Der Dicke

Soeben haben sich Mathilde und Martha auf die einzige Parkbank am Rande der großen Wiese gesetzt. Demnach wird gleich die Turmuhr der Dorfkirche zehn Uhr schlagen. Würde ein Blitzschlag diese Uhr zerstören, könnten sich die Bürger des Dorfes getrost nach den beiden Damen richten; sie wären immer pünktlich.

Es ist einer der letzten warmen Herbsttage. Mathilde sitzt bereits in der Sonne. Seit gut einer Woche muss Martha anfangs mit einem Schattenplatz auf ihrer Seite der Bank vorlieb nehmen. Aber in ein paar Minuten wird die Sonne rechts von der mächtigen Eiche hervortreten und auch ihren Sitzplatz erwärmen. Wie jedes Jahr sitzen die beiden täglich – außer bei Regen – vom Frühjahr bis in den Spätherbst auf dieser Bank. Hätten die Verantwortlichen der Gemeinde eine schlechtere Qualität für die Farbe der Parkbänke ausgewählt, müssten die beiden Hintern schon blanke Stellen auf der Sitzfläche gescheuert haben: eine schmale Fläche für die knochigen vier Buchstaben von Mathilde und mindestens die doppelte Breite für Martha. Man hätte annehmen können, dass die große freie Fläche zwischen den beiden Damen mit Reißnägeln, die Spitze nach oben, gespickt sei, denn niemals rücken sie näher zu einander. Der Platz in der Mitte ist reserviert für den Rucksack von Mathilde und für die ausladende Tasche von Martha.

Mathilde ist eine groß gewachsene Frau. Zu behaupten, sie wäre schlank, wäre untertrieben. „Dürr“ beschreibt das Klappergerüst besser. Ihre Kleider umflattern ihren Körper und ihre Knie müssten eine verführerisch weiße Haut haben, denn wadenlange Röcke schützen sie stets vor dem indiskreten Sonnenlicht. Das gewichtigste an ihrem Busen ist das filigrane Kreuz, das sie an einem dünnen Goldkettchen eng um den Hals trägt. Sie legt großen Wert auf das „H“ in ihrem Namen. Zwar behauptet sie nie, ein direkter Abkomme von Mathilde der Heiligen zu sein, aber der katholischen Kirche steht sie sehr nahe.

Natürlich ist auch Martha katholisch, denn in diesem kleinen Nest wagt es niemand, zu den Ketzern, den Reformierten zu wechseln. Würden sie es tun, behandelte man sie wie Aussätzige. Im Gegensatz zu Mathilde ist Martha ein barocker Mensch. Die Rundungen befinden sich an ihrem Körper nicht nur da, wo es eine Frau attraktiv macht. Gerade strickt sie am Vorderteil einer Jacke für sich. Es ist so breit, dass es Mathilda glatt als vollwertiges Rückenteil für sich verwenden könnte.

Stricken, plaudern und Lästern über die wenigen Passanten sind die Hauptbeschäftigungen der beiden. Martha strickt für sich und für ihre riesige Verwandtschaft. Von Socken über Pullover zu Schals hat sie alles im Programm. Mathilde verfolgt andere Ziele: meist strickt sie Topflappen, die im Kirchenbazar verkauft werden. Die besondere Anerkennung des Dorfgeistlichen wird mindestens einmal pro Monat öffentlich von der Kanzel verkündet. Ein Platz im ehrenamtlichen Gremium, das sich in dieser Gemeinde „Kirchenpflege“ nennt, ist ihr für nächsten Winter schon sicher.

„Gleich wird er kommen.“ Gespannt schauen Martha und Mathilde auf die Straßenecke bei der Bäckerei, denn meistens ist auch er pünktlich. „Er trägt das grüne Shirt“, schmunzelt Martha. „Demnach haben wir heute ein Datum mit geraden Zahlen“, schloss Mathilde messerscharf. Der dicke Jogger überquert die Straße und setzt zu einem schwerfälligen, leicht hinkenden Trab an. Nach der ersten Runde, die ihn um die alte Eiche führt, wird er an der Parkbank vorbeikommen. Sein Schnauben nähert sich und die Frauen können zuschauen, wie sich der Schweißfleck auf dem Shirt unter den Achseln ausbreitet. Der laue Südwind trägt eine Fahne üblen Geruchs als Vorbote heran. Gleich wird der Schatten seiner massigen Gestalt die Parkbank streifen und der Dicke wird zur nächsten Runde ansetzen.

