Die Enten

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HS

Mitglied
Die Enten


Sie saß in ihrem kleinen Zimmer. Sie brauchte ja nicht viel. Ein Bett, einen Schreibtisch, von dem sie auch manchmal aß und einen kleinen Kleiderschrank, der eigentlich immer noch zu groß war. Sie lebte allein mit ihrer Mutter und die kümmerte sich darum, dass für alles, was nötig war, gesorgt war. Sie teilten sich auch das Bad und die kleine Küche, von der man einen schönen Blick auf den Fluss hatte. Sie hätte gern öfter am Esstisch gesessen und das Fließen des Wassers beobachtet. Die Enten, die sich manchmal blicken ließen. Sie stellte sich vor, dass sie auch eine Ente sei und davon schwimmen konnte…
Aber ihre Mutter saß meistens am Esstisch.
Sie hielt die Dose mit den Tabletten in der Hand. Sie kontrollierte zum bestimmt tausendsten Mal das Haltbarkeitsdatum. Sie hatte die Dose schon seit über einem Jahr und immer noch nicht geöffnet. Sie wollte das aber noch vor dem Ablaufen der Tabletten erledigen. In dieser Hinsicht war sie sehr pflichtbewusst. Eigentlich in jeder Hinsicht. Schließlich war sie so von ihrer Mutter erzogen worden. Nicht unnötig Geld ausgeben. Dafür würde sie sorgen, auch wenn sie noch nicht wusste, wer die Tabletten nehmen würde.
Sie hatte noch zwei Monate Zeit.
Sie träumte schon ihr ganzes Leben von schönen Kleidern, mal mit Freunden zu feiern oder einfach mal in Urlaub zu fahren. Aber sie brauchte ja nicht viel. Ihre Mutter und sie waren sich einig, dass man sich auf andere Leute, die sich Freunde nannten, nicht verlassen konnte. Und wer so viel Geld für teure Kleider ausgab, sollte sich mal die Probleme in der Welt ansehen, sagte ihre Mutter. Es gab Hunger und Krieg. Deswegen spendeten ihre Mutter und sie einen großen Teil ihres Geldes. Sie brauchten ja selber nicht viel. Hauptsache, man hatte ein Dach über dem Kopf, etwas zum Anziehen und zu Essen. Aber natürlich in Maßen. Alles andere war Verschwendung.
Sie schaute runter auf ihre Hände. Kurze Nägel. Man wollte ja nicht wie eines dieser Flittchen aussehen, die im Büro arbeiten. Mit bunten Nägeln… Ihre Haut war auch nicht mehr jung. Schließlich war sie schon sechsunddreißig. Und wem sollte sie schon groß gefallen wollen? Einem Mann etwa? Mit denen hatte ihre Mutter schon genug schlechte Erfahrungen gemacht. Das blieb ihr dank der Fürsorge ihrer Mutter erspart. Des Ärgers waren die Männer nicht wert, sagte ihre Mutter.
Sie dachte wieder an die Enten. Einfach wegschwimmen.
Aber sie konnte ihre Mutter nicht so einfach im Stich lassen. Einfach wegrennen wie ein unverantwortliches Kind.
Aber hier bleiben? Das hielt sie nicht mehr aus. Nein. Kein kleines Zimmer mehr. Keine Küche, in der man wegen der eigenen Mutter nicht sitzen kann. Keine Einsamkeit mehr. Keine Schuldgefühle, wenn man mal den Drang nach Leben und anderen Menschen verspürte.
Aber weggehen konnte sie nicht. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, was Schuldgefühle waren. Und die würden sie einholen.
Frei sein.
Sie oder ich.
Sie drehte die Dose in ihren Händen. Für wen sollte sie die schon vor so langer Zeit gekauft haben? Selbst damals im Geschäft hatte sie noch nicht gewusst, wer sie nehmen würde. Nehmen müsste. Die Apothekerin hatte sie gewarnt, dass es schwere Tabletten seien und sie sie vor Kindern verstecken sollte. War sie nicht selber noch ein Kind?
Einfach wegschwimmen.
Damals in der Schule hatte sie natürlich Freunde gehabt. Nicht viele. Aber sie brauchte ja auch nicht viel. Doch nach der Schule waren ihre Freunde in eine andere Stadt gezogen, um Karriere zu machen. Oder hatten andere gefunden. Mit denen es leichter war. Denn wer will schon eine Freundin, mit der man sich nachmittags nicht treffen konnte, weil die Mutter das nicht gerne sah? Aber solche Leute, die einen nicht so akzeptierten, wie man war, brauchte man eh nicht, sagte ihre Mutter. Dafür gab es ja die Familie, die zusammenhielt.
Sie oder ich.
Sie nahm die Dose und steckte sie in die Tasche ihrer weiten Jacke. Sie zog die Jacke an und ging in die Küche. Sie sagte ihrer Mutter, dass sie spazieren ginge. Ihre Mutter sah sie kurz an, nickte und sagte etwas. Sie hörte schon lange nicht mehr hin.
Draußen vor der Haustür sah sie rüber zum Fluss. Sie öffnete die kleine, mächtige Dose und nahm die Tabletten. Alle auf einmal. Sie quälte die großen Dinger ihren Hals herunter, würgte. Dennoch verspürte sie Glück und Erleichterung. Entscheidung gefällt.
Nur noch ein paar Minuten.
Sie blickte wieder zum Fluss hinüber. Der Strom des Wassers würde sie weit mit sich ziehen. Sie ging zu der Stelle am Fluss, die man von der Küche aus sehen konnte. Sie blickte sich kurz um und sah ihre Mutter am Tisch sitzen und irgendwo hinstarren. Aber nicht zu ihr. Sie hatte sie noch nie angesehen. Warum auch?
Sie sprang und spürte kurz darauf das kühle, freie Nass.
 

