Das Seil

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Rika

Mitglied
In einem Land jenseits unserer Vorstellungskraft, in einer Zeit, die weder vor noch nach uns liegt, lebte ein junger Mann. Er stand mit beiden Beinen fest auf der Erde, doch pflegte er es, ausgedehnte Spaziergänge zu machen und hohe Berge zu besteigen. Seine Zuneigung zu den Bergen konnte er sich selbst nicht recht erklären – er genoss es einfach, ab und zu einen Überblick über seine Welt zu haben und etwas frische Luft zu atmen, bevor er sich wieder in sein abwechslungsreiches Dasein stürzte. Er hatte durchaus das, was man ein glückliches Leben nennen konnte – die Menschen um ihn herum respektierten und schätzten ihn, die Welt bot ihm immer neue Herausforderungen, und er war zudem mit einem äußerst wachen und neugierigen Verstand gesegnet. Er lernte, sich in seiner Welt zurechtzufinden, und er war zufrieden mit seinen bisherigen Errungenschaften.
Bis eine Laune des Schicksals – war es Zufall? War es jemandes Absicht? Das würde er nie erfahren, nicht während seiner Lebzeit – bis also eine Laune des Schicksals ein Seil herabfallen ließ. Das Seil schwebte über einer seiner Bergspitzen und gerade in seiner Reichweite – er müsste sich lediglich auf die Zehenspitzen stellen, schon könnte er danach greifen und sich an ihm hochziehen. Doch daran dachte er zunächst gar nicht. Er blickte nämlich an dem Seil hoch – erstaunt über sein plötzliches Auftauchen – und versuchte, den Endpunkt zwischen den Wolken auszumachen. Doch was er sah, begeisterte ihn so sehr, dass es ihm mit einem Male egal wurde, wer dieses Seil woher und warum herabgelassen hatte – er erblickte das Gesicht einer jungen Frau, der schönsten, die er jemals gesehen hat. Für kurze Zeit vergaß er, dass er ein Mensch war, und lächelte sie an.
Sie lächelte zurück.
Er begann zu reden.
Sie konnte ihn hören.
„Hallo“, sagte er. „Ich bin ein Mensch, und wer bist du?“
„Ich bin eine Himmlische“, antwortete sie.
„Eine Göttin?“
„Nein, einfach eine Himmlische.“
Von Himmlischen hatte er noch nie etwas gehört.
„Was machst du da oben?“, fragte er.
„Ich lebe hier“, antwortete sie. „Und was machst du da unten?“
„Auch ich lebe hier“, erwiderte er und erinnerte sich sogleich an die Wetterkunde aus dem Erdkundeunterricht. „Frierst du denn nicht da oben? Ist dir die Luft nicht zu dünn?“
Sie lachte. „Ich möchte eher wissen, ob es dir nicht zu anstrengend ist, immer auf zwei Beinen herumzulaufen und dich mit deinesgleichen abzuquälen, die deine Wanderlust nicht teilen.“
Er blinzelte ein wenig und versuchte ein Lächeln, doch es wollte ihm nicht gelingen.
Sie verstanden sich nicht.
Doch sie hatte ihn gehört, und er hatte sie gesehen. Das musste etwas bedeuten. Das war etwas Besonderes.
In den nächsten Tagen stieg er immer öfter auf die Bergspitze. Manchmal wollte er gar nicht mehr gehen, doch er war ein Mensch, und er wusste, er brauchte andere Menschen um sich, er brauchte ihr Lachen und ihre Wärme, er brauchte Wesen, die das Leben vom Erdboden aus betrachteten und seine Erfahrungen teilten.
Einmal erzählte er der jungen Frau in den Wolken von einem heftigen Sturm, der über das Dorf seiner Großeltern hinweggefegt und viele Häuser verwüstet hat. Diese lächelte nur und meinte: „Ein Sturm? Ich habe von hier oben schon einige Stürme gesehen, doch sie sahen wirklich nicht gefährlich aus.“ „Für uns Menschen sind sie aber sehr gefährlich“, entgegnete der junge Mann und war ziemlich verdutzt über die Leichtigkeit, mit der die junge Frau das Unwetter hinnahm. „Manchmal sterben wir sogar darin.“ „Warum kommt ihr denn nicht einfach hier hoch?“, fragte die Frau. „Wir sind hier sicher vor den Stürmen.“ Darüber hatte der junge Mann noch nie nachgedacht, doch eine Antwort drängte sich ihm sogleich auf: „Wir wollen die Erde nicht aufgeben. Da oben ist es kalt und ohne Leben, wir können uns da bestimmt nicht wohl fühlen.“
Die Frau lachte wieder, doch ein kleiner Teil ihrer Seele lachte nicht mit. Er hatte sie, ohne es zu merken, verletzt. „Weißt du was, Kleiner“, höhnte sie. „Wenn du einmal das Feuer der Sterne aus nächster Nähe gesehen, ihre Hitze auf deinem Gesicht gespürt hast, dann weißt du, was wirkliches Leben ist.“
Der junge Mann wusste nicht, was Sterne waren, zumal sich die Wolkendecke über seiner Welt niemals zerstreute. Doch das erwähnte er nicht. „Nein, wir haben hier auch Leben, wir haben Pflanzen und Tiere, wir haben eine erstaunliche Einsicht in die kleinen Dinge, was uns wiederum Weitsicht verschafft! Wir sehen Moleküle, die sich bewegen, messen Elektronen, die Lebloses bewegen, bei uns findet das reale Leben statt, wie kannst du das nur leugnen!“
Die Frau hatte keine Ahnung von Molekülen und Elektronen, doch das verschwieg sie. Stattdessen ließ sie ein paar Handvoll Hagelkörner auf den jungen Mann herabregnen und lachte schallend. „Was weißt du schon vom Leben? Du kannst dir nicht einmal auf den Hinterkopf schauen, dein Blick reicht bis zu den nächsten Nebelschwaden, und du erzählst mir was von Weitsicht? Schau dir besser auf die Füße, damit du nicht über sie stolperst, wenn du hier weg gehst!“
Der junge Mann ließ seinen Kopf hängen und ging nach Hause. ´Der gibt ja schnell auf´, spottete sie in sich hinein. ´Dann ist er die Mühe auch nicht wert. Warum habe ich bloß angefangen, meine Zeit an ihn zu verschwenden? Das hat man davon, wenn man in einem gewöhnlichen Menschen etwas zu sehen glaubt, was nicht da ist.´ Sie rollte sich auf ihre Lieblingswolke und begann, etwas gelangweilt mit Eiskristallen zu spielen.

Auf seinen Wangen waren Spuren getrockneter Tränen, als er sein Haus erreichte und sich zu seinen Freunden gesellte, die auf der Schwelle saßen und auf ihn warteten. „Was lässt du denn deinen Kopf so hängen?“, fragte der erste. „Ich fürchte, ich habe mich verliebt“, erwiderte der junge Mann. „Was ist so schlimm daran?“, warf ein zweiter ein. „Sie respektiert mich nicht“, schniefte er. „Sie toleriert meine Weltanschauung nicht. Ich dachte, wir seien uns ähnlich, doch scheinbar will sie mich einfach nicht akzeptieren. Ich verstehe nicht, woran das liegt.“ „Na“, grinste ein dritter und schubste ihn leicht. „Nicht gleich heulen. Hier, nimm ein Taschentuch und erzähl mal genauer, was denn nun nicht stimmt zwischen euch.“
Der junge Mann seufzte tief. „Immer, wenn ich ihr etwas erzähle, stellt sie es in Frage. Alles, woran ich glaube, hält sie für dummes menschliches Zeug. Wenn ich sie bitte, mir von ihr zu erzählen, redet sie stundenlang von irgend welchen Kristallen und Dingen, die sie ´Sterne´ nennt, und manchmal verrät sie mir sogar, dass ihr die Aussicht von oben nicht immer gefällt, und wenn ich ihr vorschlage, mal herunter zu kommen, sagt sie, es würde ihr reichen, die Augen zu schließen und sich ihren Eiskristallen zu widmen, um alles andere zu vergessen. Und dann lacht sie wieder und befiehlt mir, alles sofort zu vergessen, zumal sie sich wie das glücklichste Wesen der ganzen Welt fühle und es nicht nötig habe, von einfachen Menschen Ratschläge entgegen zu nehmen. Und dann stehe ich nur noch da und weiß nicht, was ich von ihr halten soll… Ich habe Angst vor ihr, ihre Worte können wie Eiszapfen sein…“ Der junge Mann begann wieder, zu schluchzen, und seine Freunde klopften ihm beruhigend auf den Rücken. „Hast du sie denn schon mal nach diesen Dingen gefragt, diesen ´Sternen´?“, fragte der zweite. „Nein“, gab der Mann zu, „aber ich weiß, was sie sagen würde, wenn ich es täte. Sie würde diese Sterne in überschwänglichen Worten loben und behaupten, ich könne ihre Größe und Hitze niemals erfahren, da ich nur ein Erdenmensch sei und oberhalb der Wolken nicht atmen könne… Was soll ich nur tun!?“
Da äußerte der erste Freund seinen Einfall – er war überhaupt ein sehr spontaner Mensch und glaubte stark an die positiven Wirkungen der Gemeinschaft – „lasst uns“, sagte er, „auf deinen Berg gehen und ihr zeigen, dass wir voll hinter dir stehen!“
Also machten sich die vier auf, bestiegen die Bergspitze, dann formten die drei Freunde ein Podest aus ihren Armen und ließen den jungen Mann darauf steigen. Einen Meter näher am Himmel und mit drei eifrig blinzelnden Freunden unter sich, rief er zu den Wolken hinauf. „Sieh mich an“, schrie er. „Ich bin verzweifelt, aber nicht allein auf dieser Welt! Ich möchte, dass auch du mich respektierst! Ich möchte, dass du mich als fühlende Wesen wahrnimmst!“ In der Welt des jungen Mannes war die Bitte um Respekt und Anerkennung eine sehr ernsthafte Sache, und ein wahrer Mensch konnte nicht anders, als in irgendeiner Art und Weise darauf einzugehen. Die Frau in den Wolken lachte nur laut. „Und wenn du alle Menschen deines Planeten um dich versammelst, so wirst du mir keinen Zentimeter näher kommen!“, spottete sie. „Geh und suche dir eine Frau deiner Art, die dich nach deiner Art respektiert!“ Während sie das sprach, dachte sie bitter: ´Der hat ja keine Ahnung, was Respekt ist.´ Nein, das Verständnis von Respekt in ihrer Welt würde sie ihm niemals nahe bringen können, das wusste sie.
„Komm runter“, rief er. „Komm runter und lass mich dir beweisen, dass du mir wichtig bist! Lass mich dir zeigen, dass ich dich liebe! Bitte!!“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin glücklich hier oben. Warum sollte ich den Weg zu dir auf mich nehmen? Warum sollte ich all das riskieren?“
„Weil…“, begann er und verstummte sogleich. Er stieg von den Armen seiner Freunde, deren Blicke betroffen den Boden absuchten, und schüttelte den Kopf. ´Weil ich dachte, dass ich dir auch wichtig bin´, hallte es in ihm. `Weil ich dachte, dass ich dir nicht egal bin.` Scheinbar hatte er sich geirrt. Für sie war er nur ein netter Zeitvertreib gewesen, nicht mehr. Sie würde ihm nie die Chance geben, verstanden zu werden. Das hatte sie nicht nötig.