„Sport ist Mord“, höhnt Martha und kassiert dafür einen gehässigen Blick aus den Schweinsäuglein des Mannes, der sich mit der Hand die Schweißbäche von der Stirn wischt. „Außer den rosa Turnschuhen ist doch an dem nichts sportlich“, flüstert Mathilde hinter vorgehaltener Hand. Sie ist ein ängstlicher Mensch und will nicht provozieren, obwohl ihr dieser Dicke zuwider ist.

Schweigend stricken die beiden weiter und beobachten dabei den Läufer, der sich auf der nächsten Runde bereits wieder nähert. „Morgen ist wieder das Lila-Shirt dran. Ob er die blauen Hosen, mit den breiten Generalsstreifen an den Seiten, jemals wäscht?“ Mathilda hält sich die Nase zu, als ob sie den säuerlichen Gestank schon aus der Entfernung riechen könnte.

Sein Trab verlangsamt sich merklich, dafür wird das Keuchen lauter. Neben dem Laufen rudert er jetzt zusätzlich mit den Armen. Wahrscheinlich, um leichter Luft zu bekommen. Oder soll es eine gymnastische Übung sein? Unwahrscheinlich, entscheiden die Frauen für sich und kichern albern.

„Was ist jetzt mit unserem sportlichen Koloss los? Er kürzt seine Standardrunde ab und kommt direkt auf uns zu“. Mathilde legt ihre Stricksachen neben sich auf die Bank und nimmt die grüne Thermoskanne aus ihrem Rucksack. Auch diese Kanne, mit den beiden kanariengelben Bechern, ist seit Jahren immer dabei. Heute ist ‚Hüttentee’ drin, ein Gebräu, das Mathilde bei ihrer einzigen Auslandsreise in die Alpen kennen lernte. Im Hochsommer ist es jeweils ein gekühlter Sirup aus Kräutern, der den Durst löscht.

„Jetzt verfällt er in eine Art Schweinsgalopp“, spottet Martha, „ganz amüsant anzusehen! Sollen wir ihm applaudieren? Jetzt fasst er sich mit der rechten Hand an die Brust und wirft den Kopf zurück!“

„Als ob er sich für den Applaus bedanken möchte, obwohl er ihn noch gar nicht bekommen hat“, feixte die andere.

Da – plötzlich stürzt er mitten im Laufen, rollt über den Boden und bleibt wenige Meter vor der Parkbank auf dem Rücken liegen. Sein Fettwanst unter dem dünnen Shirt, das hoch gerutscht ist, und das Doppelkinn fällt in dieser Lage bis hinter die Ohren zurück. Seine kleinen Augen sind aus den Höhlen getreten; der Atem geht stoßweise und röchelnd.

„Widerlich, wie der aussieht“, schnaubt Martha und nimmt einen tiefen Zug aus dem gelben Becher. Aber wir können ihn ja nicht einfach so liegen lassen! Was sollen wir tun?“ An den Erste-Hilfe-Kurs aus der Fahrschule erinnert sie sich nur mit Mühe. „Stabile Seitenlage?“ Die Rentnerin Mathilde kann sich nicht mal mehr an die Fahrschule erinnern.

Gemeinsam versuchen sie die Fleischmassen auf die Seite zu drehen und den verschwitzten Kopf auf den Unterarm des Läufers zu betten.

Während die Frauen überlegen, was weiter zu tun ist, kommt langsam wieder Leben in den Sportler. Er rappelt sich umständlich hoch. „Lassen Sie mich zu Ihnen auf die Bank setzen“, sagt er matt. Beide stützen ihn und setzen ihn zwischen sich auf die Bank. Martha reicht ihm ihren Becher mit Hüttentee.

