Der Vorwand

KN

Mitglied
Dieses Geschrei. Es macht mich verrückt. Ich liege im Bett, seitlich, die Beine angezogen bis fast an den Bauch, der Vollmond zeichnet weiche Schatten an die Wand. Ich bin müde und doch will der Schlaf nicht kommen. Mein Bauch grummelt nervös und mein Herzschlag beschleunigt sich. Wie beinahe jede Nacht. Warum hacken sie nur nachts aufeinander ein? Warum ist es über mir tagsüber so ruhig wie in einer Kirche zur Andacht? Ich ziehe mir meine warme Decke über den Kopf. Will nichts hören. Durch die dicken Daunen dringt nur noch dumpf ihr Gezeter. Als es stickig wird, ziehe ich die Decke vorsichtig von meiner Nase und lege dabei gleichsam neugierig und angewidert auch ein Ohr frei. Nichts, ich höre nichts und das scheint noch schlimmer. Denn ich kenne dieses Nichts. Es wird nicht lange anhalten und dann, noch bevor ich diesen Gedanken wirklich zu Ende denken kann, bricht es aus ihr heraus. Fast überschlägt sich ihre Stimme und ich höre sie tränenerstickt kreischen: „Warum tust du das immer?“ Füße stampfen auf den Boden oder ist es Möbel rücken? Was tut er denn immer, frage ich mich, dass sie so außer sich ist. Ich höre ihn murmeln. Unverständlich, sachlich, ruhig. Jetzt ärgere ich mich, dass ich seine Antwort nicht verstehe. Obwohl es mir nicht bekommt, setze ich mich auf, recke leicht den Hals um das Ohr näher an die Decke zu bringen, was nicht tatsächlich was bringt, aber das Gefühl vermittelt, ich wäre näher an der Sache dran. Was also tut er immer. Wieder Möbel rücken, oder doch keine Möbel. Sie müssen sich im Schlafzimmer befinden, denn das sollte sich, nach der Einteilung der Wohnungen, auch über meinem Schlafzimmer befinden. Während ich noch gedanklich den Grundriss der Wohnung durchgehe, schleicht sich die Frage erneut in meinen Hinterkopf. Was also tut er immer? Was kann ein Mensch tun, dass der Partner so dermaßen außer sich gerät? Alles und nichts, denke ich. Alles und nichts kann man tun. Arbeitet er vielleicht einfach zu lange? Warum tust du das immer? Warum arbeitest du immer so lange und lässt mich hier alleine. Du weißt doch, dass ich mich ängstige, wenn es dunkel wird. Du weißt doch, dass ich immer Schritte höre, wo keine sind, du weißt doch, wie sehr ich dich in meiner Nähe brauche, wenn die Dunkelheit kommt. Ist es das?
Warum tust du das immer? Warum kränkst du mich mit deinen Blicken, warum behandelst du mich so abwertend, warum nimmst du mich nicht ernst?
Warum verfolgst du mich? Warum schnüffelst du mir hinterher? Warum prüfst du meine Liebe? Ist es das? Warum betrügst du mich? Es könnte ebenso unheilvoll wie belanglos sein, was diese Frau über mir so aus der Fassung bringt. Ist sie vielleicht nicht ganz richtig im Kopf? Vielleicht macht er ja gar nichts. Sie denkt nur, er würde etwas tun. Oder er tut etwas, was einer solchen Aufregung gar nicht Wert wäre. Oder tut er wirklich etwas, was nicht in Ordnung ist und denkt sich nichts dabei. Vielleicht ist ihre Aufregung durchaus berechtigt, aber er sieht das nicht so. Er könnte ja verbohrt sein, uneinsichtig, ignorant und egoistisch. Mag sein, dass ihre Hysterie eine Berechtigung hat. Kurzfristig denke ich darüber nach mich über den Flur in das Stockwerk über mir zu schleichen und das Ohr an die Wohnungstür zu drücken. Nur die Angst vor Entdeckung hält mich davon ab. Vielleicht, wenn ich die Haushaltsleiter holen würde und eine Schüssel…Ich habe so etwas vor einiger Zeit in einem Fernsehfilm gesehen. Schon schiebe ich mein linkes Bein unter der Bettdecke hervor, um mich im letzten Moment zu bremsen. Nein, schelte ich mich, das ginge wirklich zu weit. Ein Interesse an den Dingen um einen herum zu haben, ist noch einmal etwas anderes, als dieses Interesse auf solche schändliche Weise zu befriedigen.

