Die Frau in der Kirche

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Die Frau in der Kirche

Den Kopf gesenkt, den Rücken kerzengerade, die Arme im Schoß gekreuzt, sitzt sie da. Das übergroße mit abstrakten Blumen verzierte Kopftuch am Hinterkopf über ein Nest aus Haaren gespannt, flattert im Durchzug dort, wo man den Hals vermuten würde. Das Gesicht der Frau ist unter dem dicht gewebten Stoff verborgen, im Profil lugt nur die Nasenspitze hervor. Abgesehen von den sanften Bewegungen des Tuches ist sie völlig reglos. Atemlos. Betrachtet man sie länger, drängt sich der Wunsch auf, ihr die Hand auf die Schulter zu legen, um sich von ihrer Echtheit zu überzeugen. Der Küster geht zum wiederholten Male vorbei, bleibt kurz stehen, betrachtet die Frau in der dritten Bankreihe, neigt den Kopf und schleicht in die Sakristei zurück.

Jahrhunderte alter Duft nach Glauben und Weihrauch dampft aus den Mauern und trübt die Sinne. Wie lange wird sie hier noch sitzen? Versteinert. Woher sie kam und wieso sie hier ist, weiß niemand. Auf der Straße tuscheln die Frauen bereits. Wie alt mag sie sein? Jung gealtert oder jung geblieben, zwischen 40 und 60. Schätzt man. Etwas Derartiges ist im Dorf noch nicht vorgekommen: Fremde Frauen, die aus dem Nichts erscheinen und dann in der Kirchenbank festbacken. Reich soll sie sein, behaupten die Einen; bettelarm sei sie, versichern die Anderen. Bisher aber wagte niemand sie anzusprechen.

Die Dorfälteste weiß Bescheid. Den Blick tief in die Vergangenheit gebohrt ordnet sie ihre Erinnerungen. Das ist ganz bestimmt einer dieser Nachkriegsbastarde. Davon gäbe es zuhauf; nach dem Krieg schossen sie wie Schneeglöckchen aus dem Boden und ebenso plötzlich verschwanden sie wieder. Hier haben wir es mit einer Nachzüglerin zu tun, eine Erbschleicherin ganz bestimmt. Vielleicht die Tochter des alten Gioseppe, der letzten Monat gestorben ist. In Kriegsgefangenschaft war er, drei Jahre lang und danach noch drei Jahre verschollen. Über diese drei Jahre verlor er kein Wort aber sie boten Zeit genug, sich ein paar Nachkommen zu schaffen. Mit einem Ausdruck im Gesicht, der übergangslos zwischen Abscheu und Zuneigung wechselt, bestätigt sie sich selbst ihre eigene Geschichte; ja Frauen hatte der alte Gioseppe. Unzählige. Was da jetzt in der Kirche sitzt ist sicherlich die Folge einer seiner Liebschaften. Und jetzt, da ihr Vater verstorben ist, sitzt sie da und überlegt wie sie sich sein Erbe schnappen kann.