„Ich sagte doch, dass Sport Mord sei“, meint sie in vorwurfsvollem Ton. Sie rückt ans äußerte Ende der Bank, um mehr Raum zwischen sich und dem röchelnden Mann zu bringen.

„Sei nicht so hart, er will doch sicher etwas für seine Gesundheit tun. Sonst würde er sich nicht so abmühen.“ Mitleid war in Mathildes Gesicht abzulesen. „Mögen Sie noch mehr heißen Tee?“, wandte sie sich an den Mann.

„Entschuldigen Sie, meine Damen, dass ich Ihnen so viel Umstände mache – aber mein Herz! Ich bin sehr unhöflich, habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Ulrich Braun, Musiker.“ Er deutet eine Verbeugung an, erst zu Mathilde, dann zu Martha. „Ja, geben Sie mir bitte noch etwas von dem köstlichen Nass!“

„Und was spielen Sie für ein Instrument?“ Mathildes Interesse ist geweckt, denn Musik ist – neben dem Stricken und der katholischen Kirche – ihr einziges Hobby. „Ich spiele Violine, aber hauptsächlich bin ich Komponist und leite ein großes Orchester in der Hauptstadt. Ich bin auf Erholungsurlaub hier.“

Wäre die Parkbank länger gewesen, würde Martha noch weiter von dem widerlichen Menschen abrücken. Ihre halbe Pobacke hängt schon über der Holzkante. Sie versucht sich gerade diesen Kerl auf einem Dirigentenpodest vorzustellen. Oder noch schlimmer: wie die Geige bis zur Hälfte unter seinem Hängekinn verschwindet. Kann man da überhaupt noch spielen? Ein Schmunzeln umspielt kurz ihre Lippen, gleichzeitig schüttelt es sie vor Ekel.

„Ich stelle mir vor, dass Sie Opern komponieren. Liege ich da richtig?“ Mathilde hängt jetzt mit schmachtenden Augen am Gesicht des Künstlers. Den Opern gehört ihre heimliche Liebe. Sie sitzt Abende lang allein in ihrer Wohnung und hört sich eine CD nach der andern an.

Langsam nimmt das Gesicht des Musikers wieder eine menschliche Farbe an. Seine Sprache wird lebendiger. Es ist ihm anzusehen, dass er sich über das Interesse an seinem Beruf freut. Es entwickelt sich ein langes Fachgespräch zwischen zwei Musikliebhabern, welches er mit folgenden Worten beschließt:

„Zwei Opern habe ich geschrieben bis jetzt, aber erst eine wurde bis jetzt auf die Bühne gebracht. Die zweite wird ihre Uraufführung kurz vor Weihnachten erleben. Gleich nach meinem Urlaub werde ich mit den Proben dazu beginnen. Darf ich Sie beide zu diesem Opernerlebnis einladen? Sie haben mir doch fast das Leben gerettet! Wenn Sie mir ein Stück Papier geben, schreibe ich Ihnen das genaue Datum auf.“

Rasch kritzelt er die Informationen auf die Rückseite eines Briefumschlages, den ihm Mathilde gereicht hat. „Jetzt muss ich aber leider wieder weiter. Es hat mich sehr gefreut, Sie zu treffen – und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich hoffe sehr, Sie beide beim Konzert zu sehen!“ Er erhebt sich mühsam und geht mit einer leichten Verbeugung zu den beiden Damen.

„Ein Künstler!“ schmachtet Mathilde.
„Ein Schwein!“ kontert Martha. Du wirst doch nicht etwa hingehen?
„Und ob ich hingehen werde! So einen kultivierten Menschen trifft man nicht alle Tage.“
„Du bist übergeschnappt!“

Am nächsten Morgen wird die Parkbank um zehn Uhr nicht besetzt sein. Sowohl Mathilde als auch Martha werden in ihrer Wohnung bleiben. Jede wird sich darüber wundern, wie sie es mit so einer Person jahrelang hat aushalten können.
 

IDee

Mitglied
Erstaunlich wie schnell sich die Beiden auseinander bringen lassen, obwohl sie eine Einheit zu sein scheinen.
LG
IDee
 



 
Oben Unten