Die Minuten vergehen und es ist zum verrückt werden. Ich verstehe ihn einfach nicht. Nur dieses monotone gleichbleibende tiefe Gemurmel dringt in mein Schlafzimmer. Ich bekomme schon Kopfschmerzen vor Anstrengung.
Ruhe.
Dann ein Krachen, das in seiner Intensität ein Piepsen in meinem rechten Ohr hinterlässt.
Ein Schuss.
Ich springe aus dem Bett, reiße dabei meine Nachttischlampe vom Beistelltisch, deren feines Milchglas sich millionenfach zersplittert über meinen Boden verteilt. Darauf kann ich jedoch in solch einer brenzligen Situation keinerlei Rücksicht nehmen. Was sind schon zerschnittene Füße im Gegensatz zu einer Schussverletzung. Schon habe ich mein Telefon erreicht und tippe hektisch die Nummer der Polizei ein, als ich sie von oben kreischen höre.
„Verdammt, das war meine gute Vase“.
Was jetzt? Ich lege irritiert auf. Kein Schuss? Eine Vase. Eine popelige Vase und dafür zerfetze ich mir die Füße? Hat er sie nun geworfen? Vielleicht nach ihr? Ist sie von alleine gefallen oder was soll ich jetzt davon halten. Langsam fange ich an mich zu ärgern. Wissen sie denn nicht, was sie hier anrichten? Das ich hier vor Sorge umkomme und mir die schlimmsten Szenarien vorstelle. Ich stemme die Hände in die Hüften, werfe einen kritischen Blick an die Decke und ziehe kurzfristig in Erwägung einen Besenstiel zu benutzen, um meinem Unmut kund zu tun.

Ich beginne mich zu fragen, ob Herr Schmitt, der die Wohnung über diesem seltsamen Paar bewohnt, sich auch in seiner Nachtruhe beeinträchtigt fühlt. Hört er das Geschrei ebenfalls? Über Herrn Schmitt wurden hier im Haus schon ausschweifende Diskussionen bezüglich seines Alters geführt. Dieser Mann scheint uralt. Letzten Schätzungen der Hausbewohnt zufolge müsste er so um die 103 Jahre alt sein. Ich jedoch könnte mir gut vorstellen, dass es sich bei ihm um einen Jungendfreund von Nostradamus handelt. Diesen Gedanken kann ich getrost verwerfen. Ich glaube kaum, dass er sich gestört fühlt, geschweige denn irgendetwas hört. Wahrscheinlich ist es für ihn nicht mehr als das Summen einer
Stechmücke. Wenn überhaupt. Der alte Mann hat mich schon einmal an den Rand eines Zusammenbruches gebracht, als ich dachte, im Hausflur finde eine wilde Schießerei statt.
Auch hier hatte ich bereits zum Hörer gegriffen, bereit, einen großen Polizeiaufmarsch zu fordern, als ich merkte, dass ich die Schüsse immer dann hörte, wenn sich dies auch zeitgleich und quasi parallel auf meinem TV Programm abspielte. Er sah fern in einer Lautstärke, die selbst einem startenden Jumbojet zur Ehre gereicht hätte. Nun aber hat er einen Kopfhörer und im Haus ist es merklich stiller. Ich merkte es daran, als er eines Tages neben mir im Aufzug stand, zwei Tüten Müll in der Hand und seine riesigen Kopfhöher inklusive Schnur noch auf dem Kopf hatte. Das sah so rührend absurd aus, dass ich ihn beinahe geknuddelt hätte. Nein, es würde sich nicht lohnen, bei ihm nachzufragen.

Die Hanke im gleichen Stockwerk neben den Streithälsen. Die hat mit Sicherheit die Schüssel an der Wand. Die weiß garantiert, was hier los ist. Es wird sich jedoch für mich schwierig gestalten, eine freundliche Kommunikation mit einer Frau zu starten, deren Mann ich kürzlich noch als tolldreisten Casanova beschimpft habe. Aber was ist das auch für ein Typ. Er ist so um die 60 Jahre alt (schätze ich mit geschultem Auge). Ständig trägt er Turnschuhe, deren Schnürsenkel offen sind und im Dreck schleifen. Seine Jeanshosen sind bei Jugendlichen sehr beliebt. Sie fangen knapp unterhalb der Hüfte an, der Schritt hängt faktisch in den Kniegelenken und unten an den Füßen knuddelt sich der Stoff zu einer Art Ziehharmonika zusammen. Er trägt riesige T-Shirts mit lächerlichen Aufschriften (Erteile Sexunterricht – erste Stunde gratis). Er würde mich wirklich nicht wundern, wenn er demnächst noch mit einem Skateboard unterm Arm das Haus verlässt.

