Die Arztrechnung

Raniero

Textablader
Die Arztrechnung

Als Richard Reumer die Post öffnete, fiel ihm hierbei eine Arztrechnung, ausgestellt vom städtischen Klinikum, in die Hände.
Richard hatte sich vor einiger Zeit einer leichten Operation unterziehen müssen und daher schon auf den Brief vom Krankenhaus gewartet.
Da er privat krankenversichert war, erhielt er im Gegensatz zu den pflichtversicherten Kassenpatienten alle medizinischen Rechnungen direkt zugestellt, die er selbst beglich und zwecks Rückerstattung seiner Kasse weiterleitete.
Für ihn bedeuteten diese Rechnungen stets ein besonderes Vergnügen; einerseits, weil er keine Unkosten damit hatte, wenn er diese nur entsprechend früh bei der Kasse einreichte und relativ spät beglich.
Zum anderen bekam er einen genauen Überblick über alle Handgriffe der Ärzte, und, was noch wichtiger war, in welcher Höhe sich die Mediziner diese vergüten beziehungsweise seiner Meinung nach vergolden ließen.
Auf diese Weise, so glaubte Richard, hatte sich bei ihm durch das genaue Studium dieser Arztrechnungen ein derartiges Wissen angesammelt, dass er sich für sehr kompetent hielt, zwar noch nicht in dem Maße, eine Praxis zu eröffnen, doch zumindest insoweit, ein ordentliches Wörtchen im Gesundheitswesen mitsprechen zu können.
Als er sich gerade mit fachmännischen Augen auf die Rechnung stürzen wollte, entdeckte Reumer zu seiner Überraschung, dass noch ein weiteres Schreiben in dem Briefumschlag steckte.
„Was ist das denn, noch eine Rechnung?“
In der Tat enthielt der Brief eine weitere Arztrechnung, die jedoch nicht an Richard Reumer gerichtet war, sondern, wie er zu seinem großen Erstaunen feststellte, an einen Herrn Joseph Knöpel, seinen maßlos verhassten unmittelbaren Reihenhausnachbarn.
„Ei, guck mal da“, rief Richard aus, „jetzt schicken sie mir schon die Rechnung von dem Knöpel, dem alten Kotzbrocken, „ich bin mal gespannt, was da so alles drin steht“.
Mit größtem Vergnügen begann er, die fehlgeleiteten Unterlagen seines Erzfeindes, der sich offenkundig einem körperlichen Generalcheck unterzogen hatte, zu überprüfen und machte dabei erstaunliche Entdeckungen.
Richard erfuhr hierbei, dass sein Nachbar aufgrund der kaputten Leber ein starker heimlicher Säufer sein musste, was er schon immer vermutet hatte, dass dieser an beängstigend hohem Blutdruck litt – aha, daher diese cholerischen Anfälle - und darüber hinaus auch Prostatabeschwerden zu haben schien.
Richard Reumer machte sich keine Gedanken darüber, dass es sich bei all diesen Untersuchungsergebnissen um vertrauliche Informationen handelte, die absolut nicht in fremde Hände gehörten, im Gegenteil, hocherfreut, intime Informationen über seinen Nachbarn zu besitzen, mit dem seine Frau und er schon seit Jahren aus nichtigem Anlass im Streit lagen, dachte er nur daran, wie er diesem und seiner arroganten Frau damit schaden könnte.
Das Mindeste, was er in dem Fall täte, nahm er sich vor, wäre, weder das Krankenhaus noch den Nachbarn davon in Kenntnis zu setzen, dass die Rechnung an die falsche Adresse gesandt wurde; sollte dieser doch ruhig bald eine Mahnung erhalten und sich schwarz ärgern, das gönnte er ihm und dessen Frau, dieser überheblichen Kuh von ganzem Herzen.
Leider aber brachte diese Form der Rache noch nicht die richtige Genugtuung, denn auf diese Art würde Richard ja nicht unmittelbar teilhaftig werden an dem Ärger, den der Nachbar und seine Frau mit dem Aussteller der Rechnung hätten, wenn sie denn überhaupt welchen bekämen und die ganze Angelegenheit nicht durch eine Entschuldigung der Krankenhausbuchhaltung sowie Neuausstellung der Rechnung aus der Welt geschafft würde.
Nein, sagte sich Richard Reumer, wenn schon Rache, dann richtig, und er hielt eine härtere Gangart durchaus für angebracht; da er nun schon einmal über Unterlagen verfügte, welche die Beschaffenheit des körperlichen Innenlebens seines Intimfeindes widerspiegelten, warum sollte man diese nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen, damit alle Welt erführe, wie es um diesen bösen Menschen im Innern bestellt sei. An die Presse konnte er allerdings nicht herantreten, dessen war er sich bewusst, doch es gab sicher andere Wege, und bald schon stand ihm ein solcher glasklar vor Augen.

Richard schritt zur Tat.
Er fertigte ein paar Dutzend Kopien von der Arztrechnung und verteilte diese in einer nächtlichen Aktion anonym in der ganzen kleinen Seitenstraße, sodass die erstaunten Nachbarn am nächsten Morgen, als sie ihre Briefkästen öffneten, einen kompletten Einblick in die Eingeweide des allseits bekannten Herrn Joseph Knöpel erhielten.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, in der gesamten Nachbarschaft, und da der seit Jahren offen ausgetragene Streit zwischen den Ehepaaren Reumer und Knöpel allen bekannt war, fehlte es nicht an Mutmaßungen, wer wohl der oder die Veranlasser dieser anonymen Post sein könnte, doch es fehlten halt die Beweise.
Merkwürdig fand man es auch, dass sich an diesem Tag niemand von den Eheleuten Beumer draußen blicken ließ, während man für das Fehlen der Knöpels, die sich offensichtlich schämten, Verständnis hatte. An diesem Abend wurden die Lichter erst spät gelöscht, in der kleinen Straße; zu sehr beschäftigte das Thema die Leute, und nicht wenige schauten spätabends noch in ihre Briefkästen, ob sich nicht erneut eine Überraschung darin befände. Diese Überraschung erlebten die Anwohner dann in der Tat am nächsten Tag, aber nicht in den Briefkästen.

