch den Raum, bevor es gegen die Türe klatscht und an ihr auf den Boden rutscht. Was für ein Flug.
Das Tränenmännchen quetscht sich unter der Tür durch. Von links dringen Stimmen zu ihm heran. Man darf es nicht sehen, sonst löst es sich sofort auf und die Mission wäre gescheitert. Rechts ist eine weitere Tür, aber sie ist geschlossen. Wenn es doch nur ein Fenster finden könnte. „Schatz ... du ... Fenster ... auf ...“, hört das Tränenmännchen die Menschen sagen. Das ist seine Gelegenheit. Vorsichtig schaut es um die Ecke und reißt erschrocken die Hände vor seinen tropfenförmigen Kopf. Ein Mensch ist auf dem Weg zu ihm. Blitzschnell schaut es sich um und sucht nach einem Versteck – Da! Eine Topfpflanze! Mit einem Satz springt es in den Topf und beobachtet zwei Menschen, wie sie aus dem Raum gehen.
Es wartet noch einen Augenblick, dann hüpft es aus dem Topf wieder heraus und springt schnell in das Zimmer. Das Fenster steht halb offen. Flink läuft es über den Teppich bis unter das Fenster, duckt sich und springt mit einem Satz hoch und hinaus in die verregnete Nacht.

Beim Frühstück am nächsten Morgen macht Pia kein glückliches Gesicht. Ihr Hals tut weh und ihre Augen brennen. Sie erzählt ihren Eltern nicht, dass sie sich letzte Nacht in den Schlaf geweint hat.
Draußen regnet es immer noch, die Leute vom Wetterdienst sagen, dass es noch mehrere Tage so bleiben soll. Na klasse, dabei wollte Pia heute eigentlich Annett besuchen gehen. Immerhin hat sie noch ein Geschenk für Pia, da sie gestern krank war. Aber Annetts Mutter meinte, ein Krankenbesuch habe noch niemandem geschadet.
„Wenn es weiter so regnet wird das wohl heute nichts mit deinem Besuch bei Annett, hab ich recht, Pia?“ „Ja, glaube ich auch. Schade.“ Aber was soll’s, so ein Tag vor dem Fernseher kann doch auch ganz toll sein.
Nach dem Frühstück legt Pia sich auf die Couch und schaltet den Fernseher ein. Es läuft natürlich nur Müll. Nichts Interessantes, wie immer so kurz vor Weihnachten. Es dauert nicht lange und ihre Hände erdrücken den Aus-Knopf. „Dann geh ich eben wieder ins Bett und lese.“, denkt sie, nimmt sich eine Tasse Tee und geht in ihr Zimmer. Hier drinnen ist es ganz still, nur der stetige Regen, der gegen das Fenster schlägt. Sie schließt es und legt sich unter die Decke. „Welches Buch lese ich denn diesmal?“, sagt sie zu sich. „’Tom Sawyer’, nee, „Tims Reise“, auch nich’, ‚Die Schneekönigin’, ach, schon tausend Mal gelesen.“ Frustriert lässt sie sich auf’s Bett zurückfallen und starrt an die Decke. „Dann schlaf ich eben ...“, sagt sie leise und schließt die Augen. Der Regen trommelt gegen das Fenster.

Geschafft! Die Nacht hat das Tränenmännchen im Restwasser einer Topfpflanze im Garten verbracht, dort war es kuschelig warm und schön nass. Nun steht es am Fuße des Hügels und schaut hinauf. Wenn es doch jetzt nur fliegen könnte. Die vielen Freunde, die vom Himmel fallen, können ihm leider auch nicht helfen, denn sie bewegen sich in die genau entgegengesetzte Richtung. So viele bekannte Gesichter und so viele neue, da müsste man eigentlich stehen bleiben und sie begrüßen Aber das geht nicht. Denn immerhin hat es eine Mission zu erfüllen. Mühsam kämpft es sich den Hügel hinauf, springen geht nicht, denn die Freunde drücken es immer wieder zu Boden.
Es kommt ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, aber dann endlich – das Tränenmännchen steht auf dem Hügel. Es streckt seine Ärmchen zum Himmel, als ob es alle Freunde, die vom Himmel fallen, auffangen wollte und fängt an im schönsten und hellsten Sopran zu singen.

Überall Wolken, nichts als Wolken, dunkle Wolken, schwarze Wolken, nasse Wolken. Nirgendwo ein Blick gen Boden, nichts zu Hören vom Rufer. Gosse braune Schwingen peitschen durch den Regen, geführt von einem Schemen mit einem Stab. Da – ein Riss in der Wolkendecke, seltsame Töne dringen an das Ohr des Reiters. Die Flügel senken sich nach unten und ein gigantischer Vogel durchbricht die Wolken.

Als es nach oben blickt entdeckt das Tränenmännchen einen dunklen Schatten, der unaufhaltsam näher kommt. Ob er das ist? Schnell rennt es zum nächsten Baum und versteckt sich hinter dessen Stamm. Von oben hört es einen lauten Schrei, genau aus der Richtung des Schattens kommend.
„Ahhhhhh Vorsicht, so brems doch AB!“
„Nicht geht, Boden zu nah. Halt fest!“
Mit einem lauten Geräusch, das sich anhört wie ein Felsen, der in einen See voller Schlamm fällt, schlägt der Schatten auf dem Boden auf.
„Na fa-bel-haft, nun schau dir mal meinen Umhang an, völlig versaut, so kann ich doch dem Auserwählten nicht entgegen treten, dass du auch immer so schnell fliegen musst, ich habe dir schon SO OFT gesagt, dass du auch mal abbremsen sollst, aber NEIN, warum sollte man auch auf mich hören, nur weil ich klein und blind bin heißt das noch lange nicht, dass ich vom Fliegen keine Ahnung habe, also könntest du nun ...“
„Herr, schaut um Euch.“
„Was soll ich denn sehen?“
„Kein Rufer!“
Das Tränenmännchen hört gebannt zu, ein kleines Wesen hüpft vom Rücken eines großen Vogels. Aber – ist es wirklich ein Vogel?
„Toll. Toll, toll, TOLL! Dass sowas auch immer mir passieren muss, erst bekomme ich diesen ungeheuer wichtigen Auftrag und dann verpatzt mir so ein dahergelaufener Idiot wie du einer bist das Ganze, indem er einfach an einem falschen Punkt landet wo ich ihm doch noch gesagt habe, dass wir hier bestimmt falsch sind, aber nein, du …”
„Herr, Ihr gesagt mir haben ich landen soll, also ich haben gelandet bin. Ich nicht sehen irgendwas sein dran falsch!“
„Wage es ja nicht mir zu widersprechen!“
„Ich niemals würde widersprechen Herr!“
Na, die beiden sind ja lustig. Das Tränenmännchen hält sich die Ärmchen vor den Mund und kichert fröhlich.
„Herr, ich hören Geräusch.“
„Aus welcher Richtung kommt es?“
„Baum vorne!“
Da das Tränenmännchen so beschäftigt ist mit kichern bemerkt es nicht, wie der Winzling immer näher kommt, bis er schließlich vor ihm steht. Erschrocken reißt es die Ärmchen hoch und versucht davon zu rennen, aber es hilft nichts mehr. Der Winzling streckt seine Hand aus und schließt sie um das Tränenmännchen.