Tatsächlich brachten einige Männer mehr als Wunden und Traumata aus dem Krieg mit nach Hause, aber selbst wenn die Geschichte wahr ist, erklärt sie doch nicht, warum die Frau tagelang in der Kirche ausharrt. In der Zwischenzeit haben sich fast alle von der Anwesenheit der Frau überzeugt, die dort in der dritten Bankreihe sitzt und ... Nichts! Die einfach dasitzt. Keine echte Sensation und doch ist das ganze Dorf wie besessen. Bei denen, die nicht von der Sensationslust befallen sind, liegen die Nerven blank. Jeden Morgen am Frühstückstisch das immer gleiche zermürbende Geplapper: Wo kommt sie her? Was macht sie hier? Wer ist sie? Wird sie bleiben? Sinnlose Fragen, auf die niemand eine Antwort weiß und auf die auch keine Antwort verlangt wird. Selten wurden im Dorf so viele Augenbrauen bewegt wie dieser Tage.
„Als stochere man in einem Ameisenhaufen“, tönt der Bäcker.
Diese Ansicht trifft, vor allem unter den Männern, auf breite Zustimmung. Und doch wird die Stimmung nicht richtig heiter, denn Mitte der Woche wird allen klar, Sonntagmorgen werden sie zum Gottesdienst antreten. Denn welch bessere Gelegenheit könnte es geben, die Frau unter die Lupe zu nehmen, und das über eine Stunde lang? Die Einen brummeln, während die Anderen bereits die guten Schuhe putzen. Der heilige Sonntagmorgen, bedroht von einer fremden Macht, die das ganze Dorf vibrieren lässt. Unbeeindruckt erscheint allein der Küster, ob er etwas weiß? Schließlich ist er jeden Tag in der Kirche. Aber er schweigt. Warum erzählt er niemandem etwas? Er muss etwas wissen. Der Bäcker bringt es auf den Punkt: „Jetzt sag schon wer ist die Alte?“. Die Antwort des Küsters beschränkt sich auf ein Stirnrunzeln gefolgt von einem geringschätzenden Kopfschütteln.

Am Samstag ist der Ameisenhaufen in Hochform, die Arbeiterinnen säubern den Bau, fegen Laub, beschaffen Nahrung; die Männchen mähen den Rasen, schneiden Büsche, befestigen das Nest. Geschäftigkeit wälzt sich durch das Dorf und reißt alle mit. Die Vorgärten werden bearbeitet, die Rinnsteine gesäubert, ja sogar die verwaisten Trottoirs, an die lange keine Grundstücke mehr grenzen, bleiben nicht verschont. Gartenzäune, von unzähligen Ellenbogen blankgeputzt, biegen sich unter dem Geschwätz. Die Bäckerei kristallisiert zum Informationsknotenpunkt, um neun Uhr ist das Brot alle. Nichts mehr da, beteuert der Bäcker und freut sich doch. Im nächsten Augenblick ist er überrascht, weil er gar nicht weiß, was er mit so viel Samstag anstellen soll.

Dann, nach einem unvorhergesehen langen Samstagnachmittag, ist er endlich da, der Sonntagmorgen. Die Luft ist noch dunstig aber das Dorf längst wach. Gute zwanzig Minuten bevor der Sonntagsgottesdienst beginnt, ist die Kirche voll besetzt. So viele Besucher hat es Jahre nicht gegeben. Die Dorffrauen sind geschlossen anwesend, mit Kind und weitestgehend auch mit Mann. Der Küster entzündet die Kerzen am Altar, streicht die Tücher glatt und zupft ein paar Welke Blätter aus den Blumen. Anschließend setzt er sich, wie jeden Sonntag, auf die Bank hinten links im Altarraum und blickt hinunter ins Kirchenschiff. Nicht wie jeden Sonntag. Dieses Mal blickt er nicht sofort wieder auf seine Füße sondern lässt seinen Blick zufrieden über die vollbesetzten Kirchenbänke schweifen. Von hinten nach vorne. Bei Reihe drei angekommen hält er einen Moment inne: Über seine Mundwinkel schwebt ein zufriedenes Lächeln. Er entfaltet das Heftchen mit der heutigen Liturgie.

Dann läuten die Glocken.
 