Sie verzog das Gesicht, drehte sich von der rührseligen Szene weg, die sich auf dem Erdboden abspielte, und schob eine Wolke vor. `Komm und hol mich doch, du Idiot`, sprach sie in die Leere. `Wieso verstehst du meine Sprache nicht? Glaubst du etwa, du könntest das, was du da in deiner kleinen armseligen Welt gelernt hast, auf mich anwenden? Ich bin nicht eine von deinesgleichen!` „Und er ist nicht so wie du“, sprach eine Stimme. Die Frau drehte sich erstaunt um und erblickte eine andere Himmlische, die das Geschehen scheinbar beobachtet hatte. „Er kennt weder die Kälte noch die Sterne. Du kannst nicht von ihm erwarten, dass er deine Sprache versteht.“ „Was kann ich denn dann überhaupt von ihm erwarten?“, empörte sich die Frau. „Soll ich etwa herabsteigen und ihm Wort für Wort meine Welt erklären?“
Die andere Himmlische lächelte. „Zum Beispiel. Ich habe das auch mal gemacht. Wir können in der Welt der Menschen für einige Zeit existieren, ohne Schaden davonzutragen, die Menschen jedoch erfrieren und ersticken bei uns. Deshalb lag es für mich nahe, zumindest einmal herabzusteigen und meinem Verehrer einige schöne Stunden zu schenken, bevor es mir da unten zu heiß und eng wurde.“ „Na“, warf die Frau ein, „du bist dir aber auch für nichts zu schade. Heruntersteigen – so ein Unsinn.“ „Oh, ich habe es nicht bereut“, lachte die Himmlische. „Es gab Interessantes zu entdecken. Ich habe ihm die Chance gegeben, mir seine Welt zu erklären – in der wir natürlich nicht glücklich werden können, aber die durchaus ihre Existenzberechtigung hat. Immerhin war sie schon immer da – genau wie die unsere.“ Die junge Frau empörte sich erneut. „Ihm eine Chance geben? Warum? Hat er mir denn eine gegeben?“ „Und ob“, sagte die Himmlische und seufzte, denn sie wusste, die andere würde nur das akzeptieren, was sie mit eigenen Augen gesehen, mit eigenem Verstand entdeckt hat – „er hat nach oben geblickt und sich in dich verliebt.“
„Weil ich oben bin. Und weil ich schön bin.“
„Nein, das ist einfach passiert. Und wird ihm nun zum Verhängnis.“

In der Zwischenzeit hatte der junge Mann seine Freunde nach Hause geschickt und war durch Wälder und Berge gewandert. Nun saß er am Eingang einer Höhle und dachte nach. Womit könnte er sie für sich gewinnen? Was konnte er ihr bieten? Und vor allem - wie konnte er sie erreichen?
Sie müsste auf die Erde kommen, kam ihm da in den Sinn. Sie müsste herabsteigen, oder herabfallen, herabgezogen werden, irgendwie! Er erinnerte sich an den Unterricht über den Aufbau der Welt – die Menschen, so hatte er gelernt, waren mit einem Faden an ihren Ursprung gebunden, und wenn der Tod diesen Faden zerschnitt, fielen sie herab ins Erdreich, und was dann mit ihnen geschah, das wusste keiner so recht. Wenn die Menschen also ins Erdreich fielen, mussten die Himmlischen doch auf die Erde herabkommen – er könnte sie auffangen, ihr helfen, sich in der neuen Welt zurecht zu finden, immer mit der Hoffnung, seine Liebe würde irgendwann erwidert werden.
Also stand er auf und begann zu schreien. Er schrie nach dem Tod, nach dem Wächter der Unterwelt, nach jemandem, der ihm helfen konnte. Er schrie viele Tage und Nächte lang, bis er letztendlich kraftlos zusammenbrach und in einen tiefen Schlaf viel.
Und in diesem Schlaf begegnete ihm der Tod.

„Was suchst du hier?“, dröhnte es aus dem Schlund des Todes. „Dich erwarte ich noch nicht!“
„Ich komme mit einer Bitte“, flüsterte der Mann, der nur noch ein Schatten seiner selbst war.
„Eine Bitte? Du möchtest doch wohl nicht meine Schere?“
„Doch, vermutlich möchte ich genau die.“
Der Tod lachte rollend, dann sprach er: „Da hat sich jemand wieder in eine Himmlische verliebt und möchte sie zu sich auf die Erde holen? Ha ha!“
Der junge Mann nickte stumm; scheinbar war er nicht der erste mit diesem Einfall.
„Ich sag dir was, Kleiner“, setzte der Tod fort, „ich habe mich schon oft mit Ihm darüber unterhalten, dass es keine gute Idee ist mit diesen Seilen. Sollen doch die Himmlischen die Himmlischen und die Menschen die Menschen bleiben, habe ich Ihm gesagt. Sollen die doch besser nichts von einander wissen, dann sind wir alle glücklicher! Und Er sagte, nein, glücklicher sind wir, wenn wir voneinander lernen und uns verstehen. Glücklicher sind wir, wenn wir Vielfalt haben und mit Unbekanntem konfrontiert werden. Aber, sagte ich, die leiden doch! Irgendwann, sagte Er, werden sie lernen, das Leid zu Glück zu verwandeln. Irgendwann. Verstehst du das, mein Junge? Und nun kommen sie alle zu mir und wollen die Schere. Den Himmlischen ist das egal, die kommen nicht. Denen reicht es, sich auf den Rücken zu drehen und die Sterne zu zählen, so vergessen Sie, dass es Leid gibt und dass sie nicht glücklich sind. Sie zwingen sich, es zu vergessen. Aber die Menschen – die kommen. Dabei haben sie keinerlei Vorstellung, was sie mit den Himmlischen machen sollen, wenn sie auf die Erde fallen. Na, hast du eine?“
Der junge Mann zuckte zusammen, erschrocken über das plötzliche Ende des Redeflusses. Dann blinzelte er ein paar Mal und meinte: „Ich werde sie auffangen. Ich werde ihr helfen, sich einzugewöhnen. Werde ihr meine Welt zeigen und sie darin glücklich machen.“
„Du weißt ja gar nicht, was sie glücklich macht!“, rief der Tod.
„Ich werde es herausfinden. Ich werde mein ganzes Leben lang danach suchen.“
„Nun gut.“ Der Tod öffnete eine schwarze Klappe, die in einer schwarzen Wand eingebettet war, und steckte seinen Kopf hinein. „Phytia! Komm mal da raus. Du wirst gebraucht.“
Das, was aus der schwarzen Öffnung gekrochen kam, konnte der junge Mann nicht einordnen und nicht benennen. Ein zischendes, sich windendes, scheinbar vielarmiges Wesen mit einem hellen, kuppelförmigen Auge, das auf der Stelle saß, die der Kopf sein könnte.
„Zeig ihm, was passiert, wenn er die Schere benutzt“, sagte der Tod und sogleich stürzte sich Phytia auf den jungen Mann, umschloss mit ihrem Mund – vermutlich war das ihr Mund – seinen Kopf und tauchte alles um ihn in vollkommene Dunkelheit.

Er stand inmitten einer Sandwüste, allein, Stille umgab ihn. Neben ihm auf dem Boden lag eine kleine, silberne Schere. Gerade als er sie aufheben wollte, hörte er einen Schrei. Der Schrei war verzweifelt, aber nicht flehend; zornig, doch nicht hilflos. Sie fiel. Seine Augen suchten den Himmel ab, seine Beine liefen von einer Sanddüne zur anderen, aber er hatte keine Ahnung, wo sie herunterkommen würde. Die Schweißperlen auf seiner Stirn zeugten von seiner unermesslichen Angst – sie nicht fangen zu können. Die Angst war berechtigt.
Ihr Körper schoss herab, weit von der Stelle, an der er stand, und fiel in einen tiefen Abgrund. Er hörte die Erde beben, eilte an den Rand des Erdspalts und blickte hinein. Dort, im Geröll am Fuße zweier gigantischer Felsen, lag sie, klein und verletzt. Sie keuchte, spuckte Sand aus, fluchte, versuchte sich aufzurappeln, doch ihre Beine hielten sich nicht. Sie blieb liegen.
„Das… das wollte ich nicht“, stammelte er. Als Antwort schleuderte sie ihm einen furchterregenden Schrei entgegen. „Verschwinde“, brüllte sie. „Ich will dich nie wieder sehen!“
Er lief den Rand der Schlucht ab, immer wieder, suchte nach Möglichkeiten, hinunter zu klettern, doch die Wände waren so steil und glatt, dass er sich nirgendwo mit den Händen hätte festhalten können. Es war unmöglich.
Er ging einige Schritte zurück, holte tief Atem, nahm Anlauf und sprang.

Phytia ließ den Kopf des jungen Mannes wieder frei und kroch zurück in die dunkle Wandöffnung. Der Tod hatte die Arme verschränkt und ein schiefes Grinsen aufgesetzt. „Genug gesehen?“ Der junge Mann schien sichtlich verwirrt, nickte aber. „Du hast gerade zwei Leben vernichtet“, lachte der Tod. „Was mir selbstverständlich nur zu Gute kommt. Aber wir müssen uns ja alle an Regeln halten, deshalb lass mich dir Folgendes sagen: schlag dir das mit der Schere aus dem Kopf. Lass dir was anderes einfallen.“
Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Ich bin ratlos. Für sie bin ich nicht mehr als ein nutzloser Schatten, ein kleiner Punkt auf einer Bergspitze. Sie in ihrer Höhe und Arroganz nimmt mich überhaupt nicht wahr. Sie spielt nur mit mir! Man darf sich als Mensch wohl nicht in ein höheres Wesen verlieben…“
„Ach“, sagte der Tod. „Das nimmst du dir ganz schön zu Herzen, Kleiner. Wenn du dich nur darüber beklagst, ein nutzloser Schatten zu sein, dann bist du natürlich auch nur ein nutzloser Schatten. Aber wenn du ein einziges Mal den Gedanken zulassen würdest, dass ihr unterschiedliche Sprachen sprecht, würde sich deine Wahrnehmung sofort verändern. E-ech.“ Der Tod seufzte schmunzelnd. „Dass ich hier immer den großen Erklärer spielen muss. Aber ja, die Regeln, die Regeln…“ Der junge Mann begriff nicht wirklich, was der Tod mit den Regeln gemeint hatte, aber mit der Unterschiedlichkeit der Sprachen war er nicht einverstanden. „Mit der Unterschiedlichkeit der Sprachen bin ich nicht einverstanden“, sagte er. „Wir verstehen uns doch. Wir benutzen die gleichen Worte. Wir erzählen uns von unseren Gedanken und reden über die Welt. Wir verstehen uns, und…“ „Nein“, unterbrach ihn der Tod. „Ihr könnt euch nicht verstehen. Weißt du, was Sterne sind? Weiß sie, was Pflanzen sind? Natürlich nicht. Und noch etwas – vergiss das mit dem höheren Wesen. Es fehlt dieser Welt an Dimensionen, deshalb denkt ihr in so einfachen Strukturen wie oben und unten und besser und schlechter und höher und tiefer, und alles bei euch entspricht einander. Die Himmlischen halten sich für etwas Besseres, die da unten beneiden sie und haben Minderwertigkeitskomplexe – das habe ich Ihm auch gesagt, mach doch eine andere Ebene, habe ich gesagt, sie werden alles durcheinander bringen, sie in ihren beschränkten Denkweisen, doch Er wollte euch allen eine Chance geben, wollte, dass ihr irgendwann jenseits von oben und unten denkt und lebt. Irgendwann. Er hat gut reden, hat ja ewig viel Zeit.“ Der Tod lachte kurz auf und boxte den jungen Mann in die Schulter. „Na, Vorschläge?“
Dieser zuckte wieder nur mit den Schultern. „Ich verstehe nicht viel von dem, was du da sagst, aber vermutlich willst du mir weismachen, dass wir beide gleich sind, und gleichzeitig so unterschiedlich, wie zwei Wesen nur sein können. Das ist natürlich sehr einfach zu handhaben, so eine Ausgangssituation…“ Der Tod lachte laut und klopfte dem Mann erneut auf die Schulter. „Junge, du bist gut! Du hast es erfasst. Ihre Arroganz entspricht deinem Stursinn, darin seid ihr gleich. Ihr habt aber unterschiedliche Bezeichnungen dafür, und unterschiedliche Arten, diese Stursinn-Arroganz darzustellen. Darin unterscheidet ihr euch. Nun ja, zugegeben, keine leichte Ausgangssituation. Ihr müsst euch wohl irgendwo in der Mitte treffen.“
Der junge Mann riss die Augen auf. „Das Seil! In der Mitte! Du meinst also, wir müssen uns auf dem Seil treffen? Und ich dachte, es wäre… ich dachte…“

