Der Bücherwurm

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Ashva

Mitglied
Der Unruhe des Lebens entging er stehts, indem er zur Ruhe seines Buches zurückkehrte, wo es nur von ihm abhängt, wie schnell etwas auftaucht und verschwindet.

Als er Tolstois „Krieg und Frieden“ las – er muss da schon fast vierzig gewesen sein -, nahm er sich vor, von diesem Autor vorerst nichts mehr zu lesen. Er wollte - das wusste er noch genau - die Bücher dieses Autors sparen, weil er sich vorstellte, das Altwerden und gar Altsein furchtbar langweilig werden könnte, und dann hätte er seinen gesparten Tolstoi, der ihm auf Jahre hinaus ein aufregendes Lesen beziehungsweise Leben garantieren würde.
Aber das kann er wirklich nur zu jemandem sagen, dem Bücher auch Lebensmittel geworden sind. Wichtiger als das, was man liest, ist ja das, was mit einem, wenn man liest, passiert.
Die Folgen. Die Wirkung.
Man sollte überhaupt nicht über Bücher, sondern nur über ihre Wirkungen sprechen. Das geht aber nicht. Es wäre dann viel zu still.
Wirkungen brauchen Zeit. Bis nächsten Samstag ist das nicht zu schaffen. Manchmal vergehen Jahre, bis man erfährt, was beim Lesen eines Buches mit einem selbst passiert ist.

Der Apfelbaum, unter dem er einmal im Spätsommer saß und Byron las, steht schon lange nicht mehr. Er hatte nicht gewusst, als er an diesem Spätsommertag begann, den vierten Gesang von „Childe Harolds Pilgerfahrt“ zu lesen, dass er ihn nie wieder vergessen würde. Vielleicht hatte er sich die Verse gar nicht ganz richtig gemerkt. Ihm schien wichtiger, wie sie sich ihm
einprägten, als wie sie wirklich lauteten. Sie rufen in ihm immer wieder jenen Spätsommer hervor. Das Dorf, die Zeit und die dazugehörende Sorge.
Nachträglich hat sich dieses Bild zu einer eher theatralischen als natürlichen Deutlichkeit entwickelt. Das ganze Spätsommerdorf mit Häusern, Bäumen, Vieh und Menschen flattert in einem Zeitwind und wäre längst fortgerissen worden in jenen Abgrund in der Höhe, wenn nicht alles und alle an diesem Lesenden unter dem Apfelbaum hingen, wie ein Schiff im Sturm an einem Anker hängt. Das ist die Wirkung des Buches.
Der Lesende unter dem Baum ist sich beim Lesen seiner selbst so bewusst geworden wie noch nie zuvor. Der innere Sternenhimmel erschloss sich ihm.

Er war früher auch oft im Kino. In Erinnerung ist geblieben die Verschwommenheit von bewegten Bildern und Inhalten.
Keineswegs aber die Umstände des Zuschauens und gar nicht der Zuschauer. Es ist, als sei der zu einer ihn auslöschenden Passivität verurteilt worden. Wie deutlich dagegen ist der Zehnjährige, der in der kleinen Leihbibliothek des Nachtbardorfes den nächsten Band Karl May holt und die drei Kilometer zurück eher rennt als geht, um endlich, endlich dieses dicke kleine Buch aufschlagen zu können. Die Glut der Vorfreude des längst infizierten Karl-May-Lesers hat das Zimmer in ein Unvergänglichkeitslicht getaucht. In diesem Licht ist das Zimmer bis heute geblieben. Das ist das edle Karl-May-Erinnerungslicht. Wenn er nicht aufpasst, verklären sich ihm diese Lesestunden zu reinen Goldgrundbildern.
Und wie vollkommen problemlos, bruchlos vollzog sich der Übergang von Karl May zu Schiller, von Robert L. Stevenson zu Dostojewski.
Die „Brüder Karamasow“ waren einfach die nächste Fortsetzung eines von der Kindheit in die Jugend hineinreichenden Fortsetzungsromans, an den Stevenson und Dostojewski einträchtig geschrieben haben. Es ist eigentlich unannehmbar, dass Leute, denen nichts als Klassifizierung Spaß macht, diese sternbildhaft schöne Bücherschicksalswelt in Triviales und Seriöseres zerlegen und zerreißen. Ihm sind die Zeiten, die er mit sogenannten Trivialbüchern verbracht hat, so heilig und so deutlich, wie der Sonntag, an dem er die erste große Liebe erfuhr.

