Die Frau ohne Lächeln

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anbas

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Die Frau ohne Lächeln

Der Zug ist überfüllt und hat Verspätung. Ich konnte in dem kleinen Abteil gerade noch den letzten Sitzplatz ergattern. Mir schräg gegenüber am Fenster sitzt eine Frau und liest in einem Manuskript. Gelegentlich macht sie sich Notizen. Wenn jemand das Abteil betritt oder es verlässt, wirft sie ihm durch ihre rahmenlose, kleinglasige Brille nur einen kurzen, scharf-musternden Blick zu. Ansonsten schaut sie hochkonzentriert auf ihre Dokumente.

Ich schätze das Alter der Frau auf Mitte, Ende dreißig. Doch könnte sie auch jünger sein und nur älter wirken. Sie ist schlank, fast schon hager. Zu ihrem grauen Rock trägt sie eine weiße Bluse. Ihre Haare hat sie fest zurückgekämmt und zu einem Knoten gesteckt. Ich kann weder eine Kette, einen Ring oder anderen Schmuck an ihr entdecken.

Die anderen Reisenden und ich unterhalten uns über die aktuelle Verspätung der Bahn. Nur die Frau beteiligt sich nicht an dem Gespräch. Es ist, als würde sie von einer unsichtbaren Mauer umgeben sein. Selbst, als wir über die Bahn lästern und lachen, verzieht sie keine Miene. Stattdessen beschäftigt sie sich weiter mit ihren Unterlagen. Ihre schmalen fest verschlossen Lippen zeigen keine Regung an und lassen sie streng aussehen, mit einem Hauch von Bitterkeit.

Je länger ich diese Frau beobachte, umso mehr frage ich mich, ob sie immer so streng und freudlos aussieht, oder ob das nur der Fall ist, weil sie so konzentriert arbeitet. Vor allem aber wächst in mir die Neugierde darüber, wie sie wohl aussieht, wenn sie einmal lächeln würde.
 



 
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