Eine kleine seltsame Gestalt steht neben dem Baum. Zirkon schaut genauer hin und kann seinen Augen kaum trauen – ein Tränenmännchen! Diese Wesen waren bis zum jetzigen Zeitpunkt nur eine Sage, aber hier steht leibhaftig eines vor ihm. Als es ihn sieht schaut es erschrocken und versucht davon zu rennen, aber Zirkon ist schneller und hebt es auf.
„Hast du uns gerufen?“, fragt er es.
Keine Antwort.
„Bist du der Rufer?“
Da holt das Männchen einmal tief Luft, als ob es etwas sagen möchte, aber aus seinem Munde kommen nur Töne, die klingen wie tropfendes und plätscherndes Wasser, gemischt mit Gurren und Schnalzen.
„Er sagen Ihr ihn sollen lassen los.“
„Du verstehst ihn?“
„Natürlich ich verstehen ihn, ich sprechen alle Sprachen des Reiches, auch diese die kommen vor nicht oft!“
Zirkon lässt das Männchen los und es hüpft auf den Boden. Empört reibt es sich die Hüften, schaut zu ihm hoch und spuckt ihm Wasser ins Gesicht.
„Wo ist der Auserwählte?“
Es öffnet den Mund und heraus kommen seltsame Töne, im Klang etwas freundlicher als die ersten.
„Er sagen wir folgen sollen. Außerdem er sagen Ihr sein fett und hässlich.“
„WAS? Das kann nicht dein Ernst sein, wenn ich dich erwische du ...“
Aber das Tränenmännchen läuft bereits den Hügel hinab, aus seiner Richtung hallen Töne zu den Beiden hoch, die wie ein Kichern klingen. Missmutig folgt Zirkon dem Männchen, der Vogel, Tipo sein Name, läuft hinter ihm her.
„Wir müssen nur aufpassen, dass uns keiner erwischt. Ich kann mich ja schnell verstecken, aber bei dir wird es ein wenig schwieriger.“
„Ich alles tun was Herr wollen.“
„Dann halt den Rand!“
„Das nicht gehen.“
„Du hast eben gesagt ...“
„Ja, aber das nicht gehen.“
„Ja, aber ...“
„Herr, guck!“
Vor ihnen taucht ein kleines Häuschen auf, im Garten sehen sie das Tränenmännchen tanzen und herum hüpfen
„Ich bezweifele, dass wir hier richtig sind, aber wir müssen ihm vertrauen ...“
“Wir nie herausfinden wenn herumstehen wie Ölgötzen!“
„Jaja, ist ja gut, dann mal los.“
Und somit betreten die beiden zum ersten Mal ein von Menschen belebtes Gebiet, ohne zu wissen, was auf sie erwartet.

Draußen scheint der Regen richtig gegen das Fenster zu trommeln, so als ob er nicht wolle, dass Pia einschlafen kann. Sie setzt sich auf und schaut hinaus.
„Warum kann es jetzt nicht schneien? Wenigstens ein kleines Bisschen ...“, sagt sie leise. Grade als sie sich wieder hinlegen will bemerkt sie den Schatten, der durch den Garten huscht. Ein kleiner gebückter Schatten. Erschrocken reißt Pia ihre Augen auf und drückt ihre Nase gegen die Scheibe. Jetzt ist der Schatten natürlich weg, dabei ist sie sich vollkommen sicher, dass dort draußen etwas ist. Voller Angst greift sie nach dem Griff, um das Fenster, welches auf Kipp steht, zu schließen, hält jedoch einen Augenblick inne.
„Meinst du wir werden hier fündig?“ Wir? „Ich schon denken, wir ihn finden müssen den Auserwählten.“ „Jaja, deine klugen Sprüche gehen mir langsam aber sicher auf den Wecker, dabei habe ich dir nie erlaubt so großmäulig zu reden, denn du stehst ja immer noch in meinen Diensten und erst wenn ich dir erlaube so zu ...“ „Seid still kurz, mein Herr. Sich dort bewegen was.“
Oh nein, sie haben mich entdeckt, denkt Pia und duckt sich rasch.
„Verdammt, sie haben uns erwischt, dabei habe ich dir doch ausdrücklich befohlen vorsichtig zu sein und nun das, mit dir hat man auch immer nur Ärger, das liegt wohl daran, dass du so ein riesengroßer ...“
Mit einem lauten Geräusch verstummt die Stimme, es klingt so, als ob man die dazugehörende Person in den Schlamm gedrückt hat.
Vorsichtig lugt Pia über das Fensterbrett nach draußen Der Bewegungsmelder ist angegangen und Pia muss sich das Lachen verkneifen.
Sie sieht einen großen Vogel mit einem langen Hals, der einen Zwerg in den Schlamm drückt. Dort, wo der Kopf des Zwerges sein sollte, befindet sich eine blubbernde Pfütze aus Schlamm.
„Und vor so etwas fürchte ich mich ...“, sagt sie ganz leise, huscht in ihre Pantoffeln und geht still aus ihrem Zimmer. Im Flur ist es dunkel und sie schleicht am Zimmer ihrer Eltern vorbei zur Haustür, aus dem Schirmständer nimmt sie sich einen Schirm.
Der Regen fällt mit unheimlich lauten Geräuschen auf den aufgespannten Schirm. Vorsichtig geht sie weiter auf die merkwürdigen Gestalten zu, sie ist sich nicht sicher ob die beiden sie bereits bemerkt haben.
„Lfff mfff lff!“, hört sie den Zwerg von unten blubbern. „Nicht können, nicht bewegen.“ „Entschuldigung ihr beiden, wer oder was seid ihr?“
Auf einmal dreht sich der Vogel herum und Pia holt erschrocken Luft.
„Wff ifft lff?“ „Still seien, da Mensch seien.“ „Wff ifft denn LOS?“ Bei den letzten beiden Worten gelingt es dem Zwerg sich aus dem Griff des Vogels zu befreien und den Kopf zu heben. Er bleibt abrupt in der Bewegung stehen, offensichtlich geschockt, dass Pia ihn und den Vogel anschaut.
„Versteht ihr mich?“, fragt Pia.
„Was Mensch versuchen?“ „Ich denke sie will Kontakt zu uns aufnehmen.“ „Was wir tun?“ „Wir sprechen am Besten in einfachen Sätzen!“
Der Zwerg steht auf und schüttelt sich, sofort fällt sämtlicher Schlamm von seinem kleinen Mantel ab und er ist wieder sauber.
„Mein Name ist Zirkon. Wer bist du?“
„Pia ...“
„Sei gegrüßt Pia. Ich bin ein Freund.“
„Was wollt ihr hier? Und wer ist dieser Vogel?“
„Das ist mein treuer Diener und Reitvogel. Wir sind hier nur auf ...“
„Mein Herr schauen! Tränenmännchen herum hüpfen!“
„Du sollst mich doch nicht unterbrechen wenn ich mit Menschen Kontakt aufzunehmen versuche, ich habe dir das doch schon tausend Mal gesagt und JEDESMAL unterbrichst du mich als ob ich dir das noch nie erzählt hätte!“
Als der Zwerg diese Worte sagt hüpft er wütend im Kreis und stampft auf dem Boden auf.
„Aber er hat doch recht ...“, sagt Pia leise.
Sie schaut das Tränenmännchen an und sieht, dass es aufgeregt durch den Garten springt und immer wieder auf Pia zeigt.
„Was will es bloß?“, fragt der Zwerg.
„Das sein offensichtlich.“
„Wage es ja nicht, du missratener ...“, will der Zwerg gerade brüllen, als ihm das Tränenmännchen ins Gesicht springt und seinen Kopf in Pias Richtung dreht.
„Zur Hölle mit dir was ... Nein! Willst du etwa sagen, dass sie ...“
Das Tränenmännchen nickt. Pia schaut nur verwirrt alle an, sie versteht überhaupt kein Wort von dem, was die beiden sagen, beziehungsweise meinen.
„Auserwählte ...“, sagt der Zwerg untertänig und kniet vor Pia im Schlamm nieder.
„Hey, steh auf, du machst dich doch noch ganz dreckig.“
„Kein Dreck der Welten kann mich aufhalten vor der Auserwählten niederzuknien!“
„Was soll der Quatsch mit der Auserwählten? Was meinst du damit?“
„Ich erkläre es euch gerne, oh Auserwählte, aber nicht hier an diesem unwirtlichen Ort. Bitte, erlaubt mir euch an einen weitaus angenehmeren Platz zu begleiten.“
„Aber was ist mit meinen Eltern, sie werden sich Sorgen machen!“
Der Zwerg lächelt nur und schnippt einmal mit seinen Fingern. Augenblicklich hört es auf zu regnen, aber als Pia genauer hinschaut bemerkt sie, dass es immer noch regnet. Der Zwerg hat tatsächlich die Zeit angehalten, denn die Tropfen sind mitten in der Luft stehen geblieben
„Das ist ... Magie ...“, haucht Pia.
“Ich zeige euch gerne noch mehr, aber seid so freundlich, oh Auserwählte, und folgt mir bitte.“
„Ihr steigt auf, Auserwählte.“, sagt der große Vogel und lässt sich herab, damit Pia aufsteigen kann.
„Ich ... weiß nicht ...“, sagt sie leise.
„Ihr braucht keine Angst zu haben, oh Auserwählte.“
„Gebt mir fünf Minuten, ich will nur schnell ein paar Sachen aus meinem Zimmer holen.