„Wisse, worauf du dich einlässt.“ Die Stimme, die das ausgesprochen hatte, war reiner als Glockenschlag, sanfter als das Rauschen eines Bergbaches, und zugleich lauter als das Geschrei von tausend Krähen. Der Mann blickte sich um und sah eine helle, kleine Gestalt vor sich, deren Augen ihn blendeten, deren Gesicht jung war und doch bereits Tausende von Jahren hinter sich barg. „Ich bin die Liebe“, sagte sie. „Der Tod ist mein Mann.“ Der Tod warf dem jungen Mann einen vielsagenden Blick zu, trat an die Liebe heran und küsste ehrfürchtig ihre Hand. „Der Tod“, begann sie, und ihre Stimme war nun ferner als der Wind, doch wärmer als Feuer, „war einst ein Mensch, genau wie du. Er war der erste Mensch, der sich in eine Himmlische verliebte. Auch er war zunächst verzweifelt, denn ich lachte nur über ihn, ich warf mit Eiszapfen, ich erzählte ihm von den Sternen, während er mir Gedichte aus seiner kleinen Welt vortrug. Aber der Stursinn, der die meisten Menschen dazu zwingt, sich in einer dunklen Ecke zu verbergen und sich leise ihren Tränen des Selbstmitleids hinzugeben, brachte ihn dazu, sein Mensch-sein aufgeben zu wollen. Es war ihm egal, ob ich ihn oben erwartete oder nicht, ob ich ihn verhöhnte – er begann, das Seil zu erklimmen, welches vor seiner Nase baumelte. Die Menschen, die das sahen, versuchten, ihn davon abzuhalten. Sie packten ihn an der Hose, zerrten an seinen Beinen, flehten ihn an, nicht in den sicheren Tod zu klettern. Er schüttelte sie ab. Schlug ihnen den Absatz seines Stiefels ins Gesicht. Schrie sie an, sie sollen ihn in Ruhe lassen. Er wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, seine Geliebte zu erreichen – er musste sich aus der Sphäre der Menschen hinausbegeben. Also kletterte er – stunden-, tage-, wochenlang. Die Luft wurde immer dünner. Der Wind wurde stürmischer, die Umgebung kälter. Ich beobachtete ihn von oben und lachte. Ich lachte, während er keuchte, und ich lachte, während er sich verzweifelt an das Seil klammerte, sich mit seiner letzten Kraft den Strang hochzog. Irgendwann waren seine Finger gefroren, seine Beine zitterten, seine Lippen ließen sich kaum noch öffnen. ´Bitte´, stammelte er, ´bitte komm zu mir´.
Und da, als ich diesen kleinen, jämmerlichen Menschen am Seil hängen sah, als mir bewusst wurde, was ihn der Aufstieg gekostet hatte, nur um mich berühren zu können, begriff ich, dass er alles andere als klein und jämmerlich war. Dass er tapfer, dass er sich selbst aufzugeben bereit war. Dass er das alles für mich tat. Auf einmal wollte ich nicht, dass er erfror. Ich wollte nicht, dass er litt. Er sollte Wärme bekommen, so viel Wärme, wie er nur wollte. Er sollte seine Hand auf mein Herz legen können. Mein Wolkenreich erschien mir nun so blank und leer, so trostlos, so… einsam. Ich wollte ihn bei mir haben – für immer. Also begann ich, herunterzuklettern. Meine Arme und Beine schmerzten, denn ich hatte bisher niemals klettern müssen. Sie schmerzten fürchterlich. Ich hatte ständige Angst, abzurutschen und in die Tiefe zu fallen. Die Hitze verzehrte meinen Körper, der dichte Sauerstoff bereitete mir Schwindelgefühle, ich dachte, ich würde bald die Kontrolle über mich verlieren. Aber immer, wenn ich hinabsah, hing er da und lächelte leicht, nur so viel, wie es seine frostigen Lippen zuließen. Ich kletterte und kletterte…“
„Und als sie endlich bei mir angekommen war, stand ich kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, so lange hatte sie gebraucht“, grinste der Tod und die Liebe kniff ihn in die Seite. „Als sie in meinen Armen hing, war ich das glücklichste Wesen auf der ganzen Welt. Ich kühlte sie ab, sie wärmte mich und hauchte mir überflüssigen Sauerstoff ein, wir sprachen eine Sprache, wir waren verschieden, und doch eins.“ „Dann fragte ich ihn, wo wir zu leben gedachten, und er zuckte mit den Schultern und meinte, ´von mir aus hier am Seil, zwischen unseren beiden Welten´. Womit ich natürlich nicht einverstanden war, also begannen wir, die Unterwelt zu schaffen – eine Welt, in der es uns beiden gut gehen konnte. Die Unterwelt ist all denen ein Zuhause, deren Liebe ewig ist.“
Die Liebe schloss ihre Erzählung, der Tod grinste wieder in Richtung des jungen Mannes, der gerade bemüht war, all das Gesagte zu begreifen, zu verdauen und anzuwenden. Er war keineswegs langsam im Denken, nein, ganz und gar nicht, und er war auch nicht stumpfsinnig, sondern durchaus kritisch und vorsichtig, was die Aufnahme neuer Ideen und Handlungsweisen anging. Das Ergebnis gefiel ihm natürlich, aber mit dem Weg dahin hatte er sich noch nicht so recht anfreunden können. Die Mitmenschen verstoßen? Alles aufgeben, woran man sich bisher gehalten hat? Klettern, während man ausgelacht wird? An sich glauben, wenn sonst keiner mehr an einen glaubt? So unfair konnte die Welt doch nicht sein!
„Es gibt kein fair oder unfair. Es gibt nur Tatsachen“, sagte der Tod und stieß den Mann in die Dunkelheit.

Der junge Mann wachte vom Geräusch seines eigenen Magenknurrens auf. Sein Kopf brummte, und er erinnerte sich vage an einen Traum. Der Tod war darin vorgekommen, und mit der Liebe hatte er über irgendetwas gesprochen. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Was er jedoch noch wusste, war, dass das Seil nicht umsonst über der Bergspitze baumelte. Das Seil war die Lösung. Er musste schnellstens da hin.

Auf der Bergspitze angekommen, bemerkte er ein Lichtermeer, das auf ihn zukam. Menschen mit Fackeln und Kerzen, die auf der Suche nach ihm waren. Die sein Vorhaben erahnt hatten. Die ihn am Boden halten wollten. Einer seiner Freunde eilte allen voran – in den Händen hielt er einen gespannten Bogen. „Hey“, schrie er. „Wenn du das Seil auch nur berührst, werde ich meinen Pfeil darauf loslassen! Ich lasse es nicht zu, dass du dich umbringst!“ „Wir lassen es nicht zu, dass du uns verlässt!“, schrieen andere. „Bleib hier! Bleib!“
Die Frau in den Wolken blickte herab und lachte schallend.
Der junge Mann wusste, dass er allein war. Niemand unterstützte ihn. Niemand verstand ihn. Niemand erwartete ihn am anderen Ende des Seils. All seine Liebe, all sein Vorhaben hing ganz von ihm allein ab. „Ich möchte euch nicht wehtun!“, rief er der Menschenmenge zu. „Bitte, kommt nicht näher!“ Und er ergriff das Seil und begann, sich an ihm hochzuziehen. Sofort schnellte ein Pfeil los und schoss genau auf den Strick einige Meter über seinem Kopf zu. Nichts geschah.
`Verfehlt`, dachte der junge Mann und kletterte weiter. Er bemerkte keinen einzigen der kleinen Eiszapfen, die herabschossen und die Pfeile zerbrachen.
 

