Der Postkartenmacher.

4,00 Stern(e) 3 Bewertungen

pleistoneun

Mitglied
Der, wie er selbst von sich behauptete, geniale Postkartenmacher war heute wie gestern ideenlos. Die sonst so flink geschwungene Postkartenfeder lag heute unbenutzt neben der leeren Formatkarte, die er zu gestalten hatte. Wenn ihm heute nichts einfiele, würde er unweigerlich rausgeschmissen, denn es warteten genug Jungpostkartenmacher auf diesen Job.

Seite 1876 machte Anton täglich eine neue Postkarte, das verlangte der Verlag. Gut, dass er damals im Jahre 1903 sogar zwei an einem Tag gemacht hatte, denn diese Reservekarte konnte er gestern als Ersatz für seine Ideenlosigkeit einsetzen. Für heute gab es keine Reservekarte. Ihm musste unbedingt wieder etwas einfallen. Anton nahm seine antiquierte Postkartenfeder, tauchte sie ins Tintenfässchen und setzte die Feder zum satten Striche an. Nichts. Er wusste nicht wo er ansetzen sollte, so ganz ohne Vorstellung und ohne Anhaltspunkt. Die Versagensangst trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Noch nie hatte sich der geniale Postkartenmacher in einer solch großen Gedankenarmut befunden und in seiner Geistlosigkeit griff Anton nervös nach dem Fleckentuch, mit dem er sich den Angstschweiß aus dem Gesicht wischen wollte. Bei dieser unbedachten Bewegung stieß er das Tintenfässchen um und der Inhalt ergoss sich akkurat auf seine Karte. Um das Schlimmste zu verhindern, klappte Anton schnell die Karte zu, doch war es genau diese Handlung, die die Sache noch verschlimmerte. Denn jetzt hatte er eine geknickte Karte und auf beiden Hälften einen grauenhaften Tintenklecks.

Alles aus. Das wars. Anton war am Ende. Der Verlag hätte kein Verständnis für Unfälle dieser Art und man würde ihm keine Ersatzkarte schicken. Anton erhob sich langsam vom Tisch. Und als er so dastand und auf seine Karte blickte, bemerkte er, dass der Klecks die Umrisse eines Vogels hatte und das in doppelter, spiegelverkehrter Ausführung. Diesen hohen Grad an Übereinstimmung und Präzision hätte er nicht mal geschafft, wenn er es beabsichtigt hätte. Anton hing die Postkarte zum Endtrocknen auf, packte sie mutig ins Kuvert und schickte sie an den Verlag.

Die Karte war ein Knüller, ein Verkaufshit, so etwas hatte es am Postkartenmarkt noch nicht gegeben. Man riss sie förmlich den Trafikanten an den Kiosken aus den Händen. Anton legte von nun an die Feder beiseite und wurde Tintenfassschwinger. So brauchte er keine großartigen Ideen mehr, nur noch einen eleganten Schwung aus dem Handgelenk. Erfolg schien ihm für alle Zeit beschieden und jede Karte war irgendwie anders.

Aber gerade diese Andersartigkeit der Kleckse war Anlass für viele Uneinigkeiten und Missinterpretationen der Menschen. Jene, die beim Umriss eines Vogels ein Kindesgesicht sahen, erkannten im Schlüssel eine Kaffeetasse und jene, die den Baum als Pilz lasen, meinten bei der Blume eine Palme zu entdecken. Es gab Verwirrungen bei all jenen, die das Postkartenmotiv aus bestimmtem Anlass verschickten. So bekamen Trauernde eine Schere als Zeichen der Seelennot und kein Kreuz und frisch Vermählte als Nachwuchswunsch eine Gießkanne. Viele Glückwunschkarten wurden aus Ärger über die Wahl des unpässlichen Bildes zerrissen und man reagierte, indem man ebenfalls beim Kauf einer Postkarte ein möglichst grässliches Motiv wählte, was beim Empfänger aber nicht die gewünschte Abneigung auslöste, sondern durchaus Freude und Beglückung. Diese Missverständnisse trennten Paare, ewirkten Peinlichkeiten, verursachten Streitigkeiten und führten sogar zum 1. Weltkrieg. Denn die Botschaft der Karte, womit man den kaiserlichen Thronfolger in Sarajewo begegnen sollte, wurde - wie so oft und auch in diesem Fall - falsch ausgelegt. Denn die Abbildung eines Zepters der Freundschaft war kein Messer.
 

strumpfkuh

Mitglied
Lieber Pleistoneun,
Spitze! Vor allem die Übertragbarkeit auf andere Künste!
Jaja, die Mißverständnisse...
Hätte nur gehofft, du bietest am Ende noch eine Lösung, für die unlösbare Situation (Der Wiederspruch hier ist beabsichtigt).
LG
Doro
 



 
Oben Unten