Die Reise in die andere Welt
Die Luft über der Erde ist eisig, und obwohl es nicht regnet machen die Tropfen mich nass. Mir ist kalt, zum Glück habe ich meine Jacke mitgenommen. Die Federn des Vogels sind weich und ich halte mich fest, ich habe Angst herunter zu fallen. Das Tränenmännchen sitzt auf meiner Schulter und kichert die ganze Zeit. Es ist süß Ich beginne mich zu fragen wo der Zwerg mich hinbringen will.

„Wir sind gleich da, haltet Euch gut fest!“, brüllt der Zwerg über den Flugwind hinaus.
„Wurde auch Zeit, ich bin schon fast erfroren!“
Der große Vogel kippt leicht nach vorne und fliegt abwärts, der nicht fallende Regen peitscht in Pias Gesicht. Ungefähr in der Mitte des Fluges hat sie sich getraut kurz die Federn los zu lassen und ihre Kapuze über den Kopf zu ziehen. Als sie durch die Wolken tauchen fühlt es sich an, als ob sie kurz ihren Kopf in den Gefrierschrank steckt.
Unter ihnen tauchen Baumspitzen auf, erst nur ein paar wenige, dann werden es immer mehr. In der Ferne kann Pia die Silhouette eines Hauses ausmachen, aber genau erkennt sie es nicht.
„Da ist es, ist es nicht schmuck?“
„Sie es nicht sehen können, es zu dunkel sein und sie nicht sehen können im Dunkeln!“
„Jaja, halt den Mund und mach dich lieber bereit zur Landung!“
Der große Vogel kippt noch ein wenig mehr nach vorne und kurz darauf spürt Pia, wie seine Füße auf dem Boden auftreffen. Sie stehen auf einer kleinen Lichtung, ein kleiner Weg führt in den Wald hinein.
„Folgt mir, oh Auserwählte, und habt keine Angst vor dem was Ihr sehen werdet, sie werden Euch nichts tun!“
„Sie?“
„Wächter des verborgenen Landes, dunkle Kreaturen, die aufpassen, dass kein Ungeduldeter sich der Pforte nähert.“
Bei diesen Worten muss Pia schlucken. Sie hatte schon immer leichte Angst im Dunkeln, und mit dem Wissen, dass unzählige Monster um sie herum sind, die sie nicht sehen kann, wird diese Angst nicht gerade weniger.
„Vogel, du gehst hinter uns, leuchte uns den Weg!“
„Jawohl, Herr.“
Der große Vogel öffnet seinen Schnabel und heraus scheint plötzlich ein helles Licht. Pia bemerkt sofort, dass sich zwischen den Bäumen Schatten bewegen und hin und her huschen, sie hört auch ein leises Flüstern.
„Die Wächter fürchten das Licht, es ist die einzige Möglichkeit an ihnen vorbeizukommen.“
„Du sagtest doch gerade eben noch, dass sie mir nichts tun werden?“
„Ich meinte natürlich auch die anderen Menschen dieser Welt.“
Schweigend gehen die drei den Weg entlang, nur das Flüstern der Wächter ist die einzige Geräuschquelle. Immer wieder schaut Pia kurz in den Wald hinein und erblickt furchterregende Schatten, jedoch bekommt sie die Wächter nie richtig zu Gesicht. Nach kurzer Wanderung kommen sie an eine Weggabelung.
„Wir müssen links, merkt Euch allerdings die andere Abzweigung. Es kann sein, dass Ihr schnell hierhin zurückkommen müsst, um den anderen Weg zu gehen.“
Nach ein paar Minuten, Pia kommen sie wie Stunden vor, erreichen sie eine kleine Hütte. Kein Licht brennt, sie ist in vollkommene Dunkelheit getaucht.
„Luminada!“, ruft der Zwerg und sofort entfachen unzählige Kerzen am ganzen Haus, Pia reißt vor Staunen den Mund weit auf.
„Hübsch, nicht wahr?“
Der Zwerg geht zur Tür und spricht etwas in einer merkwürdigen Sprache, die Pia noch nie gehört hat.
„Bannflüche, ich musste doch verhindern, dass irgendwer oder irgendwas in mein Haus einbricht.“
Mit einem lauten Knarren öffnet sich die Tür und Pia betritt das Haus. Auch innen brennen hunderte Kerzen, das gelbe Licht wärmt den ganzen Raum. Der große Vogel läuft zum Kamin und spuckt eine Flamme ins Feuer, woraufhin sich das Holz entzündet, dann legt er sich vor das Feuer.
„Setzt Euch bitte und lasst mich Euch erklären, warum ich Euch hierher geführt habe.“
Stillschweigend setzt Pia sich an einen dunklen Holztisch und schaut den Zwerg aufgeregt an.

