DasKatastrophenprinzip
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Die Frau in der Kirche
Den Kopf gesenkt, den Rücken kerzengerade, die Arme im Schoß gekreuzt, sitzt sie da. Das übergroße mit abstrakten Blumen verzierte Kopftuch am Hinterkopf über ein Nest aus Haaren gespannt, flattert im Durchzug dort, wo man den Hals vermuten würde. Das Gesicht der Frau ist unter dem dicht gewebten Stoff verborgen, im Profil lugt nur die Nasenspitze hervor. Abgesehen von den sanften Bewegungen des Tuches ist sie völlig reglos. Atemlos. Betrachtet man sie länger, drängt sich der Wunsch auf, ihr die Hand auf die Schulter zu legen, um sich von ihrer Echtheit zu überzeugen. Der Küster geht zum wiederholten Male vorbei, bleibt kurz stehen, betrachtet die Frau in der dritten Bankreihe, neigt den Kopf und schleicht in die Sakristei zurück.
Jahrhunderte alter Duft nach Glauben und Weihrauch dampft aus den Mauern und trübt die Sinne. Wie lange wird sie hier noch sitzen? Versteinert. Woher sie kam und wieso sie hier ist, weiß niemand. Auf der Straße tuscheln die Frauen bereits. Wie alt mag sie sein? Jung gealtert oder jung geblieben, zwischen 40 und 60. Schätzt man. Etwas Derartiges ist im Dorf noch nicht vorgekommen: Fremde Frauen, die aus dem Nichts erscheinen und dann in der Kirchenbank festbacken. Reich soll sie sein, behaupten die Einen; bettelarm sei sie, versichern die Anderen. Bisher aber wagte niemand sie anzusprechen.
Die Dorfälteste weiß Bescheid. Den Blick tief in die Vergangenheit gebohrt ordnet sie ihre Erinnerungen. Das ist ganz bestimmt einer dieser Nachkriegsbastarde. Davon gäbe es zuhauf; nach dem Krieg schossen sie wie Schneeglöckchen aus dem Boden und ebenso plötzlich verschwanden sie wieder. Hier haben wir es mit einer Nachzüglerin zu tun, eine Erbschleicherin ganz bestimmt. Vielleicht die Tochter des alten Gioseppe, der letzten Monat gestorben ist. In Kriegsgefangenschaft war er, drei Jahre lang und danach noch drei Jahre verschollen. Über diese drei Jahre verlor er kein Wort aber sie boten Zeit genug, sich ein paar Nachkommen zu schaffen. Mit einem Ausdruck im Gesicht, der übergangslos zwischen Abscheu und Zuneigung wechselt, bestätigt sie sich selbst ihre eigene Geschichte; ja Frauen hatte der alte Gioseppe. Unzählige. Was da jetzt in der Kirche sitzt ist sicherlich die Folge einer seiner Liebschaften. Und jetzt, da ihr Vater verstorben ist, sitzt sie da und überlegt wie sie sich sein Erbe schnappen kann.
Tatsächlich brachten einige Männer mehr als Wunden und Traumata aus dem Krieg mit nach Hause, aber selbst wenn die Geschichte wahr ist, erklärt sie doch nicht, warum die Frau tagelang in der Kirche ausharrt. In der Zwischenzeit haben sich fast alle von der Anwesenheit der Frau überzeugt, die dort in der dritten Bankreihe sitzt und ... Nichts! Die einfach dasitzt. Keine echte Sensation und doch ist das ganze Dorf wie besessen. Bei denen, die nicht von der Sensationslust befallen sind, liegen die Nerven blank. Jeden Morgen am Frühstückstisch das immer gleiche zermürbende Geplapper: Wo kommt sie her? Was macht sie hier? Wer ist sie? Wird sie bleiben? Sinnlose Fragen, auf die niemand eine Antwort weiß und auf die auch keine Antwort verlangt wird. Selten wurden im Dorf so viele Augenbrauen bewegt wie dieser Tage.
„Als stochere man in einem Ameisenhaufen“, tönt der Bäcker.
Diese Ansicht trifft, vor allem unter den Männern, auf breite Zustimmung. Und doch wird die Stimmung nicht richtig heiter, denn Mitte der Woche wird allen klar, Sonntagmorgen werden sie zum Gottesdienst antreten. Denn welch bessere Gelegenheit könnte es geben, die Frau unter die Lupe zu nehmen, und das über eine Stunde lang? Die Einen brummeln, während die Anderen bereits die guten Schuhe putzen. Der heilige Sonntagmorgen, bedroht von einer fremden Macht, die das ganze Dorf vibrieren lässt. Unbeeindruckt erscheint allein der Küster, ob er etwas weiß? Schließlich ist er jeden Tag in der Kirche. Aber er schweigt. Warum erzählt er niemandem etwas? Er muss etwas wissen. Der Bäcker bringt es auf den Punkt: „Jetzt sag schon wer ist die Alte?“. Die Antwort des Küsters beschränkt sich auf ein Stirnrunzeln gefolgt von einem geringschätzenden Kopfschütteln.