Rika

Mitglied
In einem Land jenseits unserer Vorstellungskraft, in einer Zeit, die weder vor noch nach uns liegt, lebte ein junger Mann. Er stand mit beiden Beinen fest auf der Erde, doch pflegte er es, ausgedehnte Spaziergänge zu machen und hohe Berge zu besteigen. Seine Zuneigung zu den Bergen konnte er sich selbst nicht recht erklären – er genoss es einfach, ab und zu einen Überblick über seine Welt zu haben und etwas frische Luft zu atmen, bevor er sich wieder in sein abwechslungsreiches Dasein stürzte. Er hatte durchaus das, was man ein glückliches Leben nennen konnte – die Menschen um ihn herum respektierten und schätzten ihn, die Welt bot ihm immer neue Herausforderungen, und er war zudem mit einem äußerst wachen und neugierigen Verstand gesegnet. Er lernte, sich in seiner Welt zurechtzufinden, und er war zufrieden mit seinen bisherigen Errungenschaften.
Bis eine Laune des Schicksals – war es Zufall? War es jemandes Absicht? Das würde er nie erfahren, nicht während seiner Lebzeit – bis also eine Laune des Schicksals ein Seil herabfallen ließ. Das Seil schwebte über einer seiner Bergspitzen und gerade in seiner Reichweite – er müsste sich lediglich auf die Zehenspitzen stellen, schon könnte er danach greifen und sich an ihm hochziehen. Doch daran dachte er zunächst gar nicht. Er blickte nämlich an dem Seil hoch – erstaunt über sein plötzliches Auftauchen – und versuchte, den Endpunkt zwischen den Wolken auszumachen. Doch was er sah, begeisterte ihn so sehr, dass es ihm mit einem Male egal wurde, wer dieses Seil woher und warum herabgelassen hatte – er erblickte das Gesicht einer jungen Frau, der schönsten, die er jemals gesehen hat. Für kurze Zeit vergaß er, dass er ein Mensch war, und lächelte sie an.
Sie lächelte zurück.
Er begann zu reden.
Sie konnte ihn hören.
„Hallo“, sagte er. „Ich bin ein Mensch, und wer bist du?“
„Ich bin eine Himmlische“, antwortete sie.
„Eine Göttin?“
„Nein, einfach eine Himmlische.“
Von Himmlischen hatte er noch nie etwas gehört.
„Was machst du da oben?“, fragte er.
„Ich lebe hier“, antwortete sie. „Und was machst du da unten?“
„Auch ich lebe hier“, erwiderte er und erinnerte sich sogleich an die Wetterkunde aus dem Erdkundeunterricht. „Frierst du denn nicht da oben? Ist dir die Luft nicht zu dünn?“
Sie lachte. „Ich möchte eher wissen, ob es dir nicht zu anstrengend ist, immer auf zwei Beinen herumzulaufen und dich mit deinesgleichen abzuquälen, die deine Wanderlust nicht teilen.“
Er blinzelte ein wenig und versuchte ein Lächeln, doch es wollte ihm nicht gelingen.
Sie verstanden sich nicht.
Doch sie hatte ihn gehört, und er hatte sie gesehen. Das musste etwas bedeuten. Das war etwas Besonderes.
In den nächsten Tagen stieg er immer öfter auf die Bergspitze. Manchmal wollte er gar nicht mehr gehen, doch er war ein Mensch, und er wusste, er brauchte andere Menschen um sich, er brauchte ihr Lachen und ihre Wärme, er brauchte Wesen, die das Leben vom Erdboden aus betrachteten und seine Erfahrungen teilten.
Einmal erzählte er der jungen Frau in den Wolken von einem heftigen Sturm, der über das Dorf seiner Großeltern hinweggefegt und viele Häuser verwüstet hat. Diese lächelte nur und meinte: „Ein Sturm? Ich habe von hier oben schon einige Stürme gesehen, doch sie sahen wirklich nicht gefährlich aus.“ „Für uns Menschen sind sie aber sehr gefährlich“, entgegnete der junge Mann und war ziemlich verdutzt über die Leichtigkeit, mit der die junge Frau das Unwetter hinnahm. „Manchmal sterben wir sogar darin.“ „Warum kommt ihr denn nicht einfach hier hoch?“, fragte die Frau. „Wir sind hier sicher vor den Stürmen.“ Darüber hatte der junge Mann noch nie nachgedacht, doch eine Antwort drängte sich ihm sogleich auf: „Wir wollen die Erde nicht aufgeben. Da oben ist es kalt und ohne Leben, wir können uns da bestimmt nicht wohl fühlen.“
Die Frau lachte wieder, doch ein kleiner Teil ihrer Seele lachte nicht mit. Er hatte sie, ohne es zu merken, verletzt. „Weißt du was, Kleiner“, höhnte sie. „Wenn du einmal das Feuer der Sterne aus nächster Nähe gesehen, ihre Hitze auf deinem Gesicht gespürt hast, dann weißt du, was wirkliches Leben ist.“
Der junge Mann wusste nicht, was Sterne waren, zumal sich die Wolkendecke über seiner Welt niemals zerstreute. Doch das erwähnte er nicht. „Nein, wir haben hier auch Leben, wir haben Pflanzen und Tiere, wir haben eine erstaunliche Einsicht in die kleinen Dinge, was uns wiederum Weitsicht verschafft! Wir sehen Moleküle, die sich bewegen, messen Elektronen, die Lebloses bewegen, bei uns findet das reale Leben statt, wie kannst du das nur leugnen!“
Die Frau hatte keine Ahnung von Molekülen und Elektronen, doch das verschwieg sie. Stattdessen ließ sie ein paar Handvoll Hagelkörner auf den jungen Mann herabregnen und lachte schallend. „Was weißt du schon vom Leben? Du kannst dir nicht einmal auf den Hinterkopf schauen, dein Blick reicht bis zu den nächsten Nebelschwaden, und du erzählst mir was von Weitsicht? Schau dir besser auf die Füße, damit du nicht über sie stolperst, wenn du hier weg gehst!“
Der junge Mann ließ seinen Kopf hängen und ging nach Hause. ´Der gibt ja schnell auf´, spottete sie in sich hinein. ´Dann ist er die Mühe auch nicht wert. Warum habe ich bloß angefangen, meine Zeit an ihn zu verschwenden? Das hat man davon, wenn man in einem gewöhnlichen Menschen etwas zu sehen glaubt, was nicht da ist.´ Sie rollte sich auf ihre Lieblingswolke und begann, etwas gelangweilt mit Eiskristallen zu spielen.

Auf seinen Wangen waren Spuren getrockneter Tränen, als er sein Haus erreichte und sich zu seinen Freunden gesellte, die auf der Schwelle saßen und auf ihn warteten. „Was lässt du denn deinen Kopf so hängen?“, fragte der erste. „Ich fürchte, ich habe mich verliebt“, erwiderte der junge Mann. „Was ist so schlimm daran?“, warf ein zweiter ein. „Sie respektiert mich nicht“, schniefte er. „Sie toleriert meine Weltanschauung nicht. Ich dachte, wir seien uns ähnlich, doch scheinbar will sie mich einfach nicht akzeptieren. Ich verstehe nicht, woran das liegt.“ „Na“, grinste ein dritter und schubste ihn leicht. „Nicht gleich heulen. Hier, nimm ein Taschentuch und erzähl mal genauer, was denn nun nicht stimmt zwischen euch.“
Der junge Mann seufzte tief. „Immer, wenn ich ihr etwas erzähle, stellt sie es in Frage. Alles, woran ich glaube, hält sie für dummes menschliches Zeug. Wenn ich sie bitte, mir von ihr zu erzählen, redet sie stundenlang von irgend welchen Kristallen und Dingen, die sie ´Sterne´ nennt, und manchmal verrät sie mir sogar, dass ihr die Aussicht von oben nicht immer gefällt, und wenn ich ihr vorschlage, mal herunter zu kommen, sagt sie, es würde ihr reichen, die Augen zu schließen und sich ihren Eiskristallen zu widmen, um alles andere zu vergessen. Und dann lacht sie wieder und befiehlt mir, alles sofort zu vergessen, zumal sie sich wie das glücklichste Wesen der ganzen Welt fühle und es nicht nötig habe, von einfachen Menschen Ratschläge entgegen zu nehmen. Und dann stehe ich nur noch da und weiß nicht, was ich von ihr halten soll… Ich habe Angst vor ihr, ihre Worte können wie Eiszapfen sein…“ Der junge Mann begann wieder, zu schluchzen, und seine Freunde klopften ihm beruhigend auf den Rücken. „Hast du sie denn schon mal nach diesen Dingen gefragt, diesen ´Sternen´?“, fragte der zweite. „Nein“, gab der Mann zu, „aber ich weiß, was sie sagen würde, wenn ich es täte. Sie würde diese Sterne in überschwänglichen Worten loben und behaupten, ich könne ihre Größe und Hitze niemals erfahren, da ich nur ein Erdenmensch sei und oberhalb der Wolken nicht atmen könne… Was soll ich nur tun!?“
Da äußerte der erste Freund seinen Einfall – er war überhaupt ein sehr spontaner Mensch und glaubte stark an die positiven Wirkungen der Gemeinschaft – „lasst uns“, sagte er, „auf deinen Berg gehen und ihr zeigen, dass wir voll hinter dir stehen!“
Also machten sich die vier auf, bestiegen die Bergspitze, dann formten die drei Freunde ein Podest aus ihren Armen und ließen den jungen Mann darauf steigen. Einen Meter näher am Himmel und mit drei eifrig blinzelnden Freunden unter sich, rief er zu den Wolken hinauf. „Sieh mich an“, schrie er. „Ich bin verzweifelt, aber nicht allein auf dieser Welt! Ich möchte, dass auch du mich respektierst! Ich möchte, dass du mich als fühlende Wesen wahrnimmst!“ In der Welt des jungen Mannes war die Bitte um Respekt und Anerkennung eine sehr ernsthafte Sache, und ein wahrer Mensch konnte nicht anders, als in irgendeiner Art und Weise darauf einzugehen. Die Frau in den Wolken lachte nur laut. „Und wenn du alle Menschen deines Planeten um dich versammelst, so wirst du mir keinen Zentimeter näher kommen!“, spottete sie. „Geh und suche dir eine Frau deiner Art, die dich nach deiner Art respektiert!“ Während sie das sprach, dachte sie bitter: ´Der hat ja keine Ahnung, was Respekt ist.´ Nein, das Verständnis von Respekt in ihrer Welt würde sie ihm niemals nahe bringen können, das wusste sie.
„Komm runter“, rief er. „Komm runter und lass mich dir beweisen, dass du mir wichtig bist! Lass mich dir zeigen, dass ich dich liebe! Bitte!!“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin glücklich hier oben. Warum sollte ich den Weg zu dir auf mich nehmen? Warum sollte ich all das riskieren?“
„Weil…“, begann er und verstummte sogleich. Er stieg von den Armen seiner Freunde, deren Blicke betroffen den Boden absuchten, und schüttelte den Kopf. ´Weil ich dachte, dass ich dir auch wichtig bin´, hallte es in ihm. `Weil ich dachte, dass ich dir nicht egal bin.` Scheinbar hatte er sich geirrt. Für sie war er nur ein netter Zeitvertreib gewesen, nicht mehr. Sie würde ihm nie die Chance geben, verstanden zu werden. Das hatte sie nicht nötig.

