Der kalte Bahnhof

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Julie

Mitglied
Der kalte Bahnhof

Bundfaltenhosen, Jacketts, randvoll mit wohlbraunem pulsierendem Fleisch, fein, schwarz, fließend kreuzen sie einander. Der sanft umwehte Unterschenkel – scheinbar makellos, reich, in Eile. Schwarze Lederslipper tanzen ihr Ballett rechts – links - rechts. Dunkle Augen leer ins Ziel gerichtet, den Vorhang wichtiger Aktenmimik vor das sonnenblasse Gesicht gezogen. Nase, Mund und Auge bilden ein gleichmütiges Dreieck grauer Langeweile. Rechts und links des Kinns hängt das Leben leicht nach unten. Der Whyski hält seinen Winterschlaf im zart rasierten Unterkiefer.

Der ICE Köln – München erbricht sich laut auf den Bahnsteig. Rote Turnschuhe hüpfen beschwingt aufs Parkett, kleine blaue Stiefelchen tasten sich durch den Sand, die ehemals weißen, schäbigen Stoffballerinas schlürfen alt – man schiebt, drängt sich penetrant stoßend zwischen schwarze Lederslipper und strahlende Pumps. Dennoch weichen sie nicht. Jedes Paar klebt auf seinem Quadratmeter weißen Bahnhofmarmors. Am anderen Ende werfen sich Fältchen, als zöge ein unbekannter Marionettenmeister die Nasen in die Höhe, kleine unsichtbare graue Härchen lugen mutig in die Welt, als wollten sie rebellieren gegen die globale Glätte ihrer Schwester Haut.

Der Inhalt des Köln – München verschwindet sicher im gähnenden Schattenrachen. Die Treppe ist sich ihrer Macht bewusst: entweder nach oben oder ganz runter. Dazwischen herrscht König Niemandsland.

Ob ich Kleingeld hätte. Der Mund lügt. Die Antwort murmelt sich von selbst, die Zunge gehorcht der Welt. In die Nase strömt Luft – echte? Der türkis grüne Jogginganzug wird aus der Wahrnehmung gelöscht, der Kopf nach rechts gedreht, rechte Schulter, der Oberschenkel wartet ungeduldig auf Befehle; rechts – links – rechts. Der Rachen frisst mich, man fließt – gleichförmig eilende Leiber, irgendwo blitzt ein gläsernes Lächeln. Die Neonröhre scheint mir etwas mitteilen zu wollen an – aus – an – aus. Doch nicht. Die aufgeregte Konversation findet mit der weißen Stablampe des roten Blaumanns im Lüftungsschacht statt.

Der Bahnhof spuckt mich aus in den Regenherbst. 12:38. Noch zwanzig Minuten.
 
G

Grendel

Gast
Mich verwirren die Bilder, ich finde sie teilweise ziemlich schief.

Bundfaltenhosen, Jacketts, randvoll mit wohlbraunem pulsierendem Fleisch, fein, schwarz, fließend kreuzen sie einander.
Hier kreuzen sich Jacketts fließend. Und woher weiß der Ich-Erzähler, der später in Erscheinung tritt, dass das Fleisch wohlbraun ist? Fleisch pulsiert? Im ersten Satz ist damit für mich bereits ein Stolperstein gelegt.

Der sanft umwehte Unterschenkel – scheinbar makellos, reich, in Eile.
Der makellose Unterschenkel? Na ja, hat da der Manager angehalten und das Hosenbein gelupft?

Schwarze Lederslipper tanzen ihr Ballett rechts – links - rechts.
Rechts - links - rechts ist bereits ein Ballett? Auf mich wirkt das Bild dadurch übertrieben.

Dunkle Augen leer ins Ziel gerichtet, den Vorhang wichtiger Aktenmimik vor das sonnenblasse Gesicht gezogen.
Augen, die sich richten, sind die noch leer? Und wenn da ein Vorhang vor dem Gesicht liegt, sieht man sie dann überhaupt - was auch die Blässe betrifft?

Rechts und links des Kinns hängt das Leben leicht nach unten. Der Whyski (Whisky oder Whiskey) hält seinen Winterschlaf im zart rasierten Unterkiefer.
Rechts und links des Kinns? Trägt der Betreffende einen Seehundschnauzer? Im Unterkiefer hält etwas Winterschlaf? Das heißt, im Knochen und der wird noch rasiert? Autsch.

Die Idee mit den verschiedenen Schuhen finde ich schön. Das wäre ausbaufähig. Vielleicht weniger Bilder, und die dafür besser durchdenken.

Gruß
Grendel
 

Julie

Mitglied
die bilder sind schon mit absicht teils paradox und widersprüchlich gewählt. ich will dem leser nicht eine reale beschreibung eines augenblicks liefern. zwischen wirklichkeit und beobachtung liegt die freiheit der interpretation. unser gesellschaft ist eben nicht einfach. man sieht das was man sehen will, die perspektive ist eine mischung aus detaillierter nahsicht und vogelperspektive.
zu der sache mit dem whysiki: menschen die öfters mal einen trinken neigen dazu teigige haut zu haben, und dank der kalorien auch gern mal ein doppelkinn...
 
G

Grendel

Gast
Dass Du Dir etwas bei den Bildern gedacht hast, bezweifle ich nicht. Ich kann Dir nur sagen, wie sie auf mich wirken. Auch aus der Vogelperspektive (ich nehme an, Du beziehst Dich hier zum Beispiel auf eine Taube, die über den Bahnsteig hüpft?) wirken die Bilder auf mich missglückt, zumal dann die Perspektive auch in den einzelnen Sätzen nicht wirklich durchgehalten wird. Der Vogel sieht zum Beispiel nur die Hosenbeine, nicht die Waden.
Was den Unterkiefer angeht, das ist für mich ein Knochen und die teigige Haut kann ich aus der Beschreibung nicht erkennen.

Wenn Deine Idee die Vermischung der Perspektiven von Vogel und Mensch ist, verstehe ich einen Teil der Geschichte damit besser, aber bei aller Liebe zum Paradoxen hätte ich das lieber aus dem Text selbst entnommen.

Die vorhergehenden Rückmeldungen zu Deinem Text waren durchweg positiv. Du bist die Autorin, Du entscheidest, wie Du die Geschichte schreibst. Als Leser gebe ich Dir nur meinen persönlichen Eindruck wider, Du entscheidest, ob Du etwas davon für Dich annimmst oder nicht.
 



 
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