Die angelehnte Tür

Shinji-chan

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Stella starrte aus dem Fenster. Die Blätter der Bäume schaukelten im Wind hin und her, auf und ab... Sie taten dies immer, wenn das Mädchen sie betrachtete, und trotzdem wurde sie dieses Anblicks nie überdrüssig. Ganz im Gegensatz zum Anblick des Textdokuments, das sie pflichtbewusst geöffnet hatte, als sie den Computer auf ihrem Schreibtisch hochgefahren hatte.
Dabei war es ja nicht einmal etwas, zu dem sie gezwungen war. Sie wollte diese Geschichte schreiben, ja, aber sie musste es nicht. Aber gerade dieser Wille, all das, was in ihrem Kopf herumschwirrte, niederzuschreiben, brachte sie dazu, sich jeden Tag wieder an den Schreibtisch zu setzen. Und jedes Mal endete es wieder so wie heute: Nachdem sie ein paar Sätze geschrieben hatte, wanderte ihr Blick zum Fenster, nach irgendetwas suchend, das sie inspirieren könnte. Aber es geschah nie etwas.
Es war inzwischen über zwei Wochen her, dass sie sich vorgenommen hatte, die Geschichte der Charaktere, die in ihrem Kopf schon allgegenwärtig waren, endlich aufzuschreiben. Und in dieser Zeit hatte sie gerade mal drei Seiten zustande gebracht.
Die junge Frau stieß einen tiefen Seufzer aus und klickte dann auf das rote X in der oberen rechten Ecke des Computerbildschirms. Es hatte doch keinen Zweck. Je mehr sie sich anstrengte, die richtigen Formulierungen zu finden, desto weniger wollte es ihr gelingen. Es schien ihr fast so, als ob ihr Wortschatz mit jeder Minute, in der sie auf den Bildschirm starrte, rapide abnahm. Und dann auch noch das aufdringliche Blinken des Cursors im Textfeld, das nur Ruhe gab, wenn sie zu tippen begann! Als würde es ihr sagen wollen: Nun schreib schon, so schwer ist das doch wirklich nicht!
Doch es war schwer. Stella stand von ihrem Schreibtischstuhl auf und ging ein wenig in ihrem kleinen Zimmer herum. Sie zog ein Buch aus ihrem Schrank hervor und blätterte ein wenig darin herum. All diese Sätze, sie waren so gewandt formuliert, so direkt, so treffend, als wäre es überhaupt kein Problem, einfach das aufzuschreiben, was man dachte! Wieso gelang es all diesen Menschen, deren Bücher ihre Regale füllten, ihr aber nicht?
Stella ließ sich auf ihr Bett fallen und starrte zur Zimmertür, die in der Zugluft des geöffneten Fensters ein wenig hin- und herschwang und dabei leise knarrte.
Geschichten zu schreiben, das war wie eine Tür. Manche konnten einfach hindurch spazieren, ohne überhaupt zu bemerken, dass sie existierte. Sie konnten einfach schreiben, bis sie all ihre Ideen zu Papier gebracht hatten. Dann gab es natürlich noch die, die eine verschlossene Tür vorfanden und schulterzuckend daran vorbeigingen. Aber am schlimmsten war es, so fand Stella, für diejenigen, die genau wussten, welche Wunder sich hinter der Tür verbargen und nichts anderes wünschten, als sie zu erblicken und endlich schreiben zu können, denen der Einlass aber dennoch nicht gewährt wurde. Denn was war schon frustrierender als so kurz vor dem Ort seiner Träume aufgeben zu müssen?
Stella beobachtete weiterhin die Tür, die auf einmal von einem kräftigen Windstoß schwungvoll aufgestoßen wurde. Wie vom Donner gerührt sprang die junge Frau auf. Wer sagte denn, dass die Tür tatsächlich verschlossen war? Die wenigen Sätze, die sie bisher zustande gebracht hatte, konnte man doch wohl kaum als einen Versuch werten, die Tür zu öffnen!
Schnell ließ sie sich wieder an ihrem Arbeitsplatz nieder und sah ungeduldig zu, wie das Textdokument langsam geladen wurde. Als es dann schließlich erschien, gab es kein Halten mehr. Kurzerhand löschte Stella alles, was sie bisher geschrieben hatte und fing erneut an. Und mit einem Mal schienen all ihre Probleme sich in Luft aufzulösen.
Von weitem hatte die Tür zwar ausgesehen, als wäre sie verschlossen gewesen, doch wissen konnte man es doch erