Der Zug

Ferenc

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Der Zug

Nacht. Allein sitze ich in der Diele. Mein Glas ist leer, ich greife zur Flasche und gieße nach. Scharf brennt der Whiskey in der Kehle.

Ein Tag wie jeder andere. Dieses und jenes getan; und doch nichts wirklich Gutes. Ich verschwende meine Zeit.

Die Flamme der Lampe flackert. Der lange Schatten der Flasche tanzt an der Wand. Neben ihr die Rose. Ich sehe, sie hat ein neues Blatt verloren.

Nachdenklich nehme ich es in die Hand. Zart und verletzlich. Mein Blick gleitet den Schatten entlang, immer höher. Schließlich bleibt er an der alten, langläufigen Flinte hängen. Eine Rarität. Zur Zierde angebracht.

Der Wind schlägt das Fenster auf. Die Vorhänge wehen wild, der Regen klatscht herein. Das Getöse des Sturms.

Auf einmal höre ich es. Ein lautes, schrilles Kreischen, wie von den Bremsen eines Zuges. Es kommt immer näher, wird immer lauter, schriller. Dann bricht es ab, und ein Zischen ist zu hören. Was ist das? Ich stehe auf und gehe zur Tür. Das Zischen dauert an.

Dann trete ich hinaus.

Der Sturm peitscht mir ins Gesicht. Ich hebe den Arm, um mein Gesicht vor dem Regen zu schützen. Donner läßt die Fenster klirren. Und dann sehe ich ihn.

Ihn. Den Zug. Dort, etwa fünfzig Meter entfernt. Silberglänzende Gleise ziehen sich durch die schwarzen Wiesen, Dampf und Qualm umspielen die mächtige Lokomotive. Schwarz und dunkel steht er da. Und wartet.

Ja, er wartet. Auf wen? Auf mich? Es gibt hier keine Bahnstation. Und doch steht er da. Und wartet.

Schließlich gehe ich. Ich gehe auf den Zug zu. Der Sturm schwillt an, das Heulen und Krachen wird fast unerträglich. Ich muß im Zentrum sein, denke ich mir. Ich gehe immer weiter.

Dann stehe ich vor ihm. Schwarz und vor Nässe glänzend erhebt er sich vor mir, zischend und Dampf und Qualm ausstoßend. Schwarze Vorhänge verwehren den Blick durch die Fenster der Waggons. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Plötzlich öffnet sich eine Tür. Eine Aufforderung? Soll ich einsteigen? Ich gehe zu der Tür des Waggons, ein fahler Lichtschein erhellt den Regen. Sonst kann ich nichts erkennen.

Was soll ich tun? Eine innere Stimme scheint mir zu sagen, zögere nicht. Tu, was du tun mußt. Nur zögere nicht.

Ich steige in den Zug ein. Ich weiß, daß es richtig ist. Es muß richtig sein. Vorsichtig steige ich die Stufen hoch, wohl darauf achtend, auf dem nassen Gitter nicht auszurutschen. Dann stehe ich im Inneren des Wagens. Rechts von mir ist die Tür zum Abteil. Sie besitzt ein kleines Fenster, durch dessen trübes Glas helles Licht zu erkennen ist.

Die Waggontür schließt sich. Mit lautem, metallischem Krachen fällt sie ins Schloß. Nun haben sie dich, denke ich. Ich weiß nicht, wieso ich das denke. Ich lächle und schelte mich wegen meiner Angst.

Nichts rührt sich. Gedämpft kann ich den Sturm draußen toben hören. Auch das Zischen der Dampfmaschine ist noch da.

Willst du wirklich diese Tür öffnen? scheint mich dieselbe
Stimme wieder zu fragen. Noch kannst du aussteigen. Entscheide dich. Nur zögere nicht.

Auf eine Art spüre ich, daß dies eine wichtige Entscheidung ist. Ich muß mich entscheiden.

Ich öffne auch diese Tür. Helles Licht blendet mir für einen Moment die Augen, dann sehe ich das Abteil.

An mehreren Tischen, bedeckt mit roten, wertvollen Decken, sitzen Männer. Alte Männer. Sie sitzen dort, zumeist regungslos, und sehen nachdenklich aus dem Fenster.

Sie sind alle alt. Ich komme mir fast fehl am Platze vor. Und doch scheinen sie sich nicht gestört zu fühlen, sie blicken auf, sehen mich an; sie nicken mir fast unmerklich zu und wenden sich wieder ihrer Beschäftigung zu.

Langsam durchschreite ich das Abteil. Es sind mehrere Plätze frei, jedoch scheinen sie nicht für mich bestimmt zu sein.

Dann, schließlich, gelange ich zu einem Tisch, an dem nur ein einziger alter Mann sitzt. Er sieht mich an, macht eine einladende Geste und scheint sagen zu wollen: »Willkommen.«

Ich setze mich zu ihm. In diesem Moment fährt der Zug wieder an. Ein leichter Ruck ist zu spüren, dann höre ich das eintönige Klack-klack der Räder auf den Gleisen.

Eine Weile sitze ich nur dort, der alte Mann beachtet mich kaum. Irgendetwas ist an diesen Männern anders als an den anderen, denke ich. Doch was?

Da fällt es mir ein. Sie sind glücklich. Das ist es. Wann immer ich in eines der alten Gesichter sehe, so besitzt es zwar den Anblick des Alters, aber darunter liegt ein tiefer Ausdruck der Erleichterung und Erlösung. Das muß es sein.

