Der Hirtenjunge

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Eremit

Mitglied
Der Hirtenjunge

Jon war ein kräftiger Bursche von sechzehn Jahren, als ihn seine Familie zum ersten Mal auf die Alm schickte. Er verbrachte den Sommer ganz allein mit den Kühen und als er im Herbst nach Hause zurück kehrte, stellte er fest, dass es ihm dort oben besser gefallen hatte.
Als siebtes von elf Kindern war er, wie viele junge Männer, verpflichtet einige Jahre für das gesammelte Vieh des Dorfes zu sorgen. Für ihn war diese Arbeit jedoch bald existenziell. Er würde nicht erben können, vielleicht noch nicht mal heiraten.
Als dann die schwarzen Pocken kamen und Jon vier seiner Geschwister verlor, war er zweiundzwanzig Jahre alt. Plötzlich sah es so aus, als würde er den Hof übernehmen können. Niemand verstand, als er diese Aussicht freiwillig abgab. Er ließ sein Erbe auf den nächsten Bruder überschreiben und verlangte nichts weiter, als die Arbeit zu tun, die er nun seit sechs Jahren verrichtet hatte.
Wenn er im Herbst von der Alm kam, verhielt er sich wortkarg, ja mürrisch. Im Winter gab es auf einem Hof entgegen weit verbreiteter Gerüchte nicht weniger Arbeit als im Sommer. Alles über den Sommer Liegengelassene wurde erledigt. Zäune mussten ausgebessert werden, Geräte repariert und in Stall und Wald allerlei erledigt werden. Die Frauen flickten die Kleidung und Wäsche, Flachs und Wolle wurden gesponnen und verarbeitet. Jon drückte sich nicht vor seinem Anteil an der Arbeit. Aber bald schon bemerkte seine Familie, dass er am liebsten allein unterwegs war, einsam arbeitete. Wann es nur ging, nahm er Abstand von jeglicher Gesellschaft. Und wenn das unmöglich war, sah man selten ein Lächeln in seinem Gesicht, oder hörte ein Wort von ihm.
Merkwürdigerweise nahm ihm dieses Verhalten jedoch niemand übel, weder Familie noch Nachbarn. Jon war ein hübscher junger Mann, doch die Stille war in seine Ausstrahlung eingewoben, niemand konnte sich vorstellen, dass er anders als eben so sein könnte. Jon war der Einzelgänger, Jon war der Eremit. So wichtig war ihm seine Freiheit, dass er sogar auf sein Erbe verzichtet hatte.
Aber niemand verlor so wenig Vieh, sorgte so liebevoll für die Kühe auf der Alm.
Die Jahre verstrichen und Jon alterte in Würde. Seine Haut war nussbraun, durchzogen von vielen Falten. Aus den kräftigen Handrücken wuchsen dicke Adern. Manchmal lächelte er nun, besonders wenn er die Kinder seines Bruders spielen sah. Aber in alltäglichen Gespräche ließ er sich nicht verwickeln. „Ja“, und „Wird schon“ war alles was man von ihm hörte.
Eine seiner Schwestern weinte oft, wenn sie an den Winterabenden bei ihm saß. Sie suchte seine Nähe, aber sie erklärte nicht, warum die Tränen flossen, und Jon fragte nie.
Auch die Hunde ließen sich gerne rund um ihn nieder und fast immer saß eine Katze auf seinem Schoß. Die Familie vermehrte sich, Kinder kamen und gingen, Ehen wurden geschlossen und Krankheiten durchlitten. Aber Jon lächelte nur zu all diesen Ereignissen. Die Stille lag wie ein undurchdringlicher Panzer um ihn herum. Wenn er den Weg nach oben, auf die Alm, suchte, hinterließ seine Abwesenheit eine gähnende Leere. Obwohl er nicht sprach und meistens allein sein wollte, fehlte Jon den Bewohnern des Hofes. Es war schwer zu verstehen. Doch es gab immer genug Arbeit, so viel Arbeit, niemand hatte Zeit tiefen Gedanken nachzuhängen.
Ich wünschte mir, einer von Jons Verwandten hätte ihn einmal gefragt.
„Was ist Glück?“ So stelle ich mir die entscheidende Frage vor.
Und er hätte geantwortet: „Unabhängigkeit.“
Jemand, den es leider in Wirklichkeit nicht gab, hätte nachgehackt: „Was ist Unabhängigkeit?“
„Allein sein können.“
Jon, den das Schicksal mit dieser Erfahrung vertraut gemacht hatte, würde nicken, lächeln. Und in seinem Blick endlich einmal das innere Licht, das niemand zu verstehen wagte.
Denn die Konsequenzen.....
 