Es ist lange her, als meine Welt noch heile war. Damals war das weite Land erfüllt von Wärme und Sonnenschein, die Menschen und Tiere haben sich vertragen und lebten in Harmonie miteinander. Doch vor genau 444 Jahren ereignete sich ein schreckliches Missgeschick. Der Hofzauberer des Königs hat sich mit einem Zauberspruch vertan. Er war derjenige, der dafür zuständig war, dass immer genügend Harmonie unter uns weilte. Eines Tages jedoch hat er die falsche Schriftrolle verwendet, wodurch meine Welt vollkommen dem Chaos ausgeliefert wurde. Menschen und Tiere wandten sich gegeneinander, sie verlernten die Fähigkeit zu lieben und friedlich miteinander umzugehen. Dem Hofzauberer jedoch wurde jedoch ein größeres Übel und zugleich eine unvorstellbar große Bürde auferlegt. Der Zauberspruch traf ihn mitten in sein reines Herz und verwandelte es zu Schwarz. Fortan sog er alle freundlichen Gedanken und jegliche Liebe aus den Herzen der Menschen und Tiere und säte so das Unglück. Angetrieben durch den ganzen Hass wandelten sich die angesammelten Gefühle des Hofzauberers in negative Energie und schon bald darauf verdunkelte sich der Himmel. Seitdem ist meine Welt begraben unter einer hohen Schneedecke, die Menschen haben sich mit der Zeit angepasst an die Kälte und den Schnee, die Tiere jedoch wurden zu Sklaven des Hofzauberers, der seitdem „Der Schwarze Chaosbringer“ genannt wurde. Sein menschliches Aussehen hat er gänzlich verloren, sein Inneres kehrte sich nach außen und enthüllte das Schwarz in seinem Herzen. Der König konnte all dem Hass und Chaos nicht widerstehen und wurde vom Schwarzen Chaosbringer zerstört. Man erzählt sich allerdings eine Sage. Sollte das Schwarze Herz des Schwarzen Chaosbringers auch nur einen einzigen Sonnenstrahl abbekommen, so löst sich das Schwarz gänzlich und für immer auf und Liebe und Frieden regieren wieder in meiner Welt. Leider ist dies nur alle 444 Jahre möglich, denn dann bildet sich auf dem Sonnenberg eine Lichtsäule, die für kurze Zeit durch die Wolkendecke dringt und das Sonnenlicht anzieht. Bislang ist es noch niemandem gelungen auch nur einen winzigen Strahl einzufangen. Doch dafür gibt es den Auserwählten. Er soll fähig sein das Sonnenlicht zu bündeln und in ewiges Eis zu sperren, um dann dem Schwarzen Chaosbringer gegenüber zu treten und ihn zu vernichten.

„Versteht Ihr nun, warum Ihr hier seid? Ihr seid dazu auserwählt meine Welt zu retten, ihr endlich wieder Liebe und Frieden zu geben und uns vom Fluch des Schwarzen Chaosbringers zu erlösen.“
Pia nippt am Tee, den der Zwerg ihr gegeben hat.
„Und wie soll ich das anstellen?“
„Ihr müsstet eine kleine Schachtel mit einem Schloss dran besitzen, in ihr befindet sich der Schlüssel zu unserer Welt und das magische Instrument. Nur Ihr könnt die Schachtel öffnen und in meine Welt einkehren.“
Pia holt Onkel Jacks Geschenk hervor und legt es auf den Tisch. Sofort beginnen die Augen des Zwerges vor Freude zu leuchten und er grinst.
„Das ist sie, öffnet sie!“
„Das geht nicht, mir fehlt der Schlüssel.“
„Benutzt Euren Verstand, Ihr seid in der Lage sie zu öffnen!“
Pia denkt nach. Die Form des Schlüsselloches kommt ihr sehr bekannt vor. Irgendwo hat sie es schon einmal gesehen. Nach kurzem Nachdenken fällt es ihr ein. Es war in einem Märchenbuch. Sie steht vom Tisch auf und geht zum Bücherregal des Zwerges. Ihr Blick streift über die vielen Buchrücken, dann nimmt sie wahllos ein Buch heraus und schlägt es auf. Auf der Seite ist ein großer Schlüssel abgebildet, ein Lächeln breitet sich auf Pias Gesicht aus. Sie greift in die Seite und zieht einen Schlüssel aus ihr hervor.
„Ich wusste es, sie ist es.“, hört sie den Zwerg atemlos sagen.
Pia geht zurück zum Tisch und nimmt Onkel Jacks Geschenk in die Hand. Sie schiebt den Schlüssel in das Schloss und dreht ihn herum. Mit einem leisen Klick schnappt der Deckel auf und enthüllt einen weiteren Schlüssel. Als Pia ihn aus der Schachtel nimmt, sieht sie, dass dieser aus Glas ist, außerdem fühlt er sich eiskalt an. Ganz vorsichtig legt sie ihn auf den Tisch und schaut nochmal in die Schachtel. Dort wo der Schlüssel war ist eine Vertiefung, in der eine kleine Flöte liegt.
„Wofür ist die?“, fragt Pia.
„Das weiß ich leider nicht, oh Auserwählte.“
„Sie ist Hilfe, ihr sie spielt und alle Hindernisse sich wegmachen.“
Pia legt die Flöte wieder in die Schachtel und betrachtet den Schlüssel genauer. Obwohl er aus Glas zu sein scheint kann sie nicht durch ihn hindurch schauen.
„Ist ewiges Eis, nicht Glas.“, sagt der große Vogel. „Da man nicht durch sehen kann, nur drin was aufbewahren kann.“
Auch der Schlüssel verschwindet wieder in der Schachtel und Pia legt alles sorgfältig und vorsichtig in ihren Rucksack. Schweigend setzt sie sich wieder an den Tisch zu Zirkon und gerade als dieser den Mund auf macht, um etwas sagen zu wollen, klatscht etwas gegen die Fensterscheibe. Entsetzt starrt Pia auf das Ding, welches an der Scheibe klebt und seine gelben Augen auf sie richtet. Es sieht aus wie eine Schnecke, nur haben Schnecken keine mit Zähnen gefüllten Spalten an ihrem Bauch.
„Es sind Ponkter, sie sind hier um Euch zu holen, oh Auserwählte?“
„Ponkter?“
„Seelenlose Kreaturen, geschickt, um zu verhindern, dass das Licht seine Bestimmung findet, wir müssen fliehen, schnell.“
„Aber wohin?“
„In meine Welt.“
Mit diesen Worten zerrt Zirkon Pia vom Stuhl und aus der Tür heraus.
„Flattermann, beschütze uns.“
„Sehr wohl.“
Der große Vogel öffnet sein Maul und eine rote Kugel fliegt daraus hervor und kurz danach hört Pia das Quietschen eines verbrennenden Reifens.
„Auserwählte, erinnert Ihr Euch noch an die Weggabelung?“
„Ja.“
„Gut. Jetzt müsst Ihr den rechten Weg wählen, bis zum Ende und dann die verborgene Pforte mit dem Schlüssel, den Ihr soeben fandet, öffnen. Beeilt Euch, Ihr könnt es nicht verfehlen.“
„Du kommst nicht mit?“
„Ich kann nicht in meine Welt, solange Ponkter in Eurer sind. Ein schwarzer Zauber liegt auf ihnen und ich muss sie vernichten. Wenn wir Glück haben sind es nur ein paar. Aber ich bezweifele dies ehrlich gesagt.“
„Was ist mit den Wächtern?“
„Sie werden Euch nichts tun, solange Ihr zügig voranschreitet und nicht stehen bleibt“
„Aber du sagtest man kann sie nur mit Licht verjagen!“
„Ihr tragt ein besonderes Licht in Euch. Das Licht der Unschuld. Und jetzt lauft, ich bitte Euch. Beeilt Euch und rettet mein Land. Wenn ihr dort seid fragt nach Filius, er wird Euch den weiteren Weg weisen.“
„Aber...“
„Geht, nun los.“
„Aber ...“
„SOFORT!“
Zirkon dreht sich um und auf einmal schießen Feuerbälle aus seinen Händen heraus. Mit vor Schreck geweiteten Augen schaut Pia sich eine furchtbare Kulisse an:
Aus dem Wald kriechen hunderte und abertausende Ponkter hervor und stürzen sich auf das Haus und seine beiden Bewohner, die sich schreiend verteidigen. Der Anblick treibt Pia Tränen in die Augen.
„LAUFT, NUN MACHT SCHON!“
Pia lässt sich nicht mehr lange aufhalten uns rennt los. Der Weg scheint sich elendig weit zu ziehen. Rechts und links sieht sie die Schatten hin und her huschen, ein unheimliches Geflüster dringt an ihr Ohr. Nach einigen Minuten, die ihr wie Stunden vorkommen, erreicht sie die Weggabelung und hält inne. Schnaufend und hustend beobachtet sie den rechten Weg. Er ist stockdunkel. Keine Angst Pia, du schaffst das schon. Und zeitgleich schießen ihr Zirkon’s Worte in den Kopf. ... solange Ihr zügig voranschreitet und nicht stehen bleibt
Eine Bewegung hinter ihr. Pia dreht sich blitzartig um. Nichts. Geflüster. Wieder eine Bewegung. „Du trägst das Licht in dir Pia, du trägst das Liihiicht ... Dir kann keiner was tun ...“ Vorsichtig geht sie rückwärts in Richtung des rechten Weges, als etwas über ihren Kopf hinweg fliegt Pia öffnet den Mund und fängt an laut zu schreien, sie dreht sich um um rennt den rechten Weg entlang, erfasst von Panik und Ekel. Das Ding, welches über sie hinweg geflogen ist, fühlte sich wie Eis an.
Pia rennt und rennt, als sie über die Schulter hinweg schaut sieht sie die Schatten näher kommen, die Silhouetten sind nun gut erkennbar.
Pia erreicht eine Wand und bemerkt es erst, als sie beinahe dagegen läuft. Sie holt den Schlüssel hervor und sucht nach Atem ringend nach einem Schlüsselloch.
„Wo ist es denn nur“?, fragt sie zähneknirschend.
Pia spürt, das etwas hinter ihr steht, spürt kalten Atem in ihrem Nacken. Langsam dreht sie sich um und als sie kurz davor ist, die Gestalt zu erkennen, legt sie die Hände über die Augen und fängt an zu schreien. Die Gestalt schreit auch, ein schriller hoher Laut, der ruckartig abbricht. Pia lugt durch ihre Hände und sieht, dass der große Vogel sich auf den Wächter gestürzt hat.
„Ihr die Pforte öffnen!“
„Wie? Ich finde kein Schlüsselloch?“
„Wenn kein Schlüsselloch da Ihr müsst euch machen eines! Macht schnell!“
Pia dreht sich um und sucht die Wand ab. Wenn kein Schlüsselloch da ist musst du dir eines machen ... Sie hebt den Schlüssel und holt einmal tief Luft, dann drückt sie ihn gegen die Wand.
Er verschwindet in einem unsichtbaren Loch, sofort erscheint der Umriss einer Tür in der Wand.
„Ihr sie nun öffnen müsst! JETZT!“
Pia zerrt an einer leuchtenden Türklinke, dann schwingt die Tür mit einem Ruck auf und Pia schaut in das weißeste Weiß, welches sie jemals erblickt hat. Hinter ihr türmen sich die Schatten auf und als sie zurückschaut sieht sie nur noch schwarz.
„HINDURCH IHR GEHEN SOLLT!“
Und Pia schreitet durch die Pforte und es fühlt sich so an, als gehe sie durch flüssiges Eis.