Ein Leser, das ist ein durchaus nichts Gegenständliches beschreibbares Vermögen.
Es gibt nichts, mit dem man das Vermögen des Lesers bildhaft machen könnte. Es ist nicht die Fähigkeit, über alles Bescheid zu wissen oder gebildet zu sein.
Es ist ein Vermögen, spürbar als Lebensgefühl; man wird sich deutlicher, eine Daseinssteigerung also.
Dass Bücher so hineinwirken in uns, muss wohl daran liegen, dass wir bei dieser Wirkung alles andere als passiv sind.
Lesen -, was für ein Understatement.
Wir schaffen doch, was wir lesen. Aus schwarz-weißen dimensionslosen Buchstabenanordnungen schaffen wir Farbe, Geruch, Bewegung und Klang.
Wenn im Buch Schmerz und Angst vorkommen, blieben Angst und Schmerz Papier, wenn wir sie nicht mit unserer Schmerz- und Angsterfahrung zum Leben erweckten. Es ist dann unser Schmerz, unsere Angst, dargestellt durch Winnetou, Robinson, Raskolnikow. Unsere Mitwirkung produziert die Wirkung.
Die Begegnung mit Raskolnikow wird zur Selbstbegegnung. Ohne Visavis ist doch nichts. Wenn unser Blick auf nichts fällt, bleibt er blind. Im Buch haben wir ein Gegenüber, das zwar von außen stammt, aber doch nur durch uns existiert. Im Buch sind wir uns also selbst gegenüber.
Alles, was uns von uns selbst abbringen will, was uns beherrschen, über uns Macht ausüben will, hat es schwerer, weil wir das Vermögen des Lesers haben.
Nein, wir haben es gar nicht, wir sind dieses Vermögen.
 
Hallo Ashva,

dein Beitrag gefällt mir. Ich nehme zwei Beispiele für deine kreative Sprachgestaltung heraus, die mir beim ersten Lesen besonders aufgefallen sind:
- die Glut der Vorfreude
- Unsere Mitwirkung produziert die Wirkung.

Ich wünsche dir weiterhin ein glückliches Händchen.

Liebe Grüße. Rhondaly.

P.S. Ashva, ein Begriff aus dem Veda?
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo,

erst einmal herzlich Willkommen auf der Lupe. Ich wünsche dir viel Spass beim Lesen, Kommentieren und natürlich beim Schreiben.

LG Franka
 

Charmaine

Mitglied
Hallo Ashva,

teils mag ich deinen Text, weil er bei mir durchaus auf verwandte Haltung stößt, teils finde ich ihn unnötig verkompliziert und damit verschwurbelt. Nur ein Beispiel:

Ein Leser, das ist ein durchaus nichts Gegenständliches beschreibbares Vermögen.
Das ist wohl gewollt, dass das Subjekt verobjektiviert worden ist, aber es stört den Lesefluss unheimlich. Und darum geht es zu einem guten Stück wohl in dem Text, über den Genuss des Lesens zu philosophieren.

LG
Charmaine
 

Ashva

Mitglied
Der Unruhe des Lebens entging er stehts, indem er zur Ruhe seines Buches zurückkehrte, wo es nur von ihm abhängt, wie schnell etwas auftaucht und verschwindet.

Als er Tolstois „Krieg und Frieden“ las – er muss da schon fast vierzig gewesen sein -, nahm er sich vor, von diesem Autor vorerst nichts mehr zu lesen. Er wollte - das wusste er noch genau - die Bücher dieses Autors sparen, weil er sich vorstellte, das Altwerden und gar Altsein furchtbar langweilig werden könnte, und dann hätte er seinen gesparten Tolstoi, der ihm auf Jahre hinaus ein aufregendes Lesen beziehungsweise Leben garantieren würde.
Aber das kann er wirklich nur zu jemandem sagen, dem Bücher auch Lebensmittel geworden sind. Wichtiger als das, was man liest, ist ja das, was mit einem, wenn man liest, passiert.
Die Folgen. Die Wirkung.
Man sollte überhaupt nicht über Bücher, sondern nur über ihre Wirkungen sprechen. Das geht aber nicht. Es wäre dann viel zu still.
Wirkungen brauchen Zeit. Bis nächsten Samstag ist das nicht zu schaffen. Manchmal vergehen Jahre, bis man erfährt, was beim Lesen eines Buches mit einem selbst passiert ist.

