Der Apfel

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Netotschka

Mitglied
Der Apfel

Pater Thomas sah sich in der leeren Kirche um, noch ganz erfüllt von tiefer Unruhe, wie sie ihn in der letzten Zeit immer häufiger nach dem Gottesdienst befiehl. Schien ihm diese Unruhe zunächst Ausdruck seiner Sehnsucht nach Gott, so betrachtete er sie nun voller Sorge und Misstrauen: Sein Blick blieb auf dem Antlitz des Gekreuzigten haften, doch ihn erfüllte nur tiefe Unruhe, die er nicht zu deuten wagte.

Die Menschen, die mit ihm gebetet hatten, waren seit langem gegangen. Pater Thomas war nun allein. Weihrauchgeschwängerte, dämmrige Stille umgab ihn als eine Wirklichkeit, die ihm immer fremder wurde, ihn aber dennoch in ihren Bann zog.

Schweren Schrittes ging er zu seinem Beichtstuhl, in den nach einer Weile eine Frau eintrat. Es war eine junge Frau mit quellenden Brüsten, deren Nacktheit ihn so sehr erregte, dass ihm der Atem stockte und er den Blick nicht abwenden konnte. Die Erregung verschlang all seine Gedanken, so dass es nicht einmal wahrnahm, dass er drei Brüste sah.
Zitternd vor Begierde streckte er eine Hand aus, um nach der mittleren Brust zu greifen - doch da entzog sich ihm der Zauber und entliess ihn wieder in die quälende Wirklichkeit der Kirche: Es schien ihm, als ob sich ein Lachen ganz leise von ihm entfernte, dann war es wieder ganz still in ihm und in dem Raum, der ihn dunkel einhüllte. In seiner Hand aber, die er vorher ausgestreckt hatte, hielt er einen Apfel.

Müde nach diesem nie erlebten Gefühl der Wollust, begab sich Pater Thomas in seine Kammer. Dort legte er den Apfel vor sich auf den Tisch und betrachtete ihn, denn er kam ihm sehr unwirklich vor. Dann aber erinnerte er sich an das Lachen in der Kirche, und er schämte sich und verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte sich in den Schlaf.

Als Pater Thomas erwachte, empfand er sein Erlebnis nur noch wie ein fernes Wetterleuchten nach einem nächtlichen Gewitter und es verlangte ihn danach, den letzten stummen Zeugen - den Apfel - zu beseitigen, und er biss er in den Apfel.

Die Wirkung, die er fast augenblicklich verspürte, war wahrhaftig wunderbar: Alle Gebrechen, die seinem schwächlichen, frühzeitig gealterten Körper anhafteten, waren verschwunden. Augenblicklich fühlte er, wie sein Körper wieder stark wurde und sich mit Leben füllte.
Nach alter Gewohnheit wollte er niederknien und seinem Gott danken. Doch wofür sollte er ihm danken? Für den Apfel?
Beschämt hielt er inne, kniete dann aber nieder und dankte Gott für die ihm erwiesene, körperlich spürbare Gnade, und in Gedanken fügte er noch, mehr zu sich selbst sprechend, hinzu, dass er sich der paradiesischen Frucht würdig erweisen wolle. Dann brach er ab, denn es ärgerte ihn, so mit seinem Gott in Andeutungen gesprochen zu haben - als ob er sich seiner Gedanken schäme... Dabei hatte er nur anfangs und nur für einige Augenblicke daran gedacht, den Apfel ganz für sich zu behalten.

Er nahm ein Messer und begann, den Apfel zu zerteilen. Er zerteilte ihn in so viele Stücke, wie seine Gemeinde Mitglieder hatte, Greise und Kinder mitgerechnet.
Als er damit fertig war, lehnte er sich zurück, etwas müde zwar, aber glücklich, denn seine Gemeinde war ihm lieb und teuer. Sie waren seine Kinder, auch jene, die nicht in sein Gotteshaus kamen.

Schliesslich liess er seinem Geist die Zügel locker und er träumte. Er träumte, dass seine Gemeinde in einer langen Reihe vor ihm stünde. Einer nach dem anderen knieten sie nieder, und er gab jedem von ihnen ein Stückchen Apfel und sagte: "Nimm hin dieses Stück, es ist ein Teil meiner Seele." Und ganz sicher meinte er, was er sagte, denn er war demütig und wollte dieses Opfer bringen.