herziblatti

Mitglied
Hallo DasKatastrophenprinzip, schöne Pater Braun-Geschichte :)
Am Samstag ist der Ameisenhaufen in Hochform, die Arbeiterinnen säubern den Bau, fegen Laub, beschaffen Nahrung; die Männchen mähen den Rasen, schneiden Büsche, befestigen das Nest. Geschäftigkeit wälzt sich durch das Dorf und reißt alle mit. Die Vorgärten werden bearbeitet, die Rinnsteine gesäubert, ja sogar die verwaisten Trottoirs, an die lange keine Grundstücke mehr grenzen, bleiben nicht verschont. Gartenzäune, von unzähligen Ellenbogen blankgeputzt, biegen sich unter dem Geschwätz. Die Bäckerei kristallisiert zum Informationsknotenpunkt, um neun Uhr ist das Brot alle. Nichts mehr da, beteuert der Bäcker und freut sich doch. Im nächsten Augenblick ist er überrascht, weil er gar nicht weiß, was er mit so viel Samstag anstellen soll.
das ist die Lieblingspassage in meinem Kopfkino, in Slow Motion, zum Genussverweilen.
Was für mich unklar ist, obwohl ich den Text mehrfach daraufhin abgeklopft habe: die bekopftuchte Nasenspitze, sitzt sie während der ganzen Woche (von - bis) in der dritten Reihe oder nicht, ist die Kirche wochentags offen oder zugesperrt, und, sitzt sie am Sonntag auch da? Andeutungen vielleicht, hm? LG - herziblatti
 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo Katastrophenprinzip,

spannend bis zum Schluss. Fantastische Idee des Küsters. Ein voller Erfolg, denn er erreichte, was er wollte.
Oder irre ich mich?

Liebe Grüße
HelenaSofie
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Spannenende Geschichte! Ich vermute auch den Küster hinter der "Kiste"...

Schöne Sätze sind diese:

Gartenzäune, von unzähligen Ellenbogen blankgeputzt, biegen sich unter dem Geschwätz. Die Bäckerei kristallisiert zum Informationsknotenpunkt, um neun Uhr ist das Brot alle. Nichts mehr da, beteuert der Bäcker und freut sich doch. Im nächsten Augenblick ist er überrascht, weil er gar nicht weiß, was er mit so viel Samstag anstellen soll.

Sonst: frage ich mich, warum z.B. "welke Blätter" als "Welke Blätter" geschrieben und Kommas gelegentlich ein wenig sparsam verwendet werden.

P.
 
Die Frau in der Kirche

Den Kopf gesenkt, den Rücken kerzengerade, die Arme im Schoß gekreuzt, sitzt sie da. Das übergroße mit abstrakten Blumen verzierte Kopftuch am Hinterkopf über ein Nest aus Haaren gespannt, flattert im Durchzug dort, wo man den Hals vermuten würde. Das Gesicht der Frau ist unter dem dicht gewebten Stoff verborgen, im Profil lugt nur die Nasenspitze hervor. Abgesehen von den sanften Bewegungen des Tuches ist sie völlig reglos. Atemlos. Betrachtet man sie länger, drängt sich der Wunsch auf, ihr die Hand auf die Schulter zu legen, um sich von ihrer Echtheit zu überzeugen. Der Küster geht zum wiederholten Male vorbei, bleibt kurz stehen, betrachtet die Frau in der dritten Bankreihe, neigt den Kopf und schleicht in die Sakristei zurück.

Jahrhunderte alter Duft nach Glauben und Weihrauch dampft aus den Mauern und trübt die Sinne. Wie lange wird sie hier noch sitzen? Versteinert. Woher sie kam und wieso sie hier ist, weiß niemand. Auf der Straße tuscheln die Frauen bereits. Wie alt mag sie sein? Jung gealtert oder jung geblieben, zwischen 40 und 60. Schätzt man. Etwas Derartiges ist im Dorf noch nicht vorgekommen: Fremde Frauen, die aus dem Nichts erscheinen und dann in der Kirchenbank festbacken. Reich soll sie sein, behaupten die Einen; bettelarm sei sie, versichern die Anderen. Bisher aber wagte niemand sie anzusprechen.

