Der Beweis

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Julien

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Der Beweis
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„Nein, das reicht einfach nicht.“
Kopfschüttelnd erhob sich der Staatsanwalt von seinem Stuhl, nahm beiläufig ein paar Akten unter den Arm und ging auf die Tür zu.
Julia startete einen letzten Überzeugungsversuch: „Wer soll denn sonst der Täter sein? Das Motiv ist doch überdeutlich! Wer denn sonst? Sagen Sie mir!“ Ihre Stimme klang trotzig; am liebsten hätte sie mit der Hand auf den Tisch geschlagen.
Ohne auf die Frage einzugehen durchschritt ihr Gesprächspartner das Büro und legte seine Hand auf die Türklinke.
„Sie sind doch lang genug im Dienst, Frau Hauptkommissarin, um zu wissen, dass ein noch so einleuchtendes Motiv kein echter Beweis ist, nicht mal für den Haftbefehl, den Sie wollen. Wir brauchen Spuren, verlässliche Zeugen oder eben ein Geständnis.“
Das Öffnen der Tür signalisierte, dass er das Gespräch für beendet ansah. Julia trat auf den Gang hinaus. Wieder einmal fühlte sie sich ohnmächtig gegenüber diesem bürokratischen Justizapparat; wie immer, wenn sie in ihrem Beruf feststellte, dass innere Überzeugung sich nicht in Paragraphen formulieren ließ.
„Wann haben Sie ihm die vorläufige Festnahme erklärt?“ Die Stimme des Staatsanwalt klang hinter ihr über den Gang, als sie einige Schritte weit gekommen war.
„Gestern abend“, für ihre Antwort drehte sie sich nicht einmal mehr um. Es war ja klar, was mit der Frage gemeint war. Ohne Haftbefehl würde sie den Täter heute noch laufen lassen müssen, so verlangte es das Gesetz.


„Laß es uns einfach noch mal zusammenfassen, ok?“
Stefan saß ihr im Dienstzimmer gegenüber und klammerte sich ebenfalls an die Hoffnung, etwas entscheidendes übersehen zu haben. Die über 3jährige Zusammenarbeit im Morddezernat hatte die beiden Kollegen schon öfters zu einem gemeinsamen Denkapparat verschweißt.
„Na gut, was haben wir?“
Mehr deprimiert als hoffnungsvoll klingend hakte Julia die einzelnen Punkte wie auf einer Checkliste ab:
„Mordfall Klara Gill: Alter 75 Jahre, sehr vermögend; Todeszeit Dienstag zwischen 20 und 22 Uhr; Todesursache Erwürgen, Tatwerkzeug: Wäscheleine aus dem Besitz des Opfers. Leiche gefunden am nächsten Morgen von der Nachbarin. Keine Verwüstungsspuren, keine fehlenden Wertgegenstände. Keine Fingerabdrücke. Eingeschlagenes Fenster in der Küche soll auf Einbruch hindeuten...“
„Du bist überzeugt, er war’s?“
„Ganz sicher, das Fenster hat er erst nach dem Mord eingeschlagen, um von sich abzulenken.“
„OK, dann laß mich weitermachen,“ Stefan griff den Faden auf. „Tatverdächtig: Georg F., Neffe des Opfers und zugleich einziger lebender naher Verwandter, keine Vorstrafen...
„Moment,“ fiel ihm Julia ins Wort, „das besagt gar nichts, wenn er doch 1988 in die USA ausgewandert ist.“
„Na gut, aber jetzt ist er wieder da!“
„Genau,“ ereiferte sich Julia und schlug endlich mit der flachen Hand auf den Tisch, „nach jahrzehntelanger Abwesenheit landet er ausgerechnet 3 Tage vor dem Mord wieder in Deutschland, wir haben die Passagierlisten geprüft.“
„Solche Zufälle gibt es immer wieder, wir brauchen einfach mehr!“ Stefan brach seine Gedanken ab und starrte ins Leere.
„Und dieses Testament? Ist das auch ein Zufall?“
Julia ergriff ein vor ihr liegendes Schriftstück und las mit intensiver Betonung laut vor:

