Der Prothesenfriedhof.

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pleistoneun

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Mit nur einem Arm und einem Bein fühlte sich Alfons heute Morgen etwas einseitig und musste auf den Vorzug der Beidarmigkeit verzichten, den man hat, wenn man beispielsweise den Zucker im Kaffee verrührt, während man auf der Veranda lehnt. Er machte das gerne mal, so rausgehen auf die Veranda mit einer Tasse Kaffee in der Hand und den Morgen begrüßen. Bei einem Verkehrsunfall vor gut zwei Jahren verlor Alfons wie auch seine Frau als Sozius seinen linken Arm und sein linkes Bein. Aber nicht der Unfall selbst war daran schuld, sondern die Feuerwehrleute, die die Insassen aus dem Fahrzeug schnitten. Natürlich erhielten sie vom Krankenhaus modische Prothesen, damit sie ihren Alltag bewältigen konnten, doch waren diese neumodernen Geräte ständig reparaturbedürftig und mussten oft für mehrere Wochen eingeschickt werden.

"Steh auf, alte Schachtel", rief er zu seiner Herzensliebe ins Haus und schlürfte einhändig seinen ungezuckerten Kaffee auf der Veranda. Man hörte eine brummende Frauenstimme, die meinte, sie hätte dieses eben getan und würde sich bereits fertig machen für die Arbeit. Danach kam unverständliches Gemurmel, worauf er annahm, sie würde ihn wieder beschimpfen. Das pensionierte Ehepaar Alfons und Edith Teigfuß unterhielt eine heruntergekommene Landwirtschaft ihres Nachbarn, der seit seinem Traktorunfall nicht mehr imstande war aufs Feld zu gehen. Man sagt, dass auch bei ihm die Feuerwehr etwas mit seiner Extremitätslosigkeit zu tun hätte. Alfons zog seinen Gummistiefel an, heute sogar den richtigen, und humpelte mit Werkzeug und Krücke von der Veranda, seine Frau hinterher. Von Weitem schon sah man das Gespann übers Feld hinken, unverkennbar ihre Art der Fortbewegung und das Gezanke, das man aus große Ferne hören konnte. Die Arbeit verlief dann ganz ohne Worte. Man vernahm vom Feld nur die gewöhnlichen Geräusche, die eine Schaufel eben macht, wenn man sie mit Schwung in die Erde steckt. Doch plötzlich war da ein anderes Geräusch. Alfons hielt inne, schaute zu Edith, die es ebenfalls gehört hatte. Es klang nach etwas Unnatürlichem, hartem Kunststoff vielleicht. Schnell wurde die Stelle freigelegt und eine wunderschöne, fleischfarbene Prothese kam zum Vorschein. Nicht nur eine, eine zweite, eine dritte, zehn und noch mehr, ein ganzer Prothesenfriedhof lag unter ihrem Bein. "Lass und anprobieren", leuchtete Edith im ganzen Gesicht. Ja, genug Auwahl, jeden Tag eine andere, eine Prothesenleben in Saus und Braus. Wie Tiere ihre vergrabene Beute lichten, so wild und unbeherrscht schürften sie nach dem Wunder aus dem Acker. Weihnachtlich entfernten sie Dreck und Staub von den alten, aber gut erhaltenen Plastikprothesen und legten einige an, wie man Schuhe vor dem Kauf probiert.

Maßlos griffen Edith und ihr Mann soviel sie tragen konnten, ließen ihre Schaufeln liegen und machten sich daran, ihre neuen Greif- und Tretbehelfe so schnell wie möglich nachhause zu bringen. Ihr Anblick am Rückweg war noch viel grotesker als zuvor, voll bepackt mit Händen und Beinen über den Feldweg durch die Unterführung zur Hauptstraße. Man nimmt an, die vielen Kunstglieder hätten ihnen die Sicht versperrt auf den herannahenden Transitlaster. Dieser meinte, alles wäre so schnell gegangen, er hätte nur noch Arme und Beine gesehen, als er über die Teigfußs hinwegbrauste. Er war es auch, der die Einsatzkräfte alarmierte. Als erste am Unfallort war die ortsansässige Feuerwehr mit ihrem Blechschneider, der das Ehepaar befreien sollte. Alfons und Edith, mittlerweile mit Vollersatzprothesen, gaben noch zu Protokoll, die hätten sich vor den scharfen Blechscheren der Feuerwehr unter den Trümmern mit Händen und Füßen bis zuletzt gewehrt.
 

majissa

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Lieber Pleistoneun,

ich mal wieder...

Wo nimmst du nur deine verrückten Ideen her? Das interessiert mich jetzt wirklich! Ich habe mich köstlich amüsiert mit Alfons, Edith und den Prothesen. Mittlerweile sind deine Geschichten schön rund, enden nicht mehr so abrupt und ziehen mich immer wieder an. Gerade versuche ich, mir vorzustellen, wie man mit einem halben Körper an einer Veranda lehnt. Herrlich! Ähm...ich war auch der anonyme Bewerter.

Lieben Gruß
Majissa
 



 
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