Sie verzog das Gesicht, drehte sich von der rührseligen Szene weg, die sich auf dem Erdboden abspielte, und schob eine Wolke vor. `Komm und hol mich doch, du Idiot`, sprach sie in die Leere. `Wieso verstehst du meine Sprache nicht? Glaubst du etwa, du könntest das, was du da in deiner kleinen armseligen Welt gelernt hast, auf mich anwenden? Ich bin nicht eine von deinesgleichen!` „Und er ist nicht so wie du“, sprach eine Stimme. Die Frau drehte sich erstaunt um und erblickte eine andere Himmlische, die das Geschehen scheinbar beobachtet hatte. „Er kennt weder die Kälte noch die Sterne. Du kannst nicht von ihm erwarten, dass er deine Sprache versteht.“ „Was kann ich denn dann überhaupt von ihm erwarten?“, empörte sich die Frau. „Soll ich etwa herabsteigen und ihm Wort für Wort meine Welt erklären?“
Die andere Himmlische lächelte. „Zum Beispiel. Ich habe das auch mal gemacht. Wir können in der Welt der Menschen für einige Zeit existieren, ohne Schaden davonzutragen, die Menschen jedoch erfrieren und ersticken bei uns. Deshalb lag es für mich nahe, zumindest einmal herabzusteigen und meinem Verehrer einige schöne Stunden zu schenken, bevor es mir da unten zu heiß und eng wurde.“ „Na“, warf die Frau ein, „du bist dir aber auch für nichts zu schade. Heruntersteigen – so ein Unsinn.“ „Oh, ich habe es nicht bereut“, lachte die Himmlische. „Es gab Interessantes zu entdecken. Ich habe ihm die Chance gegeben, mir seine Welt zu erklären – in der wir natürlich nicht glücklich werden können, aber die durchaus ihre Existenzberechtigung hat. Immerhin war sie schon immer da – genau wie die unsere.“ Die junge Frau empörte sich erneut. „Ihm eine Chance geben? Warum? Hat er mir denn eine gegeben?“ „Und ob“, sagte die Himmlische und seufzte, denn sie wusste, die andere würde nur das akzeptieren, was sie mit eigenen Augen gesehen, mit eigenem Verstand entdeckt hat – „er hat nach oben geblickt und sich in dich verliebt.“
„Weil ich oben bin. Und weil ich schön bin.“
„Nein, das ist einfach passiert. Und wird ihm nun zum Verhängnis.“

In der Zwischenzeit hatte der junge Mann seine Freunde nach Hause geschickt und war durch Wälder und Berge gewandert. Nun saß er am Eingang einer Höhle und dachte nach. Womit könnte er sie für sich gewinnen? Was konnte er ihr bieten? Und vor allem - wie konnte er sie erreichen?
Sie müsste auf die Erde kommen, kam ihm da in den Sinn. Sie müsste herabsteigen, oder herabfallen, herabgezogen werden, irgendwie! Er erinnerte sich an den Unterricht über den Aufbau der Welt – die Menschen, so hatte er gelernt, waren mit einem Faden an ihren Ursprung gebunden, und wenn der Tod diesen Faden zerschnitt, fielen sie herab ins Erdreich, und was dann mit ihnen geschah, das wusste keiner so recht. Wenn die Menschen also ins Erdreich fielen, mussten die Himmlischen doch auf die Erde herabkommen – er könnte sie auffangen, ihr helfen, sich in der neuen Welt zurecht zu finden, immer mit der Hoffnung, seine Liebe würde irgendwann erwidert werden.
Also stand er auf und begann zu schreien. Er schrie nach dem Tod, nach dem Wächter der Unterwelt, nach jemandem, der ihm helfen konnte. Er schrie viele Tage und Nächte lang, bis er letztendlich kraftlos zusammenbrach und in einen tiefen Schlaf viel.
Und in diesem Schlaf begegnete ihm der Tod.

„Was suchst du hier?“, dröhnte es aus dem Schlund des Todes. „Dich erwarte ich noch nicht!“
„Ich komme mit einer Bitte“, flüsterte der Mann, der nur noch ein Schatten seiner selbst war.
„Eine Bitte? Du möchtest doch wohl nicht meine Schere?“
„Doch, vermutlich möchte ich genau die.“
Der Tod lachte rollend, dann sprach er: „Da hat sich jemand wieder in eine Himmlische verliebt und möchte sie zu sich auf die Erde holen? Ha ha!“
Der junge Mann nickte stumm; scheinbar war er nicht der erste mit diesem Einfall.
„Ich sag dir was, Kleiner“, setzte der Tod fort, „ich habe mich schon oft mit Ihm darüber unterhalten, dass es keine gute Idee ist mit diesen Seilen. Sollen doch die Himmlischen die Himmlischen und die Menschen die Menschen bleiben, habe ich Ihm gesagt. Sollen die doch besser nichts von einander wissen, dann sind wir alle glücklicher! Und Er sagte, nein, glücklicher sind wir, wenn wir voneinander lernen und uns verstehen. Glücklicher sind wir, wenn wir Vielfalt haben und mit Unbekanntem konfrontiert werden. Aber, sagte ich, die leiden doch! Irgendwann, sagte Er, werden sie lernen, das Leid zu Glück zu verwandeln. Irgendwann. Verstehst du das, mein Junge? Und nun kommen sie alle zu mir und wollen die Schere. Den Himmlischen ist das egal, die kommen nicht. Denen reicht es, sich auf den Rücken zu drehen und die Sterne zu zählen, so vergessen Sie, dass es Leid gibt und dass sie nicht glücklich sind. Sie zwingen sich, es zu vergessen. Aber die Menschen – die kommen. Dabei haben sie keinerlei Vorstellung, was sie mit den Himmlischen machen sollen, wenn sie auf die Erde fallen. Na, hast du eine?“
Der junge Mann zuckte zusammen, erschrocken über das plötzliche Ende des Redeflusses. Dann blinzelte er ein paar Mal und meinte: „Ich werde sie auffangen. Ich werde ihr helfen, sich einzugewöhnen. Werde ihr meine Welt zeigen und sie darin glücklich machen.“
„Du weißt ja gar nicht, was sie glücklich macht!“, rief der Tod.
„Ich werde es herausfinden. Ich werde mein ganzes Leben lang danach suchen.“
„Nun gut.“ Der Tod öffnete eine schwarze Klappe, die in einer schwarzen Wand eingebettet war, und steckte seinen Kopf hinein. „Pythia! Komm mal da raus. Du wirst gebraucht.“
Das, was aus der schwarzen Öffnung gekrochen kam, konnte der junge Mann nicht einordnen und nicht benennen. Ein zischendes, sich windendes, scheinbar vielarmiges Wesen mit einem hellen, kuppelförmigen Auge, das auf der Stelle saß, die der Kopf sein könnte.
„Zeig ihm, was passiert, wenn er die Schere benutzt“, sagte der Tod und sogleich stürzte sich Pythia auf den jungen Mann, umschloss mit ihrem Mund – vermutlich war das ihr Mund – seinen Kopf und tauchte alles um ihn in vollkommene Dunkelheit.

Er stand inmitten einer Sandwüste, allein, Stille umgab ihn. Neben ihm auf dem Boden lag eine kleine, silberne Schere. Gerade als er sie aufheben wollte, hörte er einen Schrei. Der Schrei war verzweifelt, aber nicht flehend; zornig, doch nicht hilflos. Sie fiel. Seine Augen suchten den Himmel ab, seine Beine liefen von einer Sanddüne zur anderen, aber er hatte keine Ahnung, wo sie herunterkommen würde. Die Schweißperlen auf seiner Stirn zeugten von seiner unermesslichen Angst – sie nicht fangen zu können. Die Angst war berechtigt.
Ihr Körper schoss herab, weit von der Stelle, an der er stand, und fiel in einen tiefen Abgrund. Er hörte die Erde beben, eilte an den Rand des Erdspalts und blickte hinein. Dort, im Geröll am Fuße zweier gigantischer Felsen, lag sie, klein und verletzt. Sie keuchte, spuckte Sand aus, fluchte, versuchte sich aufzurappeln, doch ihre Beine hielten sich nicht. Sie blieb liegen.
„Das… das wollte ich nicht“, stammelte er. Als Antwort schleuderte sie ihm einen furchterregenden Schrei entgegen. „Verschwinde“, brüllte sie. „Ich will dich nie wieder sehen!“
Er lief den Rand der Schlucht ab, immer wieder, suchte nach Möglichkeiten, hinunter zu klettern, doch die Wände waren so steil und glatt, dass er sich nirgendwo mit den Händen hätte festhalten können. Es war unmöglich.
Er ging einige Schritte zurück, holte tief Atem, nahm Anlauf und sprang.

Pythia ließ den Kopf des jungen Mannes wieder frei und kroch zurück in die dunkle Wandöffnung. Der Tod hatte die Arme verschränkt und ein schiefes Grinsen aufgesetzt. „Genug gesehen?“ Der junge Mann schien sichtlich verwirrt, nickte aber. „Du hast gerade zwei Leben vernichtet“, lachte der Tod. „Was mir selbstverständlich nur zu Gute kommt. Aber wir müssen uns ja alle an Regeln halten, deshalb lass mich dir Folgendes sagen: schlag dir das mit der Schere aus dem Kopf. Lass dir was anderes einfallen.“
Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Ich bin ratlos. Für sie bin ich nicht mehr als ein nutzloser Schatten, ein kleiner Punkt auf einer Bergspitze. Sie in ihrer Höhe und Arroganz nimmt mich überhaupt nicht wahr. Sie spielt nur mit mir! Man darf sich als Mensch wohl nicht in ein höheres Wesen verlieben…“
„Ach“, sagte der Tod. „Das nimmst du dir ganz schön zu Herzen, Kleiner. Wenn du dich nur darüber beklagst, ein nutzloser Schatten zu sein, dann bist du natürlich auch nur ein nutzloser Schatten. Aber wenn du ein einziges Mal den Gedanken zulassen würdest, dass ihr unterschiedliche Sprachen sprecht, würde sich deine Wahrnehmung sofort verändern. E-ech.“ Der Tod seufzte schmunzelnd. „Dass ich hier immer den großen Erklärer spielen muss. Aber ja, die Regeln, die Regeln…“ Der junge Mann begriff nicht wirklich, was der Tod mit den Regeln gemeint hatte, aber mit der Unterschiedlichkeit der Sprachen war er nicht einverstanden. „Mit der Unterschiedlichkeit der Sprachen bin ich nicht einverstanden“, sagte er. „Wir verstehen uns doch. Wir benutzen die gleichen Worte. Wir erzählen uns von unseren Gedanken und reden über die Welt. Wir verstehen uns, und…“ „Nein“, unterbrach ihn der Tod. „Ihr könnt euch nicht verstehen. Weißt du, was Sterne sind? Weiß sie, was Pflanzen sind? Natürlich nicht. Und noch etwas – vergiss das mit dem höheren Wesen. Es fehlt dieser Welt an Dimensionen, deshalb denkt ihr in so einfachen Strukturen wie oben und unten und besser und schlechter und höher und tiefer, und alles bei euch entspricht einander. Die Himmlischen halten sich für etwas Besseres, die da unten beneiden sie und haben Minderwertigkeitskomplexe – das habe ich Ihm auch gesagt, mach doch eine andere Ebene, habe ich gesagt, sie werden alles durcheinander bringen, sie in ihren beschränkten Denkweisen, doch Er wollte euch allen eine Chance geben, wollte, dass ihr irgendwann jenseits von oben und unten denkt und lebt. Irgendwann. Er hat gut reden, hat ja ewig viel Zeit.“ Der Tod lachte kurz auf und boxte den jungen Mann in die Schulter. „Na, Vorschläge?“
Dieser zuckte wieder nur mit den Schultern. „Ich verstehe nicht viel von dem, was du da sagst, aber vermutlich willst du mir weismachen, dass wir beide gleich sind, und gleichzeitig so unterschiedlich, wie zwei Wesen nur sein können. Das ist natürlich sehr einfach zu handhaben, so eine Ausgangssituation…“ Der Tod lachte laut und klopfte dem Mann erneut auf die Schulter. „Junge, du bist gut! Du hast es erfasst. Ihre Arroganz entspricht deinem Stursinn, darin seid ihr gleich. Ihr habt aber unterschiedliche Bezeichnungen dafür, und unterschiedliche Arten, diese Stursinn-Arroganz darzustellen. Darin unterscheidet ihr euch. Nun ja, zugegeben, keine leichte Ausgangssituation. Ihr müsst euch wohl irgendwo in der Mitte treffen.“
Der junge Mann riss die Augen auf. „Das Seil! In der Mitte! Du meinst also, wir müssen uns auf dem Seil treffen? Und ich dachte, es wäre… ich dachte…“