Doch da gebar sein Geist einen weiteren Traum, einen der ihn mit Krallen packte und nicht mehr losliess. Einen Traum, würdig eines Gottes, aber zu mächtig für einen Menschen.
Er sah sich in seiner Kirche auf der Kanzel stehen, die Orgel spielte, die Menschen in den Kirchenbänken sangen. Alles war wie gewöhnlich, jedoch schien ihm der Gesang etwas lauter und die Kirche gefüllter als zu anderen Zeiten. Er schaute genauer... Nein, da waren nicht nur mehr Menschen, die zu ihm aufschauten. Das Gotteshaus selber wurde grösser und grösser und füllte sich mit mehr und mehr Menschen. Der Gesang wurde immer lauter... ohrenbetäubender Gesang aus unzähligen Menschenkehlen betäubte ihn.

Dann waren die Mauern der Kirche ganz verschwunden. Vor ihm standen alle Menschen dieser Erde, und sie sangen zum Lobe Gottes.
Plötzlich verstummte der Gesang. In der Stille kniete einer nach dem anderen nieder, und er gab jedem von ihnen ein Stück von dem Apfel, der seine Seele war...


Da Pater Thomas schon seit Tagen von keinem Menschen mehr gesehen worden war, liess man die Tür zu seiner Kammer aufbrechen.
Sie fanden ihn sitzend vor seinem Tisch, mit einem Messer in der Hand. Er zerteilte einen Apfel in immer kleinere Stücke. Seine Augen leuchteten und sein Gesichtsausdruck war der eines Besessenen.

"Verrückt!", sagten sie und übergaben ihn den Ärzten. Und die Apfelstückchen warfen sie in den Mülleimer.
 

Elmar

Mitglied
Hallo "Nichtpunkt" ;-)
zur später Nacht, kurz vor dem Schlafengehen noch einen Blick in die Leselupe... und stolpere über deinen Apfel. Nicht ganz einfach für die späte Stunde, doch etwas hält mich daran fest, läst es mich ein zweites Mal lesen... ein drittes Mal. Verdammt, Priester, Sex, Träume... das hab ich irgendwo auch schon mal zum Thema gehabt (Kybele). Wie es scheint kommst auch du aus einer katholischen Vergangenheit - mich lässt das Thema nie ganz los, obwohl ich in gewisser Weise bereits vor über 20 Jahren damit abgeschlossen habe (was schließt man schon wirklich ab im Leben!?).
Keine Ahnung, ob ich auch nur annährernd verstehe, was du genau mit deiner Geschichte sagen willst... Doch ich habe immer wieder den Eindruck, das macht nichts, denn zu viel Intellekt und Erklären führt in den Sumpf.
So, jetzt geh ich schlafen (2.45 h)...
Viele Grüße,
Elmar
 

La Luna

Mitglied
Liebe Netotschka, :eek:)

da grabe ich mich durch den Staub der Jahre, schon etwas müde und auch sonst nicht wirklich etwas erwartend, und dann stoße ich auf dieses Kleinod meisterlicher Erzählmanier.
Fast ohne die auflockernde wörtliche Rede gelingt es dir, die Spannung nicht abreißen zu lassen und so den Leser nicht nur „bei der Stange“ zu halten, sondern ihn unmerklich in den Strudel eines kaum greifbaren Grauens zu dirigieren.
Am Ende der Geschichte angelangt, suchte ich automatisch nach irgendeiner Moral.
Gefunden habe ich mehrere:
Da ist zunächst einmal die fleischliche Sünde, die durch den Apfel symbolisiert wird - ein wahrer Jungbrunnen, dessen Genuss der Pater mit möglichst vielen Menschen teilen möchte. Er wurde besessen von dem Gedanken daran, diesen speziellen „Genuss“ zu teilen. Ich kenne Leute, denen es ähnlich ergeht…*schmunzel*…nur nenne ich es Sexsucht.
Ein anderer Pfad, den ich gedanklich entlang marschierte, führte mich zu Atlas, du weißt schon, dieser bucklige Grieche, der die Last der Welt auf seinen Schultern trägt. Ich fragte ihn: „Hey! Warum schleppst du denn diese olle Welt mit dir herum? Denk’ doch mal an dich selbst!“ Da erwiderte er keuchend: „Ich trage sie nun schon so lange auf meinen Schultern, dass ich darüber ganz vergaß, warum ich sie einst aufhob.“
Doch bevor ich noch was sagen konnte, war er schon auf und davon. Da fragte ich mich, ob er vielleicht diese schwere Bürde aufnahm, um nicht über sich selbst nachdenken zu müssen.
Und plötzlich fielen mir Leute ein, auf die genau das sehr wohl zutrifft. Wie besessen machen sie die Sorgen anderer Menschen zu ihren eigenen, egal wie schwer sie wiegen. Einige von ihnen nennt man Psychologen, die anderen Verdränger.
Unser Pater, als treuer Katholik, hatte natürlich durch seine wolllüstigen Empfindungen, einiges an Sünde auf sich geladen. Auch wird dieser seelische Zwiespalt ja sehr deutlich in dieser Geschichte dargestellt. Blendete er vielleicht diesen Gewissenskonflikt aus, indem er es sich zur Aufgabe machte, einen Apfel in sechs Milliarden Teile zu schneiden?