Am Samstag ist der Ameisenhaufen in Hochform, die Arbeiterinnen säubern den Bau, fegen Laub, beschaffen Nahrung; die Männchen mähen den Rasen, schneiden Büsche, befestigen das Nest. Geschäftigkeit wälzt sich durch das Dorf und reißt alle mit. Die Vorgärten werden bearbeitet, die Rinnsteine gesäubert, ja sogar die verwaisten Trottoirs, an die lange keine Grundstücke mehr grenzen, bleiben nicht verschont. Gartenzäune, von unzähligen Ellenbogen blankgeputzt, biegen sich unter dem Geschwätz. Die Bäckerei kristallisiert zum Informationsknotenpunkt, um neun Uhr ist das Brot alle. Nichts mehr da, beteuert der Bäcker und freut sich doch. Im nächsten Augenblick ist er überrascht, weil er gar nicht weiß, was er mit so viel Samstag anstellen soll.
Dann, nach einem unvorhergesehen langen Samstagnachmittag, ist er endlich da, der Sonntagmorgen. Die Luft ist noch dunstig aber das Dorf längst wach. Gute zwanzig Minuten bevor der Sonntagsgottesdienst beginnt, ist die Kirche voll besetzt. So viele Besucher hat es Jahre nicht gegeben. Die Dorffrauen sind geschlossen anwesend, mit Kind und weitestgehend auch mit Mann. Der Küster entzündet die Kerzen am Altar, streicht die Tücher glatt und zupft ein paar Welke Blätter aus den Blumen. Anschließend setzt er sich, wie jeden Sonntag, auf die Bank hinten links im Altarraum und blickt hinunter ins Kirchenschiff. Nicht wie jeden Sonntag. Dieses Mal blickt er nicht sofort wieder auf seine Füße sondern lässt seinen Blick zufrieden über die vollbesetzten Kirchenbänke schweifen. Von hinten nach vorne. Bei Reihe drei angekommen hält er einen Moment inne: Über seine Mundwinkel schwebt ein zufriedenes Lächeln. Er entfaltet das Heftchen mit der heutigen Liturgie.
Dann läuten die Glocken.
Den Kopf gesenkt, den Rücken kerzengerade, die Arme im Schoß gekreuzt, sitzt sie da. Das übergroße mit abstrakten Blumen verzierte Kopftuch am Hinterkopf über ein Nest aus Haaren gespannt, flattert im Durchzug dort, wo man den Hals vermuten würde. Das Gesicht der Frau ist unter dem dicht gewebten Stoff verborgen, im Profil lugt nur die Nasenspitze hervor. Abgesehen von den sanften Bewegungen des Tuches ist sie völlig reglos. Atemlos. Betrachtet man sie länger, drängt sich der Wunsch auf, ihr die Hand auf die Schulter zu legen, um sich von ihrer Echtheit zu überzeugen. Der Küster geht zum wiederholten Male vorbei, bleibt kurz stehen, betrachtet die Frau in der dritten Bankreihe, neigt den Kopf und schleicht in die Sakristei zurück.
Jahrhunderte alter Duft nach Glauben und Weihrauch dampft aus den Mauern und trübt die Sinne. Wie lange wird sie hier noch sitzen? Versteinert. Woher sie kam und wieso sie hier ist, weiß niemand. Auf der Straße tuscheln die Frauen bereits. Wie alt mag sie sein? Jung gealtert oder jung geblieben, zwischen 40 und 60. Schätzt man. Etwas Derartiges ist im Dorf noch nicht vorgekommen: Fremde Frauen, die aus dem Nichts erscheinen und dann in der Kirchenbank festbacken. Reich soll sie sein, behaupten die Einen; bettelarm sei sie, versichern die Anderen. Bisher aber wagte niemand sie anzusprechen.
Die Dorfälteste weiß Bescheid. Den Blick tief in die Vergangenheit gebohrt ordnet sie ihre Erinnerungen. Das ist ganz bestimmt einer dieser Nachkriegsbastarde. Davon gäbe es zuhauf; nach dem Krieg schossen sie wie Schneeglöckchen aus dem Boden und ebenso plötzlich verschwanden sie wieder. Hier haben wir es mit einer Nachzüglerin zu tun, eine Erbschleicherin ganz bestimmt. Vielleicht die Tochter des alten Gioseppe, der letzten Monat gestorben ist. In Kriegsgefangenschaft war er, drei Jahre lang und danach noch drei Jahre verschollen. Über diese drei Jahre verlor er kein Wort aber sie boten Zeit genug, sich ein paar Nachkommen zu schaffen. Mit einem Ausdruck im Gesicht, der übergangslos zwischen Abscheu und Zuneigung wechselt, bestätigt sie sich selbst ihre eigene Geschichte; ja Frauen hatte der alte Gioseppe. Unzählige. Was da jetzt in der Kirche sitzt ist sicherlich die Folge einer seiner Liebschaften. Und jetzt, da ihr Vater verstorben ist, sitzt sie da und überlegt wie sie sich sein Erbe schnappen kann.