„Wisse, worauf du dich einlässt.“ Die Stimme, die das ausgesprochen hatte, war reiner als Glockenschlag, sanfter als das Rauschen eines Bergbaches, und zugleich lauter als das Geschrei von tausend Krähen. Der Mann blickte sich um und sah eine helle, kleine Gestalt vor sich, deren Augen ihn blendeten, deren Gesicht jung war und doch bereits Tausende von Jahren hinter sich barg. „Ich bin die Liebe“, sagte sie. „Der Tod ist mein Mann.“ Der Tod warf dem jungen Mann einen vielsagenden Blick zu, trat an die Liebe heran und küsste ehrfürchtig ihre Hand. „Der Tod“, begann sie, und ihre Stimme war nun ferner als der Wind, doch wärmer als Feuer, „war einst ein Mensch, genau wie du. Er war der erste Mensch, der sich in eine Himmlische verliebte. Auch er war zunächst verzweifelt, denn ich lachte nur über ihn, ich warf mit Eiszapfen, ich erzählte ihm von den Sternen, während er mir Gedichte aus seiner kleinen Welt vortrug. Aber der Stursinn, der die meisten Menschen dazu zwingt, sich in einer dunklen Ecke zu verbergen und sich leise ihren Tränen des Selbstmitleids hinzugeben, brachte ihn dazu, sein Mensch-sein aufgeben zu wollen. Es war ihm egal, ob ich ihn oben erwartete oder nicht, ob ich ihn verhöhnte – er begann, das Seil zu erklimmen, welches vor seiner Nase baumelte. Die Menschen, die das sahen, versuchten, ihn davon abzuhalten. Sie packten ihn an der Hose, zerrten an seinen Beinen, flehten ihn an, nicht in den sicheren Tod zu klettern. Er schüttelte sie ab. Schlug ihnen den Absatz seines Stiefels ins Gesicht. Schrie sie an, sie sollen ihn in Ruhe lassen. Er wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, seine Geliebte zu erreichen – er musste sich aus der Sphäre der Menschen hinausbegeben. Also kletterte er – stunden-, tage-, wochenlang. Die Luft wurde immer dünner. Der Wind wurde stürmischer, die Umgebung kälter. Ich beobachtete ihn von oben und lachte. Ich lachte, während er keuchte, und ich lachte, während er sich verzweifelt an das Seil klammerte, sich mit seiner letzten Kraft den Strang hochzog. Irgendwann waren seine Finger gefroren, seine Beine zitterten, seine Lippen ließen sich kaum noch öffnen. ´Bitte´, stammelte er, ´bitte komm zu mir´.
Und da, als ich diesen kleinen, jämmerlichen Menschen am Seil hängen sah, als mir bewusst wurde, was ihn der Aufstieg gekostet hatte, nur um mich berühren zu können, begriff ich, dass er alles andere als klein und jämmerlich war. Dass er tapfer, dass er sich selbst aufzugeben bereit war. Dass er das alles für mich tat. Auf einmal wollte ich nicht, dass er erfror. Ich wollte nicht, dass er litt. Er sollte Wärme bekommen, so viel Wärme, wie er nur wollte. Er sollte seine Hand auf mein Herz legen können. Mein Wolkenreich erschien mir nun so blank und leer, so trostlos, so… einsam. Ich wollte ihn bei mir haben – für immer. Also begann ich, herunterzuklettern. Meine Arme und Beine schmerzten, denn ich hatte bisher niemals klettern müssen. Sie schmerzten fürchterlich. Ich hatte ständige Angst, abzurutschen und in die Tiefe zu fallen. Die Hitze verzehrte meinen Körper, der dichte Sauerstoff bereitete mir Schwindelgefühle, ich dachte, ich würde bald die Kontrolle über mich verlieren. Aber immer, wenn ich hinabsah, hing er da und lächelte leicht, nur so viel, wie es seine frostigen Lippen zuließen. Ich kletterte und kletterte…“
„Und als sie endlich bei mir angekommen war, stand ich kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, so lange hatte sie gebraucht“, grinste der Tod und die Liebe kniff ihn in die Seite. „Als sie in meinen Armen hing, war ich das glücklichste Wesen auf der ganzen Welt. Ich kühlte sie ab, sie wärmte mich und hauchte mir überflüssigen Sauerstoff ein, wir sprachen eine Sprache, wir waren verschieden, und doch eins.“ „Dann fragte ich ihn, wo wir zu leben gedachten, und er zuckte mit den Schultern und meinte, ´von mir aus hier am Seil, zwischen unseren beiden Welten´. Womit ich natürlich nicht einverstanden war, also begannen wir, die Unterwelt zu schaffen – eine Welt, in der es uns beiden gut gehen konnte. Die Unterwelt ist all denen ein Zuhause, deren Liebe ewig ist.“
Die Liebe schloss ihre Erzählung, der Tod grinste wieder in Richtung des jungen Mannes, der gerade bemüht war, all das Gesagte zu begreifen, zu verdauen und anzuwenden. Er war keineswegs langsam im Denken, nein, ganz und gar nicht, und er war auch nicht stumpfsinnig, sondern durchaus kritisch und vorsichtig, was die Aufnahme neuer Ideen und Handlungsweisen anging. Das Ergebnis gefiel ihm natürlich, aber mit dem Weg dahin hatte er sich noch nicht so recht anfreunden können. Die Mitmenschen verstoßen? Alles aufgeben, woran man sich bisher gehalten hat? Klettern, während man ausgelacht wird? An sich glauben, wenn sonst keiner mehr an einen glaubt? So unfair konnte die Welt doch nicht sein!
„Es gibt kein fair oder unfair. Es gibt nur Tatsachen“, sagte der Tod und stieß den Mann in die Dunkelheit.

Der junge Mann wachte vom Geräusch seines eigenen Magenknurrens auf. Sein Kopf brummte, und er erinnerte sich vage an einen Traum. Der Tod war darin vorgekommen, und mit der Liebe hatte er über irgendetwas gesprochen. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Was er jedoch noch wusste, war, dass das Seil nicht umsonst über der Bergspitze baumelte. Das Seil war die Lösung. Er musste schnellstens da hin.

Auf der Bergspitze angekommen, bemerkte er ein Lichtermeer, das auf ihn zukam. Menschen mit Fackeln und Kerzen, die auf der Suche nach ihm waren. Die sein Vorhaben erahnt hatten. Die ihn am Boden halten wollten. Einer seiner Freunde eilte allen voran – in den Händen hielt er einen gespannten Bogen. „Hey“, schrie er. „Wenn du das Seil auch nur berührst, werde ich meinen Pfeil darauf loslassen! Ich lasse es nicht zu, dass du dich umbringst!“ „Wir lassen es nicht zu, dass du uns verlässt!“, schrieen andere. „Bleib hier! Bleib!“
Die Frau in den Wolken blickte herab und lachte schallend.
Der junge Mann wusste, dass er allein war. Niemand unterstützte ihn. Niemand verstand ihn. Niemand erwartete ihn am anderen Ende des Seils. All seine Liebe, all sein Vorhaben hing ganz von ihm allein ab. „Ich möchte euch nicht wehtun!“, rief er der Menschenmenge zu. „Bitte, kommt nicht näher!“ Und er ergriff das Seil und begann, sich an ihm hochzuziehen. Sofort schnellte ein Pfeil los und schoss genau auf den Strick einige Meter über seinem Kopf zu. Nichts geschah.
`Verfehlt`, dachte der junge Mann und kletterte weiter. Er bemerkte keinen einzigen der kleinen Eiszapfen, die herabschossen und die Pfeile zerbrachen.
 
D

Dominik Klama

Gast
Märchenhafte Geschichte über zwei Liebende, die (lange Zeit) nicht zusammenkommen können. Nicht das Wasser ist dieses Mal zu tief, sondern die Lebenssphäre der jungen Frau ist zu hoch über der ihres Verehrers gelegen, nämlich über den Wolken. Nachdem man sich eine Weile mit Fragen geplagt hat, welche die „natürliche“ Unvereinbarkeit der beiden betreffen, ihr jeweiliges Unverständnis für die Kultursphäre des Anderen und die Verschiedenheit ihrer Sprachen, treten allegorische Ratgeberfiguren hinzu: der Tod, die Liebe. Am Ende wagt der Verliebte das Unmögliche – und, mit etwas Nachhilfe – scheint es sogar zu gelingen.

Rika, daran besteht kein Zweifel, verfügt über erzählerisches Talent, über Liebe zum Schreiben und eine gehörige Portion Lust am Schreiben. Aber, schon zum zweiten Mal, wage ich, dahinter ein kleines Fragezeichen zu setzen: Ist das denn in diesem Fall überhaupt so gut? Könnte ihr nicht etwas mehr Disziplin beim mehrmaligen Überarbeiten, mehr Selbstkritik und mehr Erbarmungslosigkeit beim Streichen nützlich sein? Kurz: Ich halte diese Geschichte für zu lang.

Vor vielen Jahren bin ich als Praktikant bei einer Tageszeitung tätig gewesen. Die zuständige Redakteurin ertappte mich dabei, wie ich einen Textentwurf auf ein neben dem Computer liegendes Blatt mit Kugelschreiber schrieb. Entsetzt und kategorisch rief sie: „Tu das Blatt sofort weg! Hier wird nichts auf Papier geschrieben. Gib alles sofort ins System ein und mache es dann am Computer fertig!“ Das fiel überraschend schwer. Schon von Haus aus neige ich zu langwieriger, umständlicher Rede – und, das ist immer noch meine Überzeugung, Schreiben am Computer verleitet einen unvermerkt zu Textaufblähung, alles wird länger, als es sein müsste. Natürlich kann man (und muss man) nachher x-mal drüber gehen und kürzen. Bei einer Tageszeitung muss man das sowieso, da der Platz immer knapp und meist von außen genau vorgegeben ist. Leider kommt es einem dann aber so vor, als gehe fürs Redigieren und Kürzen, während man Satz für Satz überlegt, was man weglassen kann, ist man am Ende angelangt, dann doch wieder und wieder feststellt, es reicht noch nicht, da muss noch mehr weg, etliches mehr an Zeit drauf als fürs ursprüngliche Schreiben. Und eines Tages sieht man ein: Genau so ist es, genau so muss es sein!

Die später entstandenen literarischen Texte habe ich nach besagter „Schule“ dann sofort am PC begonnen, ohne vorbereitende Notizen auf Papier. Und ich ließ sie lange liegen. Und immer, wenn ich sie mal wieder aufmachte, waren die Dateien unheimlich schwerfällig im Stil und gespickt mit unglaublichen Mengen unnötigen Inhalts. Oh, das war keine angenehme Erfahrung. Und wieder ging ein x-Faches der Zeit fürs Redigieren drauf, die ich ursprünglich mal gebraucht hatte, einfach zu schreiben, was ich zu sagen hatte. Aber, denke ich, genau so muss es sein.