Jetzt plötzlich fragt er mich: »Du hast also deinen Weg gefunden, ja?«

Zunächst weiß ich nicht, was er damit meint. Ich will ihn alles fragen, wieso ich hier bin, wieso der Zug anhielt. Doch ich weiß, daß das nun falsch wäre. Also antworte ich ihm: »Ja. Wäre ich sonst hier?«

»Vielleicht«, sagt er. »Entscheide dich. Der Zug fährt nicht für immer.«

Der alte Mann erscheint mir auf eine seltsame Art weise und erfahren. Er scheint alles zu wissen. »Was soll ich entscheiden?«

Er winkt verärgert ab. »Der Zug hat für dich angehalten. Soll er es etwa umsonst getan haben?«

Ich will fragen, weswegen hat er es getan. Doch diese Frage würde ihn sicherlich noch mehr verärgern. Und fast, als hätte er es erraten, sieht mich einer der anderen warnend an.

Ich schaue aus dem Fenster. Es ist nicht viel zu erkennen, die schwarze, ins nächtliche Dunkel getauchte Landschaft zieht vorüber. Ich weiß nicht, ob der Sturm noch da ist oder nicht.

»Du bist unentschlossen«, sagt der alte Mann, als ob ich es nicht selber wüßte. »Du hast noch etwas Zeit, bis der Zug zum zweiten Mal anhält. Bis dahin mußt du dich entscheiden.«

In diesem Moment glaube ich, etwas begriffen zu haben. Auch der alte Mann bemerkt dies und nickt zustimmend. Ich lehne mich zurück und lasse mir alles durch den Kopf gehen. Es stimmt nicht, was er gesagt hat. Ich habe nicht viel Zeit.

Ich denke an alles, was vor dem Zug war. Ich denke daran, wie ich in der Diele sitze, die Flasche vor mir, der Schatten an der Wand. Und ich denke an die Rose, wie sie jeden Tag ein weiteres Blatt verliert, die sich auf dem Tisch sammeln und verwelken. Jeder Tag ein Blatt.

Und ich weiß, was ich zu tun habe.

»Du hast dich entschieden«, sagt der alte Mann. »Das ist gut.«

Der Zug wird langsamer. Da ist das vertraute Quietschen, das Zischen. Und der Sturm. Wo ist er? Ich kann ihn hören, laut tobt er draußen.

Mit einem Ruck kommt der Zug zum Stehen. Nun ist es an mir, zu handeln. Der alte Mann nickt mir aufmunternd zu. Ich stehe auf.

Die anderen blicken auf und sehen mich an. Es scheint eine Spur von Trauer in ihren Augen zu sein, doch diesen Eindruck habe ich nur flüchtig.

Dann stehe ich vor der Tür des Abteils. Ich öffne sie und stehe vor der zweiten Tür, der Tür des Waggons. Ich höre den Sturm, wie er draußen tobt und brüllt. Der Regen kracht gegen das Metall, der Wind heult durch die Nischen. In diesem Moment weiß ich nicht, was ich tun soll. Soll ich die Tür öffnen?

Ich denke an den alten Mann, an den Blick, den er mir jetzt zeigen würde. Ich warte darauf, daß mir eine Stimme sagt, was zu tun ist. Doch da ist keine Stimme.

Ich bin allein.

Der Donner des Sturms holt mich zurück. Ich muß mich nun entscheiden. Der Zug wird nicht warten.

Und ich tue es. Ich ergreife die Klinke, drücke sie herunter. Der Wind reißt an der Tür. Schützend hebe ich den Arm, denn der Regen wird hart sein. Doch ich werde ihn nicht fürchten.

Die Tür öffnet sich. Ich trete einen Schritt vor. Ich gehe die stählernen Stufen des Waggons hinab, darauf achtend, nicht auszurutschen. Der Sturm? Noch spüre ich ihn nicht.

Dann stehe ich unten, lasse die Tür los. Krachend fällt sie zurück ins Schloß. Sofort fährt ein Ruck durch den Zug, und er bewegt sich. Zischend und qualmend gewinnt er an Fahrt, wird immer schneller, die Waggons hasten an mir vorüber. Dann ist der letzte vorbei, und der Zug entschwindet in der Ferne.

Ich sehe ihm nach. Kurz denke ich an den alten Mann an seinem Tisch. Doch dann erinnere ich mich wieder an meine Lage.

Ich senke den Arm und sehe mich um. Wo ist der Regen? Der Wind? Der Himmel ist dunkel und wolkenverhangen, doch der Sturm hat aufgehört. Die Nacht ist ruhig, das Wasser perlt auf den Wiesen. Ich wende mich um. Dampf und Qualm des Zuges stehen über den Gleisen. Ich suche ihn am Horizont, doch er ist fort.

Ich wende mich abermals um und gehe. Die nächtliche Luft ist kühl und frisch vom Regen. Ich stehe an der Stelle, wo ich in den Zug eingestiegen bin. In etwa fünfzig Meter Entfernung sehe ich mein Haus.

Die Tür meines Hauses steht offen, wie ich sie zurückgelassen habe. Ich trete ein und schließe die Tür. In der Diele steht der Tisch.

Die Petroleumlampe brennt noch immer, der lange Schatten der Flasche ruht an der Wand. Die Rose?

Fort.

Vom Sturm davongetragen.

Als hätte es sie nie gegeben.

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Geschrieben im September 1999.
 



 
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