Mein letzter Wille
Hiermit vermache ich mein gesamtes Vermögen meinem geliebten Neffen Georg. Er wanderte im letzten Jahr nach Amerika aus und muß sich dort eine neue Existenz aufbauen.
Verfasst am 25.1.1989 – Klara Gill

Sie ließ das Papier sinken, griff entschlossen zum Telefon und wählte eine Nummer.
„Reichmann, Morddezernat, wie siehts aus?“
Wenige Sekunden später warf Julia verärgert den Hörer wieder auf die Gabel zurück.
„Das Labor?“ Stefan blickte sie erwartungsvoll an.
„Klar, das Labor; die machen zwar Überstunden, aber kriegen offenbar nichts raus. Die Schrift auf dem Testament stammt allem Anschein von Frau Gill selbst.... er muß sie also dazu gezwungen haben“.
„Wie willst du das je nachweisen können? Und was ist mit dem Alter der Schrift?“ Stefan sah Julia erwartungsvoll an.
„Nein, nichts, es ist eine Tintenfaser mit irgendeinem Stoff, der sich nicht verflüchtigt. Die Chemiker kommen damit nicht weiter. Danach kann das Testament tatsächlich über 25 Jahre alt sein. Ist es aber nicht, ich bin sicher!!“


„Ein mordender Erbschleicher, dieser Georg“, Julia betrachtete resignierend noch einmal das gesamte Schriftstück von oben bis unten. „Es ist ganz klar ein Originalbogen mit dem Briefkopf von Frau Gill; aber das Testament lag deutlich sichtbar ganz oben in einer der Schubladen. Es sollte von uns rasch gefunden werden, SOLLTE, verstehst du, Stefan....?“
„Ja, aber...“
„Und dann die Nachbarn und Freundinnen.. Sie sind vollkommen sicher, dass Frau Gill alles an die Krankenhaus-Stiftung vererben wollte, sie hat noch vor wenigen Wochen darüber geredet. Von einem Neffen in Amerika weiß niemand etwas...“
Julia redete sich weiter in Wut. Es war so offensichtlich, dass hier nichts zusammen paßte. Und das verursachte in ihr ein Gefühl der Hilflosigkeit.
Wütend zerriß sie das Papier, das sie in den Händen hielt und warf die Einzelteile in den Papierkorb unter ihrem Schreibtisch.
„Keine Angst, das Original ist doch im Labor“, kommentierte sie mit einem kurzen Schmunzeln den erschreckten Blick ihres Kollegen.
„Ich bin auch mit meinem Latein am Ende,“ erwiderte dieser; seine Stimme klang resigniert. „Der Typ ist stur, der lässt sich auch durch ein weiteres Verhör nicht bluffen. Wir müssen ihn laufen lassen.“
„So sieht’s aus,“ Julias Stimmung fiel auf den Nullpunkt; ein paar Minuten lang saßen sie sich nachdenklich schweigend gegenüber.
„Es hat keinen Zweck“, meinte Julia und fing dabei an, die Fächer ihres Schreibtischs zu durchsuchen. „Ich hab kein FK12-Formular mehr; kannst du mir bitte eines von deinen geben?“
Stefan erhob sich und griff den Wandschrank neben sich.
„Ich hab auch nur noch ein einziges davon und zwar ein uraltes Exemplar, so wie es aussieht“, er betrachtete den DIN-A-5 Zettel mit der Überschrift ‚Freilassungs-Anordnung’ in seiner Hand.
Julia nahm ihn entgegen. „Na Klasse, da ist ja nicht mal unsere Präsidiums-Anschrift vorgedruckt; ich liebe es, Formulare auszufüllen. Unsere Adresse?“ Genervt begann sie, die einzelnen Spalten mit Kugelschreiberschrift zu füllen. Wenige Sekunden später hielt sie inne, starrte auf die zuletzt ausgefüllte Rubrik, warf dann den Stift zur Seite und beugte sich hektisch zum Papierkorb hinunter.