Die Dorfälteste weiß Bescheid. Den Blick tief in die Vergangenheit gebohrt ordnet sie ihre Erinnerungen. Das ist ganz bestimmt einer dieser Nachkriegsbastarde. Davon gäbe es zuhauf; nach dem Krieg schossen sie wie Schneeglöckchen aus dem Boden und ebenso plötzlich verschwanden sie wieder. Hier haben wir es mit einer Nachzüglerin zu tun, eine Erbschleicherin ganz bestimmt. Vielleicht die Tochter des alten Gioseppe, der letzten Monat gestorben ist. In Kriegsgefangenschaft war er, drei Jahre lang und danach noch drei Jahre verschollen. Über diese drei Jahre verlor er kein Wort aber sie boten Zeit genug, sich ein paar Nachkommen zu schaffen. Mit einem Ausdruck im Gesicht, der übergangslos zwischen Abscheu und Zuneigung wechselt, bestätigt sie sich selbst ihre eigene Geschichte; ja Frauen hatte der alte Gioseppe. Unzählige. Was da jetzt in der Kirche sitzt ist sicherlich die Folge einer seiner Liebschaften. Und jetzt, da ihr Vater verstorben ist, sitzt sie da und überlegt wie sie sich sein Erbe schnappen kann.

Tatsächlich brachten einige Männer mehr als Wunden und Traumata aus dem Krieg mit nach Hause, aber selbst wenn die Geschichte wahr ist, erklärt sie doch nicht, warum die Frau tagelang in der Kirche ausharrt. In der Zwischenzeit haben sich fast alle von der Anwesenheit der Frau überzeugt, die dort in der dritten Bankreihe sitzt und ... Nichts! Die einfach dasitzt. Keine echte Sensation und doch ist das ganze Dorf wie besessen. Bei denen, die nicht von der Sensationslust befallen sind, liegen die Nerven blank. Jeden Morgen am Frühstückstisch das immer gleiche zermürbende Geplapper: Wo kommt sie her? Was macht sie hier? Wer ist sie? Wird sie bleiben? Sinnlose Fragen, auf die niemand eine Antwort weiß und auf die auch keine Antwort verlangt wird. Selten wurden im Dorf so viele Augenbrauen bewegt wie dieser Tage.
„Als stochere man in einem Ameisenhaufen“, tönt der Bäcker.
Diese Ansicht trifft, vor allem unter den Männern, auf breite Zustimmung. Und doch wird die Stimmung nicht richtig heiter, denn Mitte der Woche wird allen klar, Sonntagmorgen werden sie zum Gottesdienst antreten. Denn welch bessere Gelegenheit könnte es geben, die Frau unter die Lupe zu nehmen, und das über eine Stunde lang? Die Einen brummeln, während die Anderen bereits die guten Schuhe putzen. Der heilige Sonntagmorgen, bedroht von einer fremden Macht, die das ganze Dorf vibrieren lässt. Unbeeindruckt erscheint allein der Küster, ob er etwas weiß? Schließlich ist er jeden Tag in der Kirche. Aber er schweigt. Warum erzählt er niemandem etwas? Er muss etwas wissen. Der Bäcker bringt es auf den Punkt: „Jetzt sag schon wer ist die Alte?“. Die Antwort des Küsters beschränkt sich auf ein Stirnrunzeln gefolgt von einem geringschätzenden Kopfschütteln.

Am Samstag ist der Ameisenhaufen in Hochform, die Arbeiterinnen säubern den Bau, fegen Laub, beschaffen Nahrung; die Männchen mähen den Rasen, schneiden Büsche, befestigen das Nest. Geschäftigkeit wälzt sich durch das Dorf und reißt alle mit. Die Vorgärten werden bearbeitet, die Rinnsteine gesäubert, ja sogar die verwaisten Trottoirs, an die lange keine Grundstücke mehr grenzen, bleiben nicht verschont. Gartenzäune, von unzähligen Ellenbogen blankgeputzt, biegen sich unter dem Geschwätz. Die Bäckerei kristallisiert zum Informationsknotenpunkt, um neun Uhr ist das Brot alle. Nichts mehr da, beteuert der Bäcker und freut sich doch. Im nächsten Augenblick ist er überrascht, weil er gar nicht weiß, was er mit so viel Samstag anstellen soll.