Rika stelle ich mir als eine Autorin vor, die ganz „altmodisch“ vorgeht. Erst denkt sie sich etwas aus. Dann nimmt sie einen Füller in die Hand und schreibt munter drauf los, in schön geschwungener Handschrift. Später liest sie ihren Text noch mal durch, streicht hier und dort etwas, bessert einige Passagen aus. Dann tippt sie ihr Werk ab – und fertig. Wobei ich sie mir eher nicht vorstellen kann, ist Folgendes: Jeden einzelnen Satz, wenn er vermeintlich fertig dasteht, ganz für sich alleine anzusehen und zu überlegen: „Ist das ein guter Satz? Was kann ich da wegnehmen, ohne dass er schlechter wird?“ Das muss man manchmal einfach ausprobieren. Man löscht was weg. Man schaut noch mal hin. Nein! Das war zu viel. Man schreibt es wieder hin. Das macht Arbeit, für die einen später nie jemand loben wird. Aber in aller Regel ist das die beste Geschichte, die genau das und nichts mehr als das enthält, was sie unbedingt braucht.

Und außerdem, das ist aber vielleicht eher meine persönliche Marotte, nutze ich die Möglichkeiten der Textverarbeitung dazu, in den Texten die Satzglieder „probeweise“ hin und her zu schieben. Auf Papier geht das ja nicht so leicht: „Auf Papier geht es nicht so leicht“ ? „Es geht nicht so leicht auf Papier“ ? „Nicht so leicht geht es auf Papier“ ? Es sind die gleichen Wörter, aber es sind verschiedene Möglichkeiten, sie klingen verschieden. Nur eine, denke ich immer, kann die optimale sein. Man muss probieren und lauschen, was besser klingt. Zwar finde ich mich mit dieser Vorgehensweise manchmal dabei wieder, wie ich schlicht und ergreifend nur noch Murks produziere, die allerverschwurbelste Wortstellung erzeuge, falle dem Verdacht dann auch anheim, dass nach Wochen solchen Herumprobierens am Ende vielleicht exakt das wieder dasteht, was auf dem Papier stünde, wenn ich von vornherein mit Füller aufs Blatt getextet hätte. Aber letztlich glaube ich das doch nicht. Nein, die viele Arbeit hat schon ihr Gutes auch.

Ich greife irgendwo eine Passage heraus:
„Die Schweißperlen auf seiner Stirn zeugten von seiner unermesslichen Angst, sie nicht fangen zu können. Die Angst war berechtigt. Ihr Körper schoss herab, weit von der Stelle, an der er stand, und fiel in einen tiefen Abgrund. Er hörte die Erde beben, eilte an den Rand des Erdspalts und blickte hinein. Dort im Geröll am Fuße zweier gigantischer Felsen lag sie, klein und verletzt. Sie keuchte, spuckte Sand aus, fluchte, versuchte sich aufzurappeln, doch ihre Beine hielten sich nicht. Sie blieb liegen. „Das… das wollte ich nicht“, stammelte er. Als Antwort schleuderte sie ihm einen furchterregenden Schrei entgegen. „Verschwinde“, brüllte sie. „Ich will dich nie wieder sehen!“ Er lief den Rand der Schlucht ab, immer wieder, suchte nach Möglichkeiten, hinunter zu klettern, doch die Wände waren so steil und glatt, dass er sich nirgendwo mit Händen hätte festhalten können. Es war unmöglich. Er ging einige Schritte zurück, holte tief Atem, nahm Anlauf und sprang.“

Was mir hier gefällt, ist die Fabulierlust der Autorin. Wie sie sich (und uns) die Szene bildlich vor Augen ruft. Die Details: Schweißperlen auf Stirn, Geröll, zwei Felsen, kleiner Körper, keuchend, Sand ausspuckend, aufrappeln, fluchen, einknickende Beine, Schluchtwände zu schwierig zum Klettern, Atemhohlen... und dann der Höhepunkt: Sprung in den Abgrund!

Gut soweit. Aber würde es denn schlechter, würde es nicht vielmehr besser, wenn die Autorin nun allerlei Beiwerk rigoros löschen würde? Ist „unermessliche“ Angst tatsächlich besser als einfach: Angst? Muss diese Angst weiter bestimmt werden: „sie nicht fangen zu können“? Sagt „tiefer Abgrund“ wirklich mehr als „Abgrund“? Dort unten liegt sie „klein“. Was die Entfernung, Tiefe unterstreicht. Aber nun auch noch „verletzt“? Ja, gut, sie ist verletzt, aber würde es beim Leser nicht vielleicht mehr Wirkung machen, wenn man das jetzt, aus dieser Distanz, noch gar nicht wüsste? Sie kann verletzt sein, sie kann vielleicht sogar tot sein. Man sieht nur einen sehr, sehr klein wirkenden Körper. Dann schreit sie, wie als Antwort auf sein Stammeln, wobei eher unwahrscheinlich ist, dass sie seine Worte hat verstehen können. Gut, der Schrei passt zu seiner Angst. Der Schrei zeigt, dass sie noch am Leben ist. Aber wird er für den Leser zu einem „besseren“ Schrei, weil ihm die Autorin ein Schild umhängt: „furchterregend“?

„Verschwinde!“ und „Ich will dich nie wieder sehen“ ist zwar ziemlich doppelt gemoppelt, in diesem Fall nehme ich das allerdings hin, denn Leute sprechen nun mal doppelt gemoppelt, besonders wenn sie erregt sind. Er wollte hinunter, „doch die Wände waren steil und glatt“. Das reicht voll und ganz. Die Ausführung „deshalb konnte man sich nirgendwo festhalten. Es war unmöglich, nach unten zu kommen“ ist etwas, was sich auch der dümmste Tropf unter Rikas Lesern an dieser Stelle selber denken kann. Man muss den Lesern nicht alles abnehmen, man muss ihnen nicht jedes Wort einer Geschichte auf dem silbernen Tablett servieren. Letztlich mögen sie das gar nicht so. Ich glaube, sie würden es mehr mögen, wenn die Geschichte ihnen ein gewisses Quantum Worte überreichte und sie sich ein unausgesprochenes Quantum selber noch dazu denken könnten.

Nun, das sind Stil- und also Geschmacksfragen. Aber damit komme ich zu etwas, was mich an dieser Geschichte mehrfach wirklich sehr gestört hat. Erzähler-Kommentare wie: „...seine unermessliche Angst. Die Angst war berechtigt“. Der gesamte Text ist dicht an der Perspektive des Mannes, der nach oben will, gehalten. Wir Leser erleben, was er erlebt, sehen, was er sieht, bekommen erzählt, was ihm erzählt wird. Wir sind zufrieden, wenn es heißt: „Er hatte Angst“. Meinetwegen auch: „Er hatte unermessliche Angst“, meinetwegen auch: „Er hatte unermessliche Angst, weil...“ Aber was, um Himmels Willen, soll es denn bringen, wenn neben diesem Protagonist-nahen Erzähler nun auch noch ein allwissender, allerklärender Erzähler auftritt und fürsorglich letzte Wahrheiten verkündet: „Also Leute, wisst ihr, das war nämlich so, das war kein Hirngespinst, die Angst war wirklich sehr berechtigt.“ (Was übrigens ziemlicher Mumpitz ist. Angst bleibt Angst, ob sie „zu Recht“ besteht oder nur „eingebildet“ ist. Unglück bleibt Unglück, egal ob „objektiv“ wirklich schlimm oder nur „subjektiv so gefühlt“.)

Ähnlich fatale Erzählerurteile sind:

„Er stand mit beiden Beinen fest auf der Erde, doch pflegte er, ausgedehnte Spaziergänge zu machen.“ Hübsch witziger Satz, aber eine Geschichte, die eine „Held“-nahe Er-Perspektive hat, bitte ich nicht mit einer oberamtlichen Erzählerstimme zu beginnen, die mir sagt, was ich von einem Helden zu denken habe, über den ich bis dato noch nicht das Geringste erfahren habe.

„sein abwechslungsreiches Dasein“: Entweder dieses Dasein (also was ist, wenn er nicht auf dem Berg ist) ist von Bedeutung für die hier erzählte Geschichte. Dann wird es an geeigneter Stelle schon noch berichtet werden. Oder es ist nicht von Belang. Dann muss es hier auch nicht bewertet werden.

„War es Zufall? Das würde er nie erfahren, nicht während seiner Lebzeit.“
Und warum müssen wir, die Leser, erfahren, dass er das nicht erfahren wird?

„Da äußerte der Freund einen Einfall – er war überhaupt ein sehr spontaner Mensch und glaubte stark an die positiven Wirkungen der Gemeinschaft – „Lasst uns auf den Berg gehen!“
Wollte ich echt nicht wissen, was diese Null-Figur sonst so glaubt und meint.

„Der Tod grinste wieder in Richtung des jungen Mannes, der sich bemühte, das Gesagte zu begreifen. Er war keineswegs langsam im Denken, ganz und gar nicht, er war nicht stumpfsinnig, sondern durchaus kritisch und vorsichtig, was die Aufnahme neuer Ideen anging.“
Falls dies etwas ist, von dem die Autorin meint, für uns Leser sei es wichtig, um die Geschichte zu erschließen, dann sollte sie es nicht den Erzähler dekretieren lassen, sondern sie sollte die Figur so handeln oder sprechen lassen, dass wir zu dieser Einschätzung ihres Charakters „wie von alleine“ gelangen.

„Verfehlt, dachte der junge Mann und kletterte. Er bemerkte keinen einzigen der Eiszapfen, die herabschossen...“
Und genau an dieser Stelle, dem letzten Satz, nehme ich es dann doch mal hin, dass ein allwissender Erzähler die Er-Perspektive durchbricht. Schließlich ist das ja der Clou der Geschichte, dass ihm hier geholfen wird.

Wir haben es mit einer Liebesgeschichte zu tun. Zwei Leute lieben sich. Zwei Leute wollen einander. Aber zwei Leute können nicht zusammenkommen. Das heißt, halt! Ich bin mir da nicht so sicher. Mir nämlich erzählt Rika die ganze Story über nur, dass der Junge das Mädchen liebt (oder zumindest sexuell oder so irgendwie begehrt). Ich sehe nicht einen Satz, aus dem hervorgeht, dass auch das Mädchen den Jungen liebt. Das wird nur vorausgesetzt. Es ist eine Liebesgeschichte. Also lieben sich zwei. Ja, aber wenn nur einer lieben würde? Er begehrt sie. Also will sie von ihm erobert werden. Wollen alle weiblichen Wesen von allen männlichen erobert werden, falls diese sie ernsthaft begehren und nicht etwa nur so tun?

„Er erblickte das Gesicht einer jungen Frau, der schönsten, die er jemals gesehen hatte.“
„Ich fürchte, ich habe mich verliebt“, erwiderte der junge Mann. „Sie respektiert mich nicht. Ich dachte, wir seien uns ähnlich, doch scheinbar will sie mich nicht akzeptieren.“

Für ihn scheint es klar, dass, wenn er jemanden liebt, dieser jemand zurückzulieben hat. Für mich ist das überhaupt nicht klar. Außerdem ist es nicht notwendigerweise Liebe, wenn man jemandem, den man begehrt, ähnelt. Oder wenn man jemanden in seiner Eigenart akzeptiert. Man kann auch neunzigjährige Urgroßväter in ihrer Eigenart respektieren, ohne in sie verliebt zu sein.