Ja, das also waren meine Gedanken zum Text. Doch bevor du nun übermütig wirst, habe ich noch etwas Arbeit für dich. Keine Sorge, ist nicht viel. ;o)

Pater Thomas sah sich in der leeren Kirche um, noch ganz erfüllt von tiefer Unruhe, wie sie ihn in der letzten Zeit immer häufiger nach dem Gottesdienst [blue]befiehl.[/blue] [red]Kein „h“[/red]

Die Erregung verschlang all seine Gedanken, so [blue]dass[/blue] [strike]es[/strike] [red]er[/red] nicht einmal wahrnahm, [blue]dass[/blue] er drei Brüste sah.

Diese beiden „dass“ sind natürlich kein Fehler im eigentlichen Sinne. Sie stören mich trotzdem.
Was hältst du davon? „Die Erregung verschlang all seine Gedanken. Er nahm nicht einmal wahr, dass er drei Brüste sah.“

Es schien ihm, als ob sich ein Lachen ganz leise von ihm entfernte, dann war es wieder ganz still in ihm und in dem Raum, [blue]der ihn dunkel einhüllte.[/blue]

Hm… hüllt ihn wirklich der Raum ein, oder ist es nicht vielmehr das Dunkel selbst?
Ich persönlich fühle mich eingehüllt, wenn mir etwas hautnah ist. Ein Raum, mag er auch noch so eng sein, löst diese Empfindung nicht bei mir aus.

"Verrückt!", sagten sie und übergaben ihn den Ärzten. Und die Apfelstückchen warfen sie in den Mülleimer.

Der erste Satz ist klasse, und gerade in seiner Knappheit sehr aussagekräftig. Der letzte Satz jedoch zerstört meine berechtigte Gänsehaut. Ich will ganz ehrlich sein: Es ist der Mülleimer, der das Grauen besiegte und mich zurück in die Realität katapultierte.
Dieser Mülleimer ist so banal… so alltäglich. Weißt du, was ich meine? Er wirkt in dieser Geschichte wie ein Fremdkörper – Klappe zu, Affe tot, oder so ähnlich.
Dieses Obst, das gehört nicht so schnell entsorgt, geschweige denn davon, dass sich die „Herren in Weiß“ eh nicht die Mühe machen würden, da noch groß aufzuräumen.
Nein, diese Apfelstückchen sehe ich langsam braun werden, zur Bräune gesellt sich schon bald der „Schrumpeleffekt“, bevor dann endlich der Schimmel, in dezent-vornehmen Grün, das Elend bedeckt.
Natürlich sollst du das nicht alles schreiben, aber spüren möchte ich es, dieses Ende, indem der Apfel einfach auf dem Tisch liegen bleibt.
Wohlgemerkt: Das nur als Anregung. Du musst ja nicht genauso empfinden. ;o)


Herzliche Grüße
Julia

P.S.: Magst du keine "ß"?
 

Netotschka

Mitglied
Ursprünglich veröffentlicht von La Luna
P.S.: Magst du keine "ß"?
Hallo liebe La Luna,

kurz nach der Rechtschreibreform wollte ich diese boykottieren und schrieb kurzerhand für jedes „ß“ ein „ss“. Zwischendurch beugte ich mich dem Massendruck und passte mich an.

Bis vor einiger Zeit hatte ich viel mit einem österreichischen Schweizer (oder umgekehrt) zu tun – da gewöhnte ich mich wieder an das dort übliche „ss“ statt des „ß“.

Wie Du siehst (das großgeschriebene „Du“ behielt ich übrigens aus Opposition auch bei, ich bin da eigen) spielt dieses „ß“ in meinem Leben eine gewichtige Rolle.

Viele augenzwinkernde Grüße
sendet Netotschka
 



 
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