Dann, nach einem unvorhergesehen langen Samstagnachmittag, ist er endlich da, der Sonntagmorgen. Die Luft ist noch dunstig aber das Dorf längst wach. Gute zwanzig Minuten bevor der Sonntagsgottesdienst beginnt, ist die Kirche voll besetzt. So viele Besucher hat es Jahre nicht gegeben. Die Dorffrauen sind geschlossen anwesend, mit Kind und weitestgehend auch mit Mann. Der Küster entzündet die Kerzen am Altar, streicht die Tücher glatt und zupft ein paar welke Blätter aus den Blumen. Anschließend setzt er sich, wie jeden Sonntag, auf die Bank hinten links im Altarraum und blickt hinunter ins Kirchenschiff. Nicht wie jeden Sonntag. Dieses Mal blickt er nicht sofort wieder auf seine Füße sondern lässt seinen Blick zufrieden über die vollbesetzten Kirchenbänke schweifen. Von hinten nach vorne. Bei Reihe drei angekommen hält er einen Moment inne: Über seine Mundwinkel schwebt ein zufriedenes Lächeln. Er entfaltet das Heftchen mit der heutigen Liturgie.

Dann läuten die Glocken.
 
Hallo an alle,

freut mich, dass es euch gefallen hat.

Es stimmt, der Küster hat es inszeniert, wahrscheinlich weil er die leeren Kirchenbänke nicht mehr ertragen konnte.
Unklar bleibt, auch für mich, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob es sich um eine echte Frau oder eine Schaufensterpuppe handelt. Daher gibt es diesbezüglich auch keine Andeutungen, weil ich es schlicht nicht weiß. Zudem ist mir noch nicht eingefallen, wie ich gelungen einstreuen könnte, dass die Frau tagsüber in der Kirche sitzt und abends nicht aber auch nicht in einem Hotel o.ä. absteigt (da sie ja vom Küster engagiert ist, in welcher Forma auch immer), was die ganze Situation meines Erachtens ändern würde.

Die Welkten Blätter waren allerdings keine Absicht, hab ich auch geändert. Was die Kommas angeht, sehe ich mir den Text nochmal in Ruhe durch, als Anfängerin bin ich aber für jeden Hinweis dankbar. Auch sonstige strukturelle Schwächen gerne markieren; ich muss nämlich noch viel lernen.

Der Text hat durchaus humoristische Züge aber für eine echte Satire reicht es, glaube ich, nicht.
Auch als Kurzgeschichte schien er mir, nach mehrmaligem Überlegen, in der Handlung zu dünn. Daher dachte ich ihn im Bereich Kurzprosa besser aufgehoben. Es passiert ja im Grunde nicht viel.
Was die Öffnungszeiten der Kirche angeht, habe ich mich an meine südländischen Urlaubserfahrungen gehalten: Die meisten Dorfkirchen sind dort, zumindest tagsüber, meiner begrenzten Erfahrung nach offen. Da wollte ich aber gar nicht so sehr drauf eingehen, weil die Problematik - Wer ist sie und wie beschreibe ich ihr Verhalten - natürlich im Raum steht und alles was mir dazu einfiel, es nur schlimmer gemacht hätte. Bin aber für jeden Rat dankbar.

Liebe Grüße
K
 
Die Frau in der Kirche

Den Kopf gesenkt, den Rücken kerzengerade, die Arme im Schoß gekreuzt, sitzt sie da. Das übergroße mit abstrakten Blumen verzierte Kopftuch am Hinterkopf über ein Nest aus Haaren gespannt, flattert im Durchzug dort, wo man den Hals vermuten würde. Das Gesicht der Frau ist unter dem dicht gewebten Stoff verborgen, im Profil lugt nur die Nasenspitze hervor. Abgesehen von den sanften Bewegungen des Tuches ist sie völlig reglos. Atemlos. Betrachtet man sie länger, drängt sich der Wunsch auf, ihr die Hand auf die Schulter zu legen, um sich von ihrer Echtheit zu überzeugen. Der Küster geht zum wiederholten Male vorbei, bleibt kurz stehen, betrachtet die Frau in der dritten Bankreihe, neigt den Kopf und schleicht in die Sakristei zurück.