Als sie am nächsten Morgen aus ihren Häusern traten, trauten sie ihren Augen nicht. An allen Bäumen, welche die Straße säumten, waren Flugblätter angebracht, die sich beim näheren Hinsehen ebenfalls als Kopien einer Arztrechnung herausstellten.
Dieses Mal handelte es sich jedoch um eine Arztrechnung über gynäkologische Leistungen für Frau Reumer, welche diese noch nicht so schnell erwartet hatte, da die Behandlung erst einige Tage zurücklag, die aber offensichtlich aus Versehen bei jemand anderem eingegangen war, der nichts eiligeres zu tun hatte, als die sie auf diesem Wege publik zu machen.
Ausgestellt war auch diese Rechnung wiederum von dem gleichen Krankenhaus wie zuvor; offenbar war dort in der Buchhaltung ein mittleres Chaos ausgebrochen.
Diese zweite öffentliche Arztrechnung enthielt ähnlich enthüllende intime Details wie der erste Irrläufer, diesmal über das Innenleben von Frau Reumer.
Die gesamte Nachbarschaft zeigte sich entrüstet, nach außen hin; hinter verschlossenen Türen jedoch lachte man sich halbtot darüber, dass innerhalb von zwei Tagen intimste Kenntnisse über zwei Mitglieder verkrachter Familien auf eine Weise öffentlich bekannt geworden waren, wie man es seinem ärgsten Feind nicht wünschte.
Da man natürlich ahnte, dass hinter der zweiten Nacht- und Nebelaktion niemand anders als einer von den Knöpels oder gar beide stecken konnten, die auf eben die gleiche Weise in den Besitz der nicht für sie bestimmten Arztrechnung gelangt waren, wartete man nun voller Spannung ab, wie es weiter ginge.
Schon wurden Wetten abgeschlossen, ob es zu einem Duell mit Feuerwaffen käme, mitten auf der Straße, zu high noon oder zu high midnight, zwischen den Herren Reumer und Knöpel, oder ob sich die beiden besseren Hälften einen Kampf mit ihren Bügeleisen lieferten, an ihrer Grundstücksgrenze, doch nichts dergleichen tat sich und alles blieb erstaunlicherweise ruhig.

Sie musste lange warten, die liebe Nachbarschaft, denn erst eine Woche später zeigte sich eine Reaktion, allerdings eine, mit der niemand gerechnet hätte.
Die Türen der beiden verfeindeten Reihenhäuser öffneten sich, und heraus traten die zerstrittenen Ehepaare, die Frauen jeweils mit Koffern und anderen Utensilien, wie für einen bevorstehenden Umzug gerüstet.
Dieser Umzug gestaltete sich als wenig aufwendig; die Männer nahmen jeweils die Koffer sowie die restlichen Sachen ihrer Nachbarinnen in Empfang und trugen diese über ihre Schwellen, während sie bei den Damen aus Altersgründen darauf verzichteten und diese stattdessen nur über die Schwellen in ihre neuen Domizile geleiteten.
Die gesamte Nachbarschaft staunte nicht schlecht, als auf diese Weise Frau Reumer bei Herrn Knöpel und Frau Knöpel bei Herrn Reumer Quartier bezog, doch die neu formierten Paare hatten hierfür eine für sie eindeutige, für die Allgemeinheit noch etwas kryptische Erklärung bereit: aufgrund eines genauen Studiums der beiden öffentlich bekannt gewordenen Arztrechnungen hätte sich ihnen ein Detail aufgetan, welches sie sie zu der Überzeugung gelangen ließ, dass ein Partnertausch nicht nur angebracht, sondern sogar zwingend notwendig geworden sei.
Die Nachbarn zeigten sich perplex, doch anhand des Details, dass sich alsbald in Form der Schwangerschaft von Frau Reumer zeigte, gewöhnten sie sich schnell an den neuen Zustand; darüber hinaus, so freuten sie sich, blieben ihnen doch die altbekannten Gesichter erhalten, und wohnten diese nun eine Tür weiter rechts oder links, was spielte das für eine Rolle.
Die neuen Partnerschaften traten nach nicht allzu langer Zeit gemeinsam vor den Traualtar, um eine Doppelhochzeit zu feiern; von nun an hieß die ehemalige Frau Reumer ‚Knöpel-Reumer’, während sich Frau Knöpel den Namen ‚Reumer-Knöpel’ zulegte, und es entstand eine derartige Freundschaft zwischen den vier ehemals bis auf’s Blut verfeindeten Personen, welche die Männer sogar veranlasste, den dicken trennenden Zaun zwischen den Grundstücken niederzureißen.
Darüber hinaus hatten alle vier jetzt zusammen ein abendfüllendes Hobby gefunden , welches die Freuden der Freundschaft noch steigerte; gemeinsam prüften sie ab jetzt all ihre Arztrechnungen auf Herz und Nieren, und in der Straße ging bald das Gerücht um, sie würden sich in Kürze selbständig machen und irgendetwas eröffnen, als Heilpraktiker.
 



 
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