„Lass mich dir zeigen, dass ich dich liebe! Bitte!“
Die Liebe als Forderung, zumindest als Geschäft auf Gegenseitigkeit: Ich gebe dir meine Liebe, damit du mir deine gibst. Wenn ich sie nicht erhalte, klage ich beim Zivilgericht die vorenthaltene Gegenleistung ein.
Möglicherweise ist es aber auch das „Bitte“-Sagen. „Ich liebe dich und ich bitte dich, mich auch zu lieben. Jetzt muss es was werden.“

„Sieh mich an“, schrie er. „Ich bin verzweifelt, aber nicht allein auf dieser Welt!“
Welch ein Genosse! Man wird geliebt, wenn man Freunde hat, man wird also eher nicht geliebt, wenn man keine Freunde hat. Mag ja tatsächlich öfter so sein, aber das hier ist ein Argument. Und man kann doch niemanden in Liebe hinein argumentieren. Bei Gefühlen ist mit Argumenten sowieso nie was zu machen.

„Ich werde sie glücklich machen in meiner Welt.“ „Du weißt ja gar nicht, was sie glücklich macht!“, rief der Tod.
Das dürfte ein wahres Wort des Todes sein. Aber ich frage wieder: Verliebt sich eine Frau in einen Mann, weil er die feste Absicht hat, sie glücklich zu machen? Ich kenne mich leider recht wenig aus, was das Sich-Verlieben von Frauen in Männer betrifft. Dennoch erschiene es mir so herum plausibler: Erst verliebt sie sich – und dann findet sie es gar nicht übel, dass er sie auch noch glücklich zu machen versucht.

Aber immer noch: Wo steht eigentlich, dass sie sich in ihn verliebt? Ich kann das nicht finden. Gut, das ist Genregesetz aller Screwball-Comedys, dass zwei, die sich unbemerkt immer mehr in einander verlieben, sich ewig angiften und bekriegen, bis sie sich dann doch einmal küssen. Das ist lustig fürs Publikum. Aber dennoch sollte ich als Publikum vom Künstler schon irgendwie angezeigt bekommen, dass sich beide (beide!) grade am Verlieben sind.

„Er hat nach oben geblickt und sich in dich verliebt“,
klärt in dieser Geschichte die zweite Himmlische ihre Schwester auf. Ja, das wissen wir nun, dass er sich verliebt hat. Aber sie? Wann? Wie? Wieso?

Screwball-Dialoge-mäßig lese ich hier folgende Äußerungen, mit denen sie von seiner Anwesenheit Kenntnis nimmt:

„Weißt du was, Kleiner“, höhnte sie. „Wenn du einmal das Feuer der Sterne aus nächster Nähe gesehen, ihre Hitze auf deinem Gesicht gespürt hast, dann weißt du, was wirkliches Leben ist.“

„Bitter dachte sie: Der hat ja keine Ahnung, was Respekt ist.“

„Der gibt ja schnell auf, spottete sie in sich hinein. Dann ist er die Mühe nicht wert.“

„Komm und hol mich, du Idiot! Wieso verstehst du meine Sprache nicht? Glaubst du, du könntest das, was du da in deiner armseligen Welt gelernt hast, auf mich anwenden? Ich bin nicht von deinesgleichen.“

Der Tod: „Den Himmlischen ist das egal, die kommen nicht.“
Die „Himmlischen“ wollen nicht herunter zu den Irdischen, wenn es sie etwas kostet. Nur die Irdischen wollen leiden, um zu den Himmlischen zu gelangen. Das deutet nicht so sehr darauf hin, dass überhaupt irgendwelche Himmlischen irgendwelche Irdischen jemals lieben könnten.

„Stattdessen ließ sie ein paar Handvoll Hagelkörner auf den jungen Mann herabregnen und lachte schallend. „Was weißt du schon vom Leben? Du kannst dir nicht einmal auf den Hinterkopf schauen.“
Daran leidet übrigens der Prinz in Georg Büchners „Leonce und Lena“, dass er unfähig ist, sich auf den Hinterkopf zu sehen. Entweder sie hat es von dort (oder sonst wo) übernommen oder das ist eine der Stellen, für die ich Rika rückhaltlos bewundere: auf so einen Einfall kommen! Könnte ich nie.

Jetzt gibt es aber gegen Ende hin doch noch eine Stelle, wo erläutert wird, warum sich eine Frau in einen Mann verliebt. Die Frau des Todes nämlich, die Liebe, erzählt ihre eigene Geschichte:

„Und da, als ich diesen jämmerlichen Menschen am Seil hängen sah, als mir bewusst wurde, was ihn der Aufstieg gekostet hatte, nur um mich berühren zu können, begriff ich, dass er alles andere als jämmerlich war. Dass er tapfer war, bereit, sich selbst aufzugeben. Dass er alles für mich tat.“

Nun habe ich ja mit der erotisch-liebenden Annäherung der unterschiedlichen Geschlechter (zum Glück) wenig zu tun, aber da würde ich dann schon maliziös grinsen: Liebe Damen, wenn das tatsächlich so wäre, wenn es nicht so drauf ankommt, ob ihr einen Kerl wollt, sondern erst mal nur, ob der Kerl euch will, wenn ihr, falls dies der Fall ist, euch bockig stellt, egal, was ihr fühlt, euch aber einnehmen lasst, wenn einer unter Beweis stellt, dass er alles und jedes aufgibt, um euch zu kriegen, dann, ohngeachtet der Tatsache, dass es eurer Eitelkeit schon auch schmeicheln mag, müsst ihr euch später aber nicht wundern, wenn ihr euch mit durchgedrehten Fanatikern, schwafelnden Ober-Egos, aufdringlichen Stalkern bzw. Schürzenjägern verheiratet findet, die ihre Berennungskunst mittlerweile an jüngeren Geschlechtsgenossinnen abchecken.


„Aber wenn du ein einziges Mal den Gedanken zulassen würdest, dass ihr unterschiedliche Sprachen sprecht, würde sich deine Wahrnehmung verändern.“

Dazu hätte ich gerne mehr gelesen. Erklärt wird das nur so: Er sei stur, sie sei arrogant, letztlich sei das dasselbe, beide also eins, also könnten sie sich lieben. Tatsächlich sprechen aber natürlich Himmlische und Irdische, sprechen Frauen und Männer in verschiedenen Sprachen. Und das kann man in so einer Geschichte zeigen. Man kann diese Figuren aneinander vorbei reden, sich falsch verstehen lassen. Was aber so gut wie gar nicht vorkommt. Oder ist das der Unterschied zwischen Frauen- und Männersprache, wenn mir als Mann eine Frau hinterher ruft: „Du armseliger Idiot! Du hast ja keinen Respekt!“ Und da sollte ich denken, sie will mir sagen, dass sie mich liebt – verstehe aber nur, dass sie mich beleidigt?

„Ein Sturm? Ich habe von hier oben schon einige Stürme gesehen, doch sie sahen wirklich nicht gefährlich aus.“ „Für uns Menschen sind sie sehr gefährlich“, entgegnete der Mann und war verdutzt über die Leichtigkeit, mit der die junge Frau das Unwetter hinnahm. „Manchmal sterben wir darin.“ „Warum kommt ihr denn nicht einfach hier hoch?“, fragte sie.“

Das gefiel mir. Doch, doch, in dieser Beziehung hätte man die Geschichte noch länger machen können. Wie sich zwei zwar lieben, aber sich deswegen noch lange nicht verstehen. Und wie dieses das Leben nun verkompliziert. Wäre interessant gewesen zu lesen.

„Wenn also die Menschen ins Erdreich fielen, mussten die Himmlischen doch auf die Erde herabkommen.“
Klingt für mich so logisch wie: „Wenn ich keine Nieren essen mag, dann muss meine Freundin doch aber Leber gerne haben.“ Jedenfalls steht meines Wissens in dieser Geschichte nicht, dass die Irdischen und Himmlischen beide an demselben Seil hängen. Wenn man unten abschneidet, müssten oben die dann fallen. Es steht nur drin, dass die untern an Seilen hängen. Die aber nicht über die Wolken hinauf, sondern in die Erde hinunter führen. Schneide ich in diesem Fall und fallen die unten nach ganz unten durch, dann könnten die oben nur fallen, wenn sie auf den Schultern der Leute von unten stehen würden. Eine solche Erklärung kann ich im Text nicht entdecken.

„Der junge Mann wusste nicht, was Sterne waren, zumal sich die Wolkendecke über seiner Welt niemals zerstreute.“
„Wir haben eine erstaunliche Einsicht in die kleinen Dinge, was uns wiederum Weitsicht verschafft! Wir sehen Moleküle, die sich bewegen, messen Elektronen, die Lebloses bewegen.“

Mit Naturwissenschaft hat es Rika nicht so. Und das darf man auch nicht von ihr verlangen. Meines Erachtens sind Elektronen nicht die Beweger von irgendwas, sondern vielmehr Teilchen im Atom, die sich selber bewegen. Moleküle sind Verbindungen mehrerer Atome. Bewegen dürften sie sich vor allem, wenn sie erhitzt werden und in gasförmigen Zustand übergehen. Aber egal. Was mich hier etwas stört, ist, dass, obwohl es ja nicht die Realwelt mit uns Realmenschen ist, sondern eine fantastische, die Irdischen offenbar eine so fortgeschrittene Einsicht in den Charakter von Materie haben, dass sie Moleküle und Elektronen nicht nur deduzieren, sondern sogar beobachten können. Sie haben also hervorragende technisch-naturwissenschaftliche Gerätschaften, die ihnen dergleichen erlauben. Und dennoch haben sie nicht die Gerätschaften, die ihnen die Existenz von Sternen verraten, die sich hinter einer Wolkendecke verbergen.

Lästig für den Leser, gerade bei längeren Texten, ist, wenn die Absätze so dicht aufeinander hocken. Von eigenen Erfahrungen ausgehend erkläre ich mir das so: Ich schreibe meine Texte mit dem Programm Word. Hierbei habe ich den Abstand zwischen den Absätzen im Brottext mittels Eingabe einer Formatvorlage geregelt. Ich tippe Absatzmarke also immer nur einmal, wenn ich den Absatz wechsle. Kopiere ich einen so erstellten Text nun in die Leselupe hinein, so geht der Charakter meiner Formatvorlage dort verloren. Plötzlich sind alle „Leerzeilen“, die ich bei mir stehen hatte, weg. Dem Abhilfe schaffen geht so: Ich erzeuge mit „Speichern unter...“ eine Dublette meiner Geschichte, die einzig dem Zwecke des Herübersetzens in die Leselupe dient. In dieser (zweiten) Datei markiere ich den gesamten Text mit „Strg“ + „a“. Dann wähle ich im Menü „Bearbeiten“ den Unterpunkt „Ersetzen“ und lasse alle Absatzmarken (zu finden bei „Sonstiges“) durch zwei Absatzmarken ersetzen. Jetzt noch einmal alles markieren, alles kopieren, in die Leselupe gehen und alles einfügen. Dann liest es sich augenfreundlicher.
 



 
Oben Unten