Jahrhunderte alter Duft nach Glauben und Weihrauch dampft aus den Mauern und trübt die Sinne. Wie lange wird sie hier noch sitzen? Versteinert. Woher sie kam und wieso sie hier ist, weiß niemand. Auf der Straße tuscheln die Frauen bereits. Wie alt mag sie sein? Jung gealtert oder jung geblieben, zwischen 40 und 60. Schätzt man. Etwas Derartiges ist im Dorf noch nicht vorgekommen: Fremde Frauen, die aus dem Nichts erscheinen und dann in der Kirchenbank festbacken. Reich soll sie sein, behaupten die Einen; bettelarm sei sie, versichern die Anderen. Bisher aber wagte niemand sie anzusprechen.

Die Dorfälteste weiß Bescheid. Den Blick tief in die Vergangenheit gebohrt ordnet sie ihre Erinnerungen. Das ist ganz bestimmt einer dieser Nachkriegsbastarde. Davon gäbe es zuhauf; nach dem Krieg schossen sie wie Schneeglöckchen aus dem Boden und ebenso plötzlich verschwanden sie wieder. Hier haben wir es mit einer Nachzüglerin zu tun, eine Erbschleicherin ganz bestimmt. Vielleicht die Tochter des alten Gioseppe, der letzten Monat gestorben ist. In Kriegsgefangenschaft war er, drei Jahre lang und danach noch drei Jahre verschollen. Über diese drei Jahre verlor er kein Wort aber sie boten Zeit genug, sich ein paar Nachkommen zu schaffen. Mit einem Ausdruck im Gesicht, der übergangslos zwischen Abscheu und Zuneigung wechselt, bestätigt sie sich selbst ihre eigene Geschichte; ja Frauen hatte der alte Gioseppe. Unzählige. Was da jetzt in der Kirche sitzt ist sicherlich die Folge einer seiner Liebschaften. Und jetzt, da ihr Vater verstorben ist, sitzt sie da und überlegt wie sie sich sein Erbe schnappen kann.

Tatsächlich brachten einige Männer mehr als Wunden und Traumata aus dem Krieg mit nach Hause, aber selbst wenn die Geschichte wahr ist, erklärt sie doch nicht, aus welchem Grund diese Frau jeden Vormittag in der Kirche sitzt? Noch viel wichtiger die Frage, wo ist sie abends? Scheinbar verschwindet sie spurlos; einige behaupten sie gesehen zu haben, wie sie im Dorf umherschlich, aber es wird ja viel behauptet. Jedoch findet sich niemand, der weiß wer sie ist oder gar mit ihr gesprochen hat. In der Zwischenzeit haben sich fast alle von der Anwesenheit der Frau überzeugt, die dort in der dritten Bankreihe sitzt und ... Nichts! Die einfach dasitzt. Keine echte Sensation und doch ist das ganze Dorf wie besessen. Bei denen, die nicht von der Sensationslust befallen sind, liegen die Nerven blank. Jeden Morgen am Frühstückstisch das immer gleiche zermürbende Geplapper: Wo kommt sie her? Was macht sie hier? Wer ist sie? Wird sie bleiben? Sinnlose Fragen, auf die niemand eine Antwort weiß und auf die auch keine Antwort verlangt wird. Selten wurden im Dorf so viele Augenbrauen bewegt, wie dieser Tage.
„Als stochere man in einem Ameisenhaufen“, tönt der Bäcker.
Diese Ansicht trifft, vor allem unter den Männern, auf breite Zustimmung. Und doch wird die Stimmung nicht richtig heiter, denn Mitte der Woche wird allen klar, Sonntagmorgen werden sie zum Gottesdienst antreten. Denn welch bessere Gelegenheit könnte es geben, die Frau unter die Lupe zu nehmen? Und das über eine Stunde lang. Die Einen brummeln, während die Anderen bereits die guten Schuhe putzen. Der heilige Sonntagmorgen bedroht von einer fremden Macht, die das ganze Dorf vibrieren lässt. Unbeeindruckt erscheint allein der Küster, ob er etwas weiß? Schließlich ist er jeden Tag in der Kirche. Aber er schweigt. Warum erzählt er niemandem etwas? Er muss etwas wissen. Der Bäcker bringt es auf den Punkt: „Jetzt sag schon wer ist die Alte?“. Die Antwort des Küsters beschränkt sich auf ein Stirnrunzeln, gefolgt von einem geringschätzenden Kopfschütteln.