Tatsächlich brachten einige Männer mehr als Wunden und Traumata aus dem Krieg mit nach Hause, aber selbst wenn die Geschichte wahr ist, erklärt sie doch nicht, warum die Frau tagelang in der Kirche ausharrt. In der Zwischenzeit haben sich fast alle von der Anwesenheit der Frau überzeugt, die dort in der dritten Bankreihe sitzt und ... Nichts! Die einfach dasitzt. Keine echte Sensation und doch ist das ganze Dorf wie besessen. Bei denen, die nicht von der Sensationslust befallen sind, liegen die Nerven blank. Jeden Morgen am Frühstückstisch das immer gleiche zermürbende Geplapper: Wo kommt sie her? Was macht sie hier? Wer ist sie? Wird sie bleiben? Sinnlose Fragen, auf die niemand eine Antwort weiß und auf die auch keine Antwort verlangt wird. Selten wurden im Dorf so viele Augenbrauen bewegt wie dieser Tage.
„Als stochere man in einem Ameisenhaufen“, tönt der Bäcker.
Diese Ansicht trifft, vor allem unter den Männern, auf breite Zustimmung. Und doch wird die Stimmung nicht richtig heiter, denn Mitte der Woche wird allen klar, Sonntagmorgen werden sie zum Gottesdienst antreten. Denn welch bessere Gelegenheit könnte es geben, die Frau unter die Lupe zu nehmen, und das über eine Stunde lang? Die Einen brummeln, während die Anderen bereits die guten Schuhe putzen. Der heilige Sonntagmorgen, bedroht von einer fremden Macht, die das ganze Dorf vibrieren lässt. Unbeeindruckt erscheint allein der Küster, ob er etwas weiß? Schließlich ist er jeden Tag in der Kirche. Aber er schweigt. Warum erzählt er niemandem etwas? Er muss etwas wissen. Der Bäcker bringt es auf den Punkt: „Jetzt sag schon wer ist die Alte?“. Die Antwort des Küsters beschränkt sich auf ein Stirnrunzeln gefolgt von einem geringschätzenden Kopfschütteln.
Am Samstag ist der Ameisenhaufen in Hochform, die Arbeiterinnen säubern den Bau, fegen Laub, beschaffen Nahrung; die Männchen mähen den Rasen, schneiden Büsche, befestigen das Nest. Geschäftigkeit wälzt sich durch das Dorf und reißt alle mit. Die Vorgärten werden bearbeitet, die Rinnsteine gesäubert, ja sogar die verwaisten Trottoirs, an die lange keine Grundstücke mehr grenzen, bleiben nicht verschont. Gartenzäune, von unzähligen Ellenbogen blankgeputzt, biegen sich unter dem Geschwätz. Die Bäckerei kristallisiert zum Informationsknotenpunkt, um neun Uhr ist das Brot alle. Nichts mehr da, beteuert der Bäcker und freut sich doch. Im nächsten Augenblick ist er überrascht, weil er gar nicht weiß, was er mit so viel Samstag anstellen soll.
Dann, nach einem unvorhergesehen langen Samstagnachmittag, ist er endlich da, der Sonntagmorgen. Die Luft ist noch dunstig aber das Dorf längst wach. Gute zwanzig Minuten bevor der Sonntagsgottesdienst beginnt, ist die Kirche voll besetzt. So viele Besucher hat es Jahre nicht gegeben. Die Dorffrauen sind geschlossen anwesend, mit Kind und weitestgehend auch mit Mann. Der Küster entzündet die Kerzen am Altar, streicht die Tücher glatt und zupft ein paar Welke Blätter aus den Blumen. Anschließend setzt er sich, wie jeden Sonntag, auf die Bank hinten links im Altarraum und blickt hinunter ins Kirchenschiff. Nicht wie jeden Sonntag. Dieses Mal blickt er nicht sofort wieder auf seine Füße sondern lässt seinen Blick zufrieden über die vollbesetzten Kirchenbänke schweifen. Von hinten nach vorne. Bei Reihe drei angekommen hält er einen Moment inne: Über seine Mundwinkel schwebt ein zufriedenes Lächeln. Er entfaltet das Heftchen mit der heutigen Liturgie.
Dann läuten die Glocken.