Vier Götter
Weißes Licht umgibt Pia, so hell, dass sie ihre Augen schließen muss. Doch obwohl alles um sie herum weiß ist empfindet sie keine Kälte, im Gegenteil – eine wohlige Wärme durchströmt ihren Körper. Um sich herum hört sie ein leises Surren, doch als sie genauer hinhört erkennt sie, dass jemand zu ihr spricht.
„Hab’ keine Angst, es tut dir niemand etwas.“
„Lasse die Augen geschlossen, es ist besser so.“
„Bewege dich nicht, es ist alles gut.“
„Sprich nicht, es gibt im Moment nichts zu fragen.“
Pia verharrt ganz still. Sie scheint zu schweben, jedenfalls spürt sie keinen Boden unter ihren Füßen Dann merkt sie einen leichten Wind. Er fährt ihr durch’s Haar, schlägt Wellen am Stoff ihrer Hose und drückt sie sachte nach vorne. Auch der Wind ist warm.
„Komm näher, wir tun dir nichts.“
„Wir brauchen dich.“
„Lasse die Augen geschlossen, es ist besser so.“
„Mach deinen Kopf frei von allem Schlechten.“
Dann wird es etwas dunkler vor ihren Augen und Pia merkt, dass sich etwas vor ihr befindet. Der Wind hat aufgehört zu wehen und Pia bewegt sich nun nicht mehr. Ihre Füße berühren den Boden und Pia sackt ein kleines Bisschen ein.
„Hab’ keine Angst, es tut dir niemand etwas.“
„Entspanne dich, es ist alles gut.“
„Öffne die Augen, empfange unsere Gestalt.“
„Öffne den Mund, nun sind Fragen gewährt.

Pia öffnet die Augen und erschrickt ganz leicht. Sie steht in der Mitte von vier riesigen Stühlen, auf diesen sitzen vier riesengroße Gestalten. Bis auf die Farbe ihrer Haare ähneln sie sich wie ein Ei dem anderen.
„Wer seid ihr?“
„Ich bin die Hüterin des Feuers.“, sagt die Gestalt mit den roten Haaren.
„Ich bin die Wächterin des Wassers.“, sagt die Gestalt mit den blauen Haaren.
„Ich bin der Beschützer der Erde.“, sagt die Gestalt mit den grünen Haaren.
„Und ich bin die Weise des Himmels.“, sagt die Gestalt mit den weißen Haaren.
Pia schluckt trocken.
„Mein Name ist Odera.“, sagt die Hüterin des Feuers.
„Mein Name ist Likida.“, sagt die Wächterin des Wassers.
„Mein Name ist Hark.“, sagt der Beschützer der Erde.
„Und ich bin Bhar.“, sagt die Weise des Himmels. „Wir zusammen sind die Götter von Thorea. So heißt unsere Welt.“
„Könnt ihr mir sagen wo ich nun hin muss?“
„Nein, das können wir leider nicht.“, sagt Hark. „Du musst deinen Weg selbst finden.“
„Aber es wird sich ein Gefährte dir an die Seite stellen, du wirst sie bald treffen.“, verkündet Bhar. „Nun mach dich auf den Weg, lass dir vom Licht den Weg weisen.“
„Wir werden dich beschützen aus den Tiefen des Wassers...“
„... der Hitze des Feuers...“
„... mit den Geschöpfen der Erde ...“
„... und mit dem Geschenk des Himmels. Jedoch können wir dir jeder nun ein einziges Mal helfen, entscheide gut, wann du unsere Hilfe brauchst und rufe unsere Namen. Nun leb wohl, erfülle deine Aufgabe.“
Und es wird wieder hell um Pia und sie schließt ihre Augen.