Am Samstag ist der Ameisenhaufen in Hochform, die Arbeiterinnen säubern den Bau, fegen Laub, beschaffen Nahrung; die Männchen mähen den Rasen, schneiden Büsche, befestigen das Nest. Geschäftigkeit wälzt sich durch das Dorf und reißt alle mit. Die Vorgärten werden bearbeitet, die Rinnsteine gesäubert, ja sogar die verwaisten Trottoirs, an die lange keine Grundstücke mehr grenzen, bleiben nicht verschont. Gartenzäune, von unzähligen Ellenbogen blankgeputzt, biegen sich unter dem Geschwätz. Die Bäckerei kristallisiert zum Informationsknotenpunkt, um neun Uhr ist das Brot alle. Nichts mehr da, beteuert der Bäcker und freut sich doch. Im nächsten Augenblick ist er überrascht, weil er gar nicht weiß, was er mit so viel Samstag anstellen soll.

Dann, nach einem unvorhergesehen langen Samstagnachmittag, ist er endlich da, der Sonntagmorgen. Die Luft ist noch dunstig aber das Dorf längst wach. Gute zwanzig Minuten bevor der Sonntagsgottesdienst beginnt, ist die Kirche voll besetzt. So viele Besucher hat es Jahre nicht gegeben. Die Dorffrauen sind geschlossen anwesend, mit Kind und weitestgehend auch mit Mann. Der Küster entzündet die Kerzen am Altar, streicht die Tücher glatt und zupft ein paar welke Blätter aus den Blumen. Anschließend setzt er sich, wie jeden Sonntag, auf die Bank hinten links im Altarraum und blickt hinunter ins Kirchenschiff. Nicht wie jeden Sonntag. Dieses Mal blickt er nicht sofort wieder auf seine Füße sondern lässt seinen Blick zufrieden über die vollbesetzten Kirchenbänke schweifen. Von hinten nach vorne. Bei Reihe drei angekommen hält er einen Moment inne: Über seine Mundwinkel schwebt ein zufriedenes Lächeln. Er entfaltet das Heftchen mit der heutigen Liturgie.

Dann läuten die Glocken.
 
Du schreibst schöne Sätze: "Jahrhunderte alter Duft nach Glauben und Weihrauch dampft aus den Mauern und trübt die Sinne." Sowas und etliche mehr gefallen mir.

Für mich war diese Geschichte bis auf die letzten Sätze nicht humoristisch. Glaubte hier eher Ludwig Hirsch rauszulesen, der in seinen Liedern oft dunkelgraue Stimung erzeugt (wie zum Beispiel in "Der Dorftrottel"), wie für mich Weihrauch, Kirche und dunkle Gewänder.

Wäre die Geschichte auf ein spannendes Ende zugelaufen, sie hätte in der Tradition eines Ludwig Hirschs gestanden. Die Geschichte hat mir gutgefallen, habe sie gerne gelesen. Hättest du tiefer in den Topf mit den dunklen Farben gegriffen, hätte sie mir noch besser gefallen.

Aber auf jeden Fall ein Treffer!
 
Hey Monsier Milan,

freut mich, dass die die Geschichte gefällt. Die Idee mit dem spannenden Ende und dem dunkleren Touch gefällt mir. Darüber werde ich nachdenken. Wenn mir was gutes einfällt, gibts dann 'ne Version-noir der Geschichte.


Gruß
K.
 



 
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