Retep

Mitglied
Die Geschichte berührt mich, ich kann Emotionen der Protagonistin nachempfinden.

Sie möchte wegschwimmen, wäre "wegfliegen" nicht besser? Dann könntest du dich aber nicht auf Enten beziehen.

Sie blickte sich kurz um und sah ihre Mutter am Tisch sitzen und irgendwo hinstarren. Aber nicht zu ihr. Sie hatte sie noch nie angesehen. Warum auch?
Diese Sätze finde ich sehr gelungen.

Könnte man den letzten Satz weglassen?


Zunächst dachte ich,die Tabletten seien für die Mutter bestimmt, aber deine Lösung halte ich für besser, auch einleuchtender, da die Protagonistin sich nach allem richtet, was ihre Mutter sagt.

Gruß

Retep
 

MarenS

Mitglied
Gut erzählt, gut nachvollziehbar. Erziehung prägt und schwimmt man sich nicht frei...
Sehr schön die immer wieder kehrende Leier: Man braucht ja nicht viel. Da wird ein guter Grundgedanke zum Zwanghaften.

Ich denke, man könnte den letzten Satz kürzen: Sie sprang.

Grüße von Maren
 

Clara

Mitglied
eine schlichte und ergreifende Geschichte - deutlich in ihrer Vorstellbarkeit.
Nicht wirklich spürend aber auch, wie sie leidet an den Schuldgefühlen -

etwas unglücklich dieser Satz:
Ein Bett, einen Schreibtisch, von dem sie auch manchmal aß

sie ass nicht vom Bett - sie sass auf dem Bett um zu essen

Dann ein grosser Logikfehler - sie konnte die Geschichte nicht schreiben, denn sprang ja wie eine ente ins Wasser, vergiftet.
Der Erzähler muss also ein anderer sein, kein ICH
und es ist nah am ICH.
 

Retep

Mitglied
Ja, wenn es eine Erzählung in Ich-Form wäre, wäre es ein logischer Fehler.