Das Dorf Marsenwald
Als Pia um sich blickt sind die Götter verschwunden und sie steht am Rande eines verschneiten Feldes. Dichter Schnee fällt in großen Flocken aus den Wolken und es ist eiskalt. Ein paar hundert Meter weiter hinten erkennt Pia den Umriss eines Dorfes und setzt sich in Bewegung. Der Weg durch den Schnee ist sehr schwer und nach wenigen Schritten protestieren ihre Füße unter Schmerzen. Sie bleibt stehen und schaut zum Himmel. „Vier Götter ...“ Nach ein paar Minuten Pause geht sie weiter und mit mehreren kleinen Pausen erreicht sie endlich das Dorf. „Marsenwald, Pforte zum Himmel“ steht auf dem Schild. Das Dorf sieht sehr gemütlich aus, aus allen Schloten kommt dicker weißer Qualm, überall laufen Kinder herum in dicken Wintermänteln und erfreuen sich am Schnee. Es scheint gerade Markt zu sein, denn es stehen unzählige Stände auf einem großen Platz, es herrscht ein lautes Stimmengewirr. Als Pia auf den Markt zu geht bemerkt sie, dass ein kleiner Junge am Rock seiner Mutter zieht und auf Pia zeigt. Die Frau schlägt die Hand vor den Mund und geht schnell zu einer anderen Frau. Kurze Zeit später steht Pia inmitten einer großen Menge, alle schauen sie an und sind mucksmäuschenstill.
„Wer ist das?“, hört Pia irgendwo jemanden fragen.
„Eine Fremde!“
„Was will sie hier?“
„Hoffentlich nichts Schlimmes ...“
Pia geht immer weiter, doch die Dorfbewohner versperren ihr den Weg. Zwei große Männer bäumen sich vor ihr auf.
„Was willst du hier, fremdes Mädchen?“
„Ich bin geschickt worden, um...“
„Geschickt worden! Natürlich! Ich sage euch – das Schwarz hat sie geschickt!“
Als der Mann den Namen des Bösen sagt schreien einige Frauen schrill auf und ein hektisches, erschrockenes Gemurmel erklingt.
„Nein, nicht er hat mich geschickt, ein kleiner Mann namens Zirkon!“
„Zirkon? Der Magier?“
„Wofür hat er dich geschickt?“
„Ich soll ... er bat mich ...“
„Nun sprich schon.
Pia atmet tief ein.
„Ich bin die Auserwählte. Ich soll zum Sonnenberg reisen, um dort das Sonnenlicht in Empfang zu nehmen und den Schwarzen Chaosbringer zu vernichten.“
Aus dem erschrockenen Gemurmel werden schlagartig erstaunte „Oh’s“ und auf einmal teilt sich die Menge.
Eine große Frau schreitet auf Pia zu, ihre dunklen Haare sind das perfekte Gegenstück zum Schnee.
„Seid gegrüßt, oh Auserwählte. Mein Name ist Saia. Ich bin Eure Gefährtin. Lasst uns am Besten sofort aufbrechen, die Zeit drängt.“
„Lass das Mädchen in Ruhe, Hexe. Hast du nicht gehört was sie gesagt hat?“
„Das habe ich sehr wohl. Ich bitte Euch mir zu vertrauen, oh Auserwählte.“
„Geh wieder in dein Hexenhaus und brau deine Tränke!“
„Genau, lass uns zufrieden mit deiner dunklen Magie.“
„Niemand braucht eine Hexe wie dich.“
„Mach, dass du hinfort kommst, sonst ...“
„HALTET ALLE DEN MUND!“
Pia ist auf einen Brunnen geklettert, als die Dorfbewohner Saia niedergemacht haben und hat alle aus Leibeskräften angeschrien.“
„Ich denke, dass ich immer noch selber entscheiden kann, wem ich vertraue und wem nicht. Saia, bitte begleite mich und zeige mir den Weg zum Sonnenberg.“
„Sehr gerne, oh Auserwählte.“
„Und ihr alle – ihr solltet euch lieber freuen, dass jemand gekommen ist, um euch zu retten, ihr solltet ihn besser nicht gleich wieder verscheuchen.“
Wütend springt Pia vom Brunnen und geht zu Saia.
„Hättest du vielleicht einen dieser tollen Mäntel für mich? Mir ist richtig kalt ...“
„Aber gewiss, alles was mein ist soll das Eurige sein.“
Die Menge flüstert und tuschelt, als Pia und Saia Richtung Dorfausgang gehen und einer der Männer, die Pia aufgehalten haben, ruft ihnen etwas hinterher.
„Du wirst es noch sehen, fremdes Mädchen. Der Hexe darf man nicht trauen!“
„Hört bitte nicht auf sie, oh Auserwählte. Sie ächten mich, weil ich außerhalb des Dorfes wohne und kranke Tiere mit selbst gebrauten Tränken heile.“
„Ach schon ok. Aber nenn mich bitte Pia, das ganz Geplänkel um die Auserwählte ist mir unangenehm ...“
„Sehr gerne, Pia.“, sagt Saia und lächelt.
Nach einem kurzem Marsch erreichen die beiden Saias Hütte. Sie ist klein und Pia findet sie niedlich. Sie steht etwas schief, woran der Schnee wohl Schuld ist. Saia läuft kurz hinein und verweilt dort einen Augenblick, dann kommt sie mit einem warmen Mantel und einer Tasche wieder heraus.
„Hier, der Mantel ist für dich. Er ist aus dem Fell eines sprechenden Bären gemacht, den ich nicht mehr retten konnte. Ich hoffe er wird dir gute Dienste bringen und der Geist des Bären sich wärmen.“
„Was ist in der Tasche?“
„Ein paar Tränke, falls wir unterwegs verletzten Tieren begegnen, einem Zauberbuch und etwas Proviant.“
„Dann ist es also wahr, du bist eine Hexe?“
„Es gibt gute und böse Hexen, die letzte böse Hexe wurde vor vielen vielen Jahren verbrannt, doch seit der Herrschaft des Chaosbringers bekennen sich immer mehr Hexen zur falschen Seite.“
„Und was ist die richtige Seite?“
„Das Sonnenlicht zu fangen und den Schwarzen Chaosbringer zu vernichten. Mein Volk hat lange genug unter ihm gelitten.“
Schweigend gehen die beiden weiter durch den Schnee, eine kleine Gruppe der verschiedensten Waldtiere begleitet sie.
„Das sind alles meine Freunde, das Eichhörnchen hier – es lag halb erfroren im Schnee. Ich gab ihm einen meiner Tränke und schon war es wieder putzmunter.“
„Du scheinst dich sehr gut mit den Tieren zu verstehen.“
„Sie sind meine einzigen Freunde und ich habe sie sehr gerne. Die Dorfbewohner achten die Tiere nicht genug, deswegen verachte ich sie und gehe nur sehr selten in ihr Dorf.“
„Klingt ja nicht gerade harmonisch ...“
„Ich bin glücklich, warum sollte es also anders sein?“
„Das ist wohl wahr.“, sagt Pia und lächelt Saia an.