„Sie werden in einer Stunde dem Haftrichter vorgeführt“
Georg F. saß in der Arrestzelle vor ihr und starrte sie ungläubig an.
Sie ließ ihn nicht weiter nachdenken. „denn Sie haben einen entscheidenden Fehler gemacht!“
Julia versuchte, sich ihre innere Freude nicht anmerken zu lassen und zögerte die wichtige Mitteilung noch weiter hinaus.
„Sie haben Ihre Tante in irgendeiner Form gezwungen, dieses Testament zu schreiben, bevor Sie sie erwürgten. Sie können es jetzt ruhig zugeben.
Georg schüttelte seinen Kopf. „Mich bluffen Sie nicht; ich will sofort einen Anwalt sprechen.“
„Das dürfen Sie“, Julia zog ein Schriftstück aus ihren Unterlagen, „ aber auch der beste Anwalt wird nicht erklären können, wie ein angebliches Testament von 1989 auf einem viel neueren Briefbogen geschrieben werden kann.“ Sie hielt ihm eine zusammengeklebte Kopie vor sein Gesicht?
„Ich versteh nicht“ Georg wurde etwas unsicher und konzentrierte seinen Blick auf den Text.
„Hier oben“, Julia deutete auf den gedruckten Briefkopf des Bogens; „Betrachten sie die Adresse!“
„Ja und? Tante Klara wohnte seit 40 Jahren in der Humboldtstraße!“
„Stimmt, doch dieses Testament ist längst nicht so alt wie es aussieht,...
Julias Stimme klang jetzt doch ungewollt triumphierend.
„denn die fünfstellige Postleitzahl hat Tante Klara 1989 ganz sicher noch nicht erahnen können! Stefan, die Handschellen bitte.“
 
Hallo Julien,

ich frage mich, ob nicht gerade jemandem, der jahrzehntelang in Amerika war, die Sache mit der Postleitzahl auffallen würde. Aber Fehler sind ja menschlich. Schöne Geschichte.

Bis bald,
Michael
 

Julien

Mitglied
Danke fürs Lob, Michael
Ich bin der Ansicht, daß es dem Täter in der beschriebenen Situation eher NICHT auffällt. Für ihn ist bei seinem Plan ja eigentlich nur von Bedeutung, daß es sich um die Originalschrift auf einem Original-Briefbogen handelt bzw. daß Tante Klara immer noch dort wohnt, wo sie schon 1989 gelebt hat.
:)
Mich fasziniert, über welch unbedachte Details Verbrecher gelegentlich stolpern können.
Bis bald
Gruß J.
 
Hallo Julien,

die Idee mit der alten Postleitzahl finde ich wirklich gut. Nur hat mich ein bisschen gewundert, dass das erst per Zufall herausgekommen ist. Einem Deutschen hätte die neue Postleitzahl auf dem alten Bogen doch sofort auffallen müssen.

Grüße
Marlene
 

lokisskald

Mitglied
Hallo Julien,

ich finde die Geschichte absolut gelungen.

Auch das mit Papier und Briefbogen finde ich absolut glaubwürdig. Wie häufig liest man selbst die Postleitzahl des Absenders, ausser wenn man direkt eine Antwort schreiben will ? Gerade bei vorgedrucktem Briefpapier ist die Absenderadresse außerdem sehr klein gedruckt, so dass man zwar registriert, dass sie vorhanden ist, aber ob die Postleitzahl vier oder fün Stellen hat ...

Auch das Papier muss nicht notwendigerweise sofort misstrauisch machen, denn auch wenn die Schrift auf dem Papier selbst neu ist, kann das Papier selbst 10 Jahre alt sein. Dazu würde auch ein 20 Jahre altes Papier kaum vergilben oder ausbleichen, wenn es a, auf Papier guter Qualität geschrieben ist und b, vor Licht geschützt aufbewahrt wurde. Etwas das bei Testamenten meist der Fall ist.

Gruss
lokisskald
 



 
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