Allerdings sollte ein Satz besser raus "Sie oder ich".

Gruß Retep
 

HS

Mitglied
Die Enten


Sie saß in ihrem kleinen Zimmer. Sie brauchte ja nicht viel. Ein Bett, einen Schreibtisch, an dem sie auch manchmal aß, und einen kleinen Kleiderschrank, der eigentlich immer noch zu groß war. Sie lebte allein mit ihrer Mutter und die kümmerte sich darum, dass für alles, was nötig war, gesorgt war. Sie teilten sich auch das Bad und die kleine Küche, von der man einen schönen Blick auf den Fluss hatte. Sie hätte gern öfter am Esstisch gesessen und das Fließen des Wassers beobachtet. Die Enten, die sich manchmal blicken ließen. Sie stellte sich vor, dass sie auch eine Ente sei und davon schwimmen konnte…
Aber ihre Mutter saß meistens am Esstisch.
Sie hielt die Dose mit den Tabletten in der Hand. Sie kontrollierte zum bestimmt tausendsten Mal das Haltbarkeitsdatum. Sie hatte die Dose schon seit über einem Jahr und immer noch nicht geöffnet. Sie wollte das aber noch vor dem Ablaufen der Tabletten erledigen. In dieser Hinsicht war sie sehr pflichtbewusst. Eigentlich in jeder Hinsicht. Schließlich war sie so von ihrer Mutter erzogen worden. Nicht unnötig Geld ausgeben. Dafür würde sie sorgen, auch wenn sie noch nicht wusste, wer die Tabletten nehmen würde.
Sie hatte noch zwei Monate Zeit.
Sie träumte schon ihr ganzes Leben von schönen Kleidern, mal mit Freunden zu feiern oder einfach mal in Urlaub zu fahren. Aber sie brauchte ja nicht viel. Ihre Mutter und sie waren sich einig, dass man sich auf andere Leute, die sich Freunde nannten, nicht verlassen konnte. Und wer so viel Geld für teure Kleider ausgab, sollte sich mal die Probleme in der Welt ansehen, sagte ihre Mutter. Es gab Hunger und Krieg. Deswegen spendeten ihre Mutter und sie einen großen Teil ihres Geldes. Sie brauchten ja selber nicht viel. Hauptsache, man hatte ein Dach über dem Kopf, etwas zum Anziehen und zu Essen. Aber natürlich in Maßen. Alles andere war Verschwendung.
Sie schaute runter auf ihre Hände. Kurze Nägel. Man wollte ja nicht wie eines dieser Flittchen aussehen, die im Büro arbeiten. Mit bunten Nägeln… Ihre Haut war auch nicht mehr jung. Schließlich war sie schon sechsunddreißig. Und wem sollte sie schon groß gefallen wollen? Einem Mann etwa? Mit denen hatte ihre Mutter schon genug schlechte Erfahrungen gemacht. Das blieb ihr dank der Fürsorge ihrer Mutter erspart. Des Ärgers waren die Männer nicht wert, sagte ihre Mutter.
Sie dachte wieder an die Enten. Einfach wegschwimmen.
Aber sie konnte ihre Mutter nicht so einfach im Stich lassen. Einfach wegrennen wie ein unverantwortliches Kind.
Aber hier bleiben? Das hielt sie nicht mehr aus. Nein. Kein kleines Zimmer mehr. Keine Küche, in der man wegen der eigenen Mutter nicht sitzen kann. Keine Einsamkeit mehr. Keine Schuldgefühle, wenn man mal den Drang nach Leben und anderen Menschen verspürte.
Aber weggehen konnte sie nicht. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, was Schuldgefühle waren. Und die würden sie einholen.
Frei sein.
Sie oder ich.
Sie drehte die Dose in ihren Händen. Für wen sollte sie die schon vor so langer Zeit gekauft haben? Selbst damals im Geschäft hatte sie noch nicht gewusst, wer sie nehmen würde. Nehmen müsste. Die Apothekerin hatte sie gewarnt, dass es schwere Tabletten seien und sie sie vor Kindern verstecken sollte. War sie nicht selber noch ein Kind?
Einfach wegschwimmen.
Damals in der Schule hatte sie natürlich Freunde gehabt. Nicht viele. Aber sie brauchte ja auch nicht viel. Doch nach der Schule waren ihre Freunde in eine andere Stadt gezogen, um Karriere zu machen. Oder hatten andere gefunden. Mit denen es leichter war. Denn wer will schon eine Freundin, mit der man sich nachmittags nicht treffen konnte, weil die Mutter das nicht gerne sah? Aber solche Leute, die einen nicht so akzeptierten, wie man war, brauchte man eh nicht, sagte ihre Mutter. Dafür gab es ja die Familie, die zusammenhielt.
Sie oder ich.
Sie nahm die Dose und steckte sie in die Tasche ihrer weiten Jacke. Sie zog die Jacke an und ging in die Küche. Sie sagte ihrer Mutter, dass sie spazieren ginge. Ihre Mutter sah sie kurz an, nickte und sagte etwas. Sie hörte schon lange nicht mehr hin.
Draußen vor der Haustür sah sie rüber zum Fluss. Sie öffnete die kleine, mächtige Dose und nahm die Tabletten. Alle auf einmal. Sie quälte die großen Dinger ihren Hals herunter, würgte. Dennoch verspürte sie Glück und Erleichterung. Entscheidung gefällt.
Nur noch ein paar Minuten.
Sie blickte wieder zum Fluss hinüber. Der Strom des Wassers würde sie weit mit sich ziehen. Sie ging zu der Stelle am Fluss, die man von der Küche aus sehen konnte. Sie blickte sich kurz um und sah ihre Mutter am Tisch sitzen und irgendwo hinstarren. Aber nicht zu ihr. Sie hatte sie noch nie angesehen.
Sie sprang und spürte kurz darauf das kühle, freie Nass.
 