Nach vielen Stunden hartem Fußmarsch halten die beiden an, um eine Pause zu machen, Saia beschwört ein kleines Feuer und Pia wärmt sich auf. Das letzte Tier hat schon vor einigen aufgegeben ihnen zu folgen, so dass die beiden eine große Strecke alleine gelaufen sind.
„Wir brauchen noch ungefähr anderthalb Tagesmärsche, bis wir am Sonnenberg ankommen. Aber wir müssen durch das Nebeltal.“
Saia schluckt schwer und wischt ihre Nase ab.
„Was ist am Nebeltal denn so schlimm?“
„Es ist bisher nie jemand zurückgekehrt.“
Mit erschrockenem Blick schaut Pia Saia an, als diese ihre Augen aufreißt
„Es ist jemand hier. Nimm deine Sachen.“
Mit einem Wink erlischt das Feuer und es ist still. Saia schaut angestrengt umher, als ob sie versuche irgendetwas zu sehen.
„Irgendetwas ...“
„Ich habe Angst.“
„Bleib ganz ruhig, sonst ...“
Mit einem lauten Brüllen kracht etwas zwischen den Bäumen hervor, es sieht aus wie ein riesiger Wolf, aber er hat zwei Köpfe.
„Schnell, versteck dich!“, ruft Saia noch, aber es ist zu spät. Der Wolf springt genau zwischen Saia und Pia und die Erde erbebt. Im rechten Maul des Wolfes brennt ein großes Feuer, im linken eine grüne Kugel und er schaut Pia mit hungrigen Augen an.
„Hey, lass sie in Ruhe, du Monster!“, ruft Saia, doch der Wolf hört nicht hin. Er öffnet das Maul und eine Flamme schießt aus seinem Maul hervor, als es plötzlich hinter ihm knallt und er sich umdreht.
„Penrake disimbile peridian.“, ruft Saia und ein kleiner Blitz schlägt in den linken Kopf des Wolfes. Er schüttelt sich kurz, dann öffnet er wieder sein Maul und die Flamme beginnt zu wachsen.
Jedoch können wir dir jeder nun ein einziges Mal helfen, entscheide gut, wann du unsere Hilfe brauchst und rufe unsere Namen.
„Das ist es, das brauchen wir jetzt!“, ruft Pia laut. „Likida, Hark – bitte helft uns!“
Kurze Zeit passiert nichts, als plötzlich die Erde wieder erzittert, diesmal jedoch heftiger, als beim Wolf. Grosse Risse zeichnen sich auf dem gefrorenen Boden ab, rings um das Monster.
„Pia, lauf schnell zu mir, das ist ein Erdbeben.“
Blitzschnell läuft Pia um den Wolf herum und als sie Saia erreicht bricht der Boden zusammen und begräbt den Körper des Wolfes in einer Senke, seine Köpfe allerdings sind so wütend, dass sie Flammen und grünes Licht in alle Richtungen schießen
„Was ist das für ein Rauschen?“, fragt Saia.
„Es klingt wie Wasser, wie viel Wasser ...“
Und kaum hat Pia die Frage beantwortet, schon stürzt eine riesige Welle von über den Bäumen auf das Geschehen hinab, Saia brüllt „Pensir tehas“ und einen Moment später ist alles still, da die Welle alles überschwemmt hat. Langsam, aber stetig fällt der Wasserstand und alles ist wieder trocken, bis auf einen kleinen See, der einmal die Senke war, in seiner tiefen Mitte treiben die Wolfsköpfe gespenstisch hin und her.
Dann ist alles wieder still, nichts regt sich. Die Oberfläche des neues Sees ist spiegelglatt. Pia und Saia stehen in einer Lichtkugel, Saia hält die Arme nach oben. Kein Tropfen ist zu ihnen vorgedrungen. Dann erlischt die Lichtkugel und Saia lässt keuchend ihre Arme fallen.
„Man war das knapp!“
„Das kannst du laut sagen ...“
„Bereit weiter zu gehen, Pia?“
„Ich denke schon.“
Pia lässt Saia noch ein paar Minuten verschnaufen, dann setzen die beiden sich wieder in Bewegung.
Es dauert ein paar Stunden, bis Saia durch ein Handzeichen Pia zum Stoppen bringt. Sie hebt den Finger an ihre Lippe und deutet an still zu sein.
Vor ihnen befindet sich nur weiß. Dichter Nebel erstreckt sich wie eine Wand über ein ganzes Tal und sogar darüber hinaus. Kein Wind bläst hier, der Ort fühlt sich tot an.
„Das ist das Nebeltal, richtig?“, fragt Pia.
„Absolut richtig.“
„Da müssen wir durch?“
„Mhhm.“
„Wird es gefährlich werden?“
„Mhhhhhhhm.“
„Puh, aber gut – es geht nun mal nicht anders. Außerdem habe ich noch eine letzte Rettung falls alles plötzlich schief läuft.“
Mit diesen Worten treten die beiden über die Schwelle zwischen Licht und Nebel.

Im Nebeltal
\"Lord, die beiden haben das Nebeltal erreicht.“
„Ich weiß.“
„Sie haben den Wolfswächter vernichtet.“
„Ich weiß.“
„Glaubt Ihr, Lord, sie schaffen es durch das Nebeltal?“
„Nein.“
„Soll ich vorsichtshalber die Wächter aus ihrem Gefängnis lassen?“
„Ja.“
„Sehr wohl, Lord. Alles geschieht wie Ihr es befehlt.“
Der Diener verbeugt sich und verlässt den Thronsaal.
„Tz tz tz. Ein Kind soll mich stürzen. Kleine Pia, möge dein Tod langsam und schrecklich sein, ich möchte schließlich auch ein wenig Freude an deinem Versuch haben, mich zu vernichten.“
Und es wird dunkel im Saal.

Der Nebel ist kalt. Pia und Saia laufen nun schon seit einer guten halben Stunde durch den Nebel, ohne jedoch zu wissen wohin genau sie der Weg führt.
„Woher wissen wir eigentlich wo wir lang müssen?“
„Schau auf den Schlüssel, er wird uns weisen.“
Pia holt den kalten Schlüssel hervor und er beginnt im matten Licht des Nebels zu leuchten.
„Und nun?“
„Dreh dich mal ein wenig.“
Pia dreht sich wenig nach links und ein wenig nach rechts und plötzlich strahlt der Schlüssel tiefrot.
„In diese Richtung müssen wir laufen.“
Als Pia einen Schritt nach vorne geht erzittert der Boden.
„Was war das?“
„Ich weiß es nicht ...“
Das Zittern wird immer heftiger, dann bricht es auf einmal ab. Ein tiefes Grollen kommt von ganz weit hinten und wird von Atemzug zu Atemzug lauter.
Plötzlich brechen rings um die beiden herum vier riesige Arme aus dem Boden hervor, aber keine gewöhnlichen Arme. Nebelarme. Zu ihnen gesellen sich vier unglaublich große und massige Körper und einen weiteren Atemzug später stehen vier ausgewachsene Nebelriesen vor ihnen.
„Pia, LAUF!“, brüllt Saia.
Pia hält sich an Saias Hand fest und die beiden rennen in die Richtung, die ihnen der Schlüssel gezeigt hat.
„Peratra diffendi!“, schreit Saia und dreht sich dabei um. Ein Lichtstrahl durchtrennt die vier Riesen und ihr Körperhälften fallen auf den Boden. Doch einen Augenblick später stehen plötzlich acht Riesen vor ihnen, gebildet aus den zerteilten Körpern der alten.
„PERATRA DIFFENDI!“ Wieder ein Lichtstrahl. Wieder zertrennte Riesen. Und dann stehen doppelt so viele Riesen vor ihnen.
„Es bringt nichts, wir müssen einfach laufen.“
„Nein warte, lass mich bitte.“, sagt Pia.
Pia rennt los und in die Mitte, zwischen die vielen Riesen.
„Kommt und holt mich doch!“
Langsam und fließend drehen die Riesen sich zu ihr um und beugen sich zu ihr herunter.
„Odera, Bhar – bitte helft mir!“
Einen kurzen Moment passiert gar nichts. Dann schießt aus dem Himmel auf einmal eine Lichtsäule herab und hüllt Pia in strahlendes Gelb. Sie erfasst sofort die Riesen, welche sich schmerzerfüllt im hellen Licht winden. Dann ein lautes Krachen und die Lichtsäule entzündet sich.
„PIA, NEEEEEEEEEIN!!!“
Einen Augenblick später brennt die Lichtsäule und die Flammen fressen sich am Verlauf entlang zu den Riesen und verbrennt sie alle gnadenlos. Aber nicht nur das. Durch die Hitze verdampft der ganze umliegende Nebel und gibt den Blick frei auf ein ödes steiniges Tal.
Und dann ist alles auch schon wieder vorbei. Das Feuer erlischt und das Licht verschwindet, nun steht nur noch Pia in dem einstmaligen Kreis und duckt sich auf dem Boden. Saia rennt zu ihr und umarmt sie.
„Ist es vorbei?“
„Ja, ich glaube schon. Nun komm Pia, es ist nicht mehr weit.“
Pia und Saia rennen dem Schlüssel nach und kurze Zeit später verlassen sie das Tal.
„Siehst du da vorne? Das ist der Sonnenberg! Es dauert nicht mehr lange und wir sind da!“
Ein Berg ragt vor ihnen empor und eine lange Treppe führt auf seinen Gipfel empor. Ganz oben kann Pia eine Mauer sehen, die scheinbar rings um den Gipfel herum läuft.
Pia und Saia machen keine Pause, sondern beginnen sofort die Treppe zu ersteigen. Anfangs ist es noch leicht, aber nach ein paar hundert Stufen muss Pia anhalten.
„Ich kann nicht mehr.“
„Du musst, nur noch ein kleines Stück.“
„Gib mir eine Pause.“
„Pia, bitte. Du hast es bald geschafft.“
Pia atmet noch ein paar Mal tief ein und aus, dann hält sie auch schon wieder Saias Hand und rennt weiter die Treppe hinauf.