Der Apfelbaum, unter dem er einmal im Spätsommer saß und Byron las, steht schon lange nicht mehr. Er hatte nicht gewusst, als er an diesem Spätsommertag begann, den vierten Gesang von „Childe Harolds Pilgerfahrt“ zu lesen, dass er ihn nie wieder vergessen würde. Vielleicht hatte er sich die Verse gar nicht ganz richtig gemerkt. Ihm schien wichtiger, wie sie sich ihm
einprägten, als wie sie wirklich lauteten. Sie rufen in ihm immer wieder jenen Spätsommer hervor. Das Dorf, die Zeit und die dazugehörende Sorge.
Nachträglich hat sich dieses Bild zu einer eher theatralischen als natürlichen Deutlichkeit entwickelt. Das ganze Spätsommerdorf mit Häusern, Bäumen, Vieh und Menschen flattert in einem Zeitwind und wäre längst fortgerissen worden in jenen Abgrund in der Höhe, wenn nicht alles und alle an diesem Lesenden unter dem Apfelbaum hingen, wie ein Schiff im Sturm an einem Anker hängt. Das ist die Wirkung des Buches.
Der Lesende unter dem Baum ist sich beim Lesen seiner selbst so bewusst geworden wie noch nie zuvor. Der innere Sternenhimmel erschloss sich ihm.

Er war früher auch oft im Kino. In Erinnerung ist geblieben die Verschwommenheit von bewegten Bildern und Inhalten.
Keineswegs aber die Umstände des Zuschauens und gar nicht der Zuschauer. Es ist, als sei der zu einer ihn auslöschenden Passivität verurteilt worden. Wie deutlich dagegen ist der Zehnjährige, der in der kleinen Leihbibliothek des Nachtbardorfes den nächsten Band Karl May holt und die drei Kilometer zurück eher rennt als geht, um endlich, endlich dieses dicke kleine Buch aufschlagen zu können. Die Glut der Vorfreude des längst infizierten Karl-May-Lesers hat das Zimmer in ein Unvergänglichkeitslicht getaucht. In diesem Licht ist das Zimmer bis heute geblieben. Das ist das edle Karl-May-Erinnerungslicht. Wenn er nicht aufpasst, verklären sich ihm diese Lesestunden zu reinen Goldgrundbildern.
Und wie vollkommen problemlos, bruchlos vollzog sich der Übergang von Karl May zu Schiller, von Robert L. Stevenson zu Dostojewski.
Die „Brüder Karamasow“ waren einfach die nächste Fortsetzung eines von der Kindheit in die Jugend hineinreichenden Fortsetzungsromans, an den Stevenson und Dostojewski einträchtig geschrieben haben. Es ist eigentlich unannehmbar, dass Leute, denen nichts als Klassifizierung Spaß macht, diese sternbildhaft schöne Bücherschicksalswelt in Triviales und Seriöseres zerlegen und zerreißen. Ihm sind die Zeiten, die er mit sogenannten Trivialbüchern verbracht hat, so heilig und so deutlich, wie der Sonntag, an dem er die erste große Liebe erfuhr.

Ein Leser, das ist ein durchaus nichts Gegenständliches beschreibbares Vermögen.
Es gibt nichts, mit dem man das Vermögen des Lesers bildhaft machen könnte. Es ist nicht die Fähigkeit, über alles Bescheid zu wissen oder gebildet zu sein.
Es ist ein Vermögen, spürbar als Lebensgefühl; man wird sich deutlicher, eine Daseinssteigerung also.
Dass Bücher so hineinwirken in uns, muss wohl daran liegen, dass wir bei dieser Wirkung alles andere als passiv sind.
Lesen -, was für ein Understatement.
Wir schaffen doch, was wir lesen. Aus schwarz-weißen dimensionslosen Buchstabenanordnungen schaffen wir Farbe, Geruch, Bewegung und Klang.
Wenn im Buch Schmerz und Angst vorkommen, blieben Angst und Schmerz Papier, wenn wir sie nicht mit unserer Schmerz- und Angsterfahrung zum Leben erweckten. Es ist dann unser Schmerz, unsere Angst, dargestellt durch Winnetou, Robinson, Raskolnikow. Unsere Mitwirkung produziert die Wirkung.
Die Begegnung mit Raskolnikow wird zur Selbstbegegnung. Ohne Visavis ist doch nichts. Wenn unser Blick auf nichts fällt, bleibt er blind. Im Buch haben wir ein Gegenüber, das zwar von außen stammt, aber doch nur durch uns existiert. Im Buch sind wir uns also selbst gegenüber.
Alles, was uns von uns selbst abbringen will, was uns beherrschen, über uns Macht ausüben will, hat es schwerer, weil wir das Vermögen des Lesers haben.
Nein, wir haben es gar nicht, wir sind dieses Vermögen.

© Siegfried Skibbe
 



 
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