Klatsch…Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Was war das jetzt. Klatsch…wie mit einer Fliegenklatsche an die Wand gepatscht. Sind sie jetzt auf Mückenjagd? Wimmern. Das muss sie sein. Hat er ihr jetzt eine
verpasst? Ich werde wütend. Also Schläge gehen gar nicht.
Aber vielleicht war sie nahe einer Hysterie und er wollte sie nur zur Besinnung bringen. Es war unter Umständen gar kein Schlagen an sich, sondern nur ein „auf den Boden zurück holen“? Verdammter Mist aber auch. Während ich mit einem Taschentuch aus meiner Nachttischschublade das Blut vorsichtig von meinen lädierten Füßen tupfe und nach Mikropartikeln Glas in meinen Fußballen suche, wird mein Hals immer länger. Für den Rücken ist das gut. So eine Art Strecktherapie.
Dann wird es mir bewusst. Ich brauche weder Herrn Schmitt, noch die Hanke. Ich brauche einen Vorwand.
Fieberhaft fange ich an nachzudenken. Welcher Grund würde es rechtfertigen, dass ich mitten in der Nacht bei ihnen an die Tür klopfe. Ich könnte Halsweh haben und dringend etwas Milch benötigen. Aber warum ausgerechnet von ihnen die Milch holen? „Hallo, ich habe gehört, Sie sind noch wach und da dachte ich, Sie könnten mir etwas Milch borgen“. Nein, das war zu auffällig. Während ich weiter an meinen Füßen rumfummele und Splitterchen für Splitterchen rausziehe, kommt mir der Gedanke. Meine Füße. Ich habe mich verletzt. Ich sah genauer hin. Aber so schlimm war es nicht. Testweise schob ich mit Zeigefinger und Daumen der linken Hand ein wenig Haut zusammen um wenigstens noch etwas Blut rauszupressen. Ich musste ziemlich heftig zudrücken, damit sich dort etwas tat. Was also tun? Ich stieg aufs Bett, schaute auf die auf dem Boden verteilten Glassplitter, zählte bis drei uns sprang dann beherzt in die Scherben. Das war schon besser. Jetzt blutete es wieder und einige Glassplitter steckten sichtbar in meinen Füßen. Rechtfertigte das ein nächtliches Klopfen? Ich betrachtete meine Füße und da ich jetzt schon Splitter drin hatte, Blut zu sehen war und sich auch ein Schmerz breit machte, dachte ich mir, ein erneuter Sprung könne jetzt nicht mehr Schaden anrichten. Also wieder rauf aufs Bett, zählen, Zähne zusammenbeißen und wieder rein in die Scherben. Jetzt war es gut. Ich konnte kaum mehr gehen. Jeder Schritt war eine Qual. Das rechtfertigte sehr wohl einen Besuch in der Nacht. Ich humpelte zur Tür und dann hörte ich es. Ich hörte, dass ich schon eine ganze Weile nichts mehr gehört
hatte. Ich war so beschäftigt, dass es mir nicht aufgefallen ist. Egal, jetzt war ich soweit gekommen, ich wollte nicht aufgeben. Stöhnend zog ich die Haustür auf, nahm meine Schlüssel in die Hand und wollte gerade in den Hausflur humpeln, als ich von oben Gelächter, eine Tür und dann Schritte auf der Treppe hörte.
Da kamen sie. Hand in Hand schlenderten sie die Treppe hinunter, kamen geradewegs auf meine Tür zu. Als sie mich sahen, wie ich dastand, im Nachthemd, mit blutenden Füßen und dem Schlüssel in der Hand, zogen sie beide fast zeitgleich die Augenbrauen fragend in die Höhe.
Ich zeigte auf meine Füße. „Ich könnte ein Pflaster gebrauchen“, murmelte ich. Und das war nunmehr kein Vorwand.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo KN,

diese Geschichte habe ich zunächst gern gelesen, sie ist witzig und spannend geschrieben – bis Du plötzlich unvermittelt die Zeit wechselst. Das letzte Drittel steht im Präteritum und hebt sich somit völlig grundlos vom Vorangegangenen ab. Ein Bruch, der nicht nötig gewesen wäre.

Ein wenig enttäuscht war ich dann auch, dass es überhaupt keine Auflösung der erlebten und beschriebenen Vorfälle gibt. Ich meine, Du wärst dem Leser zum Schluss eine Erklärung schuldig gewesen. Die Variante mit dem Pflaster lässt den Leser ein wenig gelangweilt zurück.

Ein paar Absätze hätten dem Text übrigens auch nicht geschadet.
Vielleicht kannst Du ja noch wenig an diesem Text arbeiten – es muss gar nicht viel sein!

Gruß Ciconia
 

SanneZwei

Mitglied
Hallo KN,

deine Geschichte hat mir gut gefallen! Schöner Einfall.
Einzig die beiden Abschnitte mit "Herrn Schmitt" und "Hanke" hatten meine Lesefreude getrübt, weil der "Fluss" dadurch abgeschnitten wurde. Ich dachte beim Lesen "Wo kommt das jetzt her?" und "Wo geht's denn weiter?" Aber danach greifst du den Faden wieder auf und es wird zu einer runden Sache.

Liebe Grüße
Susanne
 

KN

Mitglied
Vielen Dank @Ciconia für deinen Beitrag. Du hast natürlich völlig recht. Warum ist mir das selbst nicht aufgefallen? Absätze fehlen ebenfalls. Es war mein erster Beitrag. Ich werde mich bemühen, besser zu werden. Danke für deine Kritik.

Vielen Dank auch an dich SanneZwei. Es ist sehr hilfreich.
 



 
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