„Die Giganten sind besiegt, Lord.“
„Ich weiß.“
„Was machen wir nun?“
„Ich schicke das Schwarz, es wird sich um sie kümmern.“
„Seid Ihr ganz sicher, dass ihr ...“
„Schweig! Es ist meine letzte Chance.“
Und er hebt die Arme und aus ihnen heraus schießt das Schwarz und es fliegt Richtung Sonnenberg.

Das Licht im Schlüssel
Als Pia sich belanglos umdreht sieht sie ganz fern am Horizont einen dünnen schwarzen Strich in den Himmel emporsteigen.
„Saia, was ist das?“
„Oh nein.“
„Was denn? Was ist es?“
„Das Schwarz. Komm, wir müssen uns beeilen, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Wenige Minuten später erreichen sie die Mauer und Pia rennt durch eine Lücke hindurch. Als Saia zwischen die Steine tritt wird sie von einem schwarzen Lichtstrahl erfasst und zurück geworfen.
„Ich kann nicht weiter, lauf Pia, rette unser Land.“
„Aber ich kann nicht ohne dich weiter!“
“Doch, du musst. Nun geh, ich schaffe es schon ... irgendwie ...“
„Saia!“
„Pia. Nur du kannst uns retten. Sieh wie nah das Schwarz schon ist.“
Und Saia hat recht. Der schwarze Streifen ist größer geworden und hat nun schon fast das Nebeltal erreicht. Traurig schaut Pia zu Boden.
„Du schaffst es, ich weiß es.“
Pia schaut Saia ins Gesicht. Dann nickt sie.
„Ich werde es schaffen. Halte durch.“
Sie umfasst den Schlüssel feste, atmet tief durch und rennt weiter. Die letzten Stufen erweisen sich als leicht, schon nach wenigen Minuten steht Pia ganz oben auf dem Gipfel und als sie sich umschaut bekommt sie einen großen Schrecken.
Das Schwarz beginnt nun den Berg hinauf zu kriechen und von der Welt dahinter ist nichts mehr zu sehen. Kein Licht, kein Nebeltal, keine Saia, nichts.
„Verdammt, was muss ich denn nun tun?“
Sie dreht und wendet den Schlüssel in ihren Händen, sucht einen Knopf, einen Schalter, irgendetwas. Dann hört sie ein wildes Flüstern. Es ist das Schwarz, es tritt nun hinter die Mauer. Verzweifelt dreht sich Pia im Kreis, weiß nicht wohin und was sie tun soll.
„Sie werden Euch nichts tun, solange Ihr zügig voranschreitet und nicht stehen bleibt.“
„Aber du sagtest man kann sie nur mit Licht verjagen!“
„Ihr tragt ein besonderes Licht in Euch. Das Licht der Unschuld.“
Das ist die Lösung. Pia schaut sich den Schlüssel noch einmal genau an, das Schwarz kommt bereits von allen Seiten auf sie zu gekrochen Dann setzt sie den Schlüssel an ihrer Brust an, schließt die Augen – und drückt ihn in sich herein.

Die Wolken brechen auf, Hitze schießt von oben herab und hüllt Pia in wohlige Wärme. Das Sonnenlicht dringt in Pia ein, in jede Pore ihres Körpers. Es erwärmt ihr Blut und fließt in den Schlüssel in ihrer Brust, Pia scheint zu schweben.
Dann donnert es mit einem ohrenbetäubenden Lärm aus ihr heraus, bahnt sich mit geradem Strahl den Weg durch das Schwarz und Richtung Schloss des Chaosbringers. Wo es auf das Schwarz trifft reißt es es in Stücke, zerreißt es, löst es auf, nach einem einzigen Augenblick schießt es über das Dorf und eine Sekunde später dringt es durch die Fenster in den Thronsaal ein.

Der Lord weiß, dass es zu spät ist, als er das Sonnenlicht sieht. Einen Moment später dringt es durch die Fenster seines Thronsaales zu ihm heran und beginnt an ihm zu fressen. Ein stummer Schrei gellt durch die Dunkelheit des Schlosses und eine Sekunde später ist aller Hass, alles Böse, alles Schwarz aus dem Schloss vernichtet und verbannt, die Wolkendecke löst sich auf und die Sonne erleuchtet das Land. Aber der Lord ist froh, wenigstens ein einziges Mal so etwas einzigartiges und wunderschönes gesehen zu haben wie das Sonnenlicht. Dann hört er auf zu existieren.

Mit einem kleinen Hüpfer erwacht Pia in ihrem Bett und schaut sich verwirrt um. Wo ist Saia? Das Schwarz? Was ist passiert? Konnte sie Thorea retten?
Sie schlägt die Decke über ihren Kopf und zwingt sich dazu wieder zurückzukehren, doch als sie wieder auftaucht befindet sie sich immer noch in ihrem Zimmer.
Als sie aus dem Fenster schaut lächelt sie ganz plötzlich – es schneit. Dicke weiße Flocken fallen von Himmel und als sie ans Fenster tritt sieht sie, dass die Welt draußen von einer dicken Schneeschicht bedeckt ist.
Auf einmal weht ein Windhauch den Schnee an ihr Fenster und an der Glasscheibe bilden sich Eiskristalle. Pia traut ihren Augen nicht, reibt einmal heftig an ihnen, aber trotzdem stehen dort plötzlich Worte und Buchstaben.

Pia,
mein Land ist gerettet, du hast es geschafft. Dank dir kann
Thorea wieder aufatmen und in Frieden weiter existieren.
Wir werden uns leider nie wieder sehen, ich hoffe du bist
nicht allzu traurig.
Ich habe in deinem Herzen einen Wunsch gelesen und
ich hoffe ich habe ihn zu deiner Zufriedenheit erfüllt.
Es war wunderschön dich kennen gelernt zu haben.
In tiefster Verehrung,
Saia.


Dann kommt ein weiterer Windhauch und als Pia wieder hinschaut ist der Brief verschwunden.
So hat sich alles doch noch zum Guten gewendet. Das Schwarz ist besiegt und Thoreas Bewohner sind wieder friedlich zueinander. Und auf einmal bemerkt Pia, dass es doch nicht so schlimm ist, dass sie kurz vor Weihnachten Geburtstag hat. Denn das größte Geschenk hat ihr heute eine ganz besondere Person gemacht.
Schnee von Saia, einer ganz besonderen Freundin.
 



 
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