HS

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Hallo!

Danke für die Meinungen und Verbesserungsvorschläge! Habe jetzt zwei Kleinigkeiten geändert:

1. "Ein Bett, einen Schreibtisch, an dem sie auch manchmal aß, und...": Vorher war es wohl etwas missverständlich. Sie sitzt am Schreibtisch und isst. Ich glaube nicht, dass sie der Typ ist, der auf dem Bett sitzt und isst. Das hatte ich auch nicht gemeint.

2. "Warum auch?": Diesen Satz hab ich gestrichen. Stimmt, irgendwie passt er nicht so. Danke!

Die anderen Kritikpunkte/Vorschläge fand ich nicht so sinnvoll oder gravierend. Ich denke, dass das auch Fragen von Geschmack sind... Besonders beim Schluss wollte ich eigentlich kein simples "Sie sprang" haben, sondern wirklich ihre Erleichterung und Freude andeuten, die sie empfindet, wenn sie das Wasser spürt.

Wegen dem "Logik-Fehler": Da ich ja nicht in der Ich-Form geschrieben habe, ist es (wie retep ja schon geschrieben hat) kein Logik-Fehler. Aber ich finde eigentlich, dass es auch egal wäre, wenn es eine Ich-Erzählerin wäre! Gut, sie ist dann tot, aber es ist ja auch eine Kurzgeschichte, keine wahrheitsgetreue Erzählung! Es geht nicht darum, ob etwas realistisch oder wirklich passiert sein könnte, sondern um eine fiktive Geschichte. Meiner Meinung nach ist es dann egal, ob der Protagonist, der seine Geschichte erzählt, schon tot ist...

Naja, auf jeden Fall danke für Eure Anregungen! Hab mich sehr gefreut, ein paar Kommentare auf meine Geschichte bekommen zu haben :)

Viele Grüße!
 



 
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