A

aligaga

Gast
Dass in vielköpfigen Bauernfamilien zu einer Zeit, als es die Pocken noch gab und die Almwirtschaft ohne EU-Subventionen über die Runden kommen musste, immer auch Sonderlinge lebten und man ihr Anderssein ohne weiteres hinnahm, ist nichts Besonderes. Autismus war damals noch keine Krankheit, und der Inzest unter Geschwistern zwar geächtet, aber gleichwohl viel geübt.

Leider gelangt das Texterl, das alles andere ist als eine Kurzgeschichte, über eine oberflächliche Sachdarstellung nicht hinaus. Das lührische Ich, das am Ende plötzlich auftaucht, stellt im Grunde genommen die Fragen, die der Text nicht beantwortet, noch einmal und doppelt damit die Einfalt des Stückes.

TTip: Aus der Vorlage kein banales Endlos-Geraune, sondern etwas Konkretes machen, wo deutlich wird, wovor der Protagonist flieht, warum nur eine Schwester teilnahmsvoll ist und, vor allem, dass in Eremiten keine "inneren Lichter" leuchten, sondern die Flamme, die in jedem menschlichen Wesen brennen sollte, erloschen ist.

Ein Eremit ist so ziemlich die langweiligste Person, die man sich denken kann. Interessant wäre nur, wie es so weit mit ihr kommen konnte. Vielleicht ist es ja - wie so oft! - nur ein Heuchler, der Nachts aus dem Sarg steigt und Jungfern schändet?

Froh und munter

aligaga
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Lieber Eremit!

Ein wunderbarer Text um einen Menschen, der mit sich und der Natur im Einklang lebt und sich selbst genug ist.

. Und in seinem Blick endlich einmal das innere Licht, das niemand zu verstehen wagte.
Fehlt hier nicht das Verb?

Nur den letzten Satz verstehe ich nicht ganz. Was meinst du mit Konsequenzen?

Gruß, Hyazinthe
 

Eremit

Mitglied
Hallo Hyazinthe,

danke für das positive Feedback!
Im letzten Satz wollte ich andeuten, dass die Konsequenz solcher Selbstgenügsamkeit ein Glück ist, das die Menschen ihr ganzes Leben lang suchen.
Finden kann man es jedoch nur in sich selbst.
In der Tradition von Eremiten wird den weltlichen Dingen eine untergeordnete Rolle zugeordnet.
Auch das ist eine wichtige Konsequenz von Jons Leben: die anderen Menschen müssen sich fragen, ob die Jagd nach Geld, Macht oder Erfolg nicht sinnlos ist.

Liebe Grüße,
Eremit
 
A

aligaga

Gast
Was für ein Unsinn.

Auf einem Bauernhof alten Zuschnittes wie des hier skizzierten war nie jemand auf der (angeblich) sinnlosen
Jagd nach Geld, Macht oder Erfolg
sondern stand, ganz ohne Soziopathie, nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit der Gesellschaft und der Natur im Einklang.

Eremiten tradieren nichts; ihre Weltabgewandtheit ist sich selbst genug, eine Fortpflanzung ausgeschlossen. Sie sind, wofern sie nicht als krank zu gelten haben, xtreme Narzissten, die aus ihrer Sackgasse allein nicht mehr herausfinden und elend zugrunde gehen.

Eine Reihe von Religionen haben solche Tröpfe als "beispielhaft rein" hingestellt und tun das immer noch. Nur schlichte Gemüter lassen sich heute noch davon blenden und gehen ins Kloster. Die klugen Mädchen und Jungs berühren sich, reden miteinander und nehmen Teil an ihren Mitmenschen.

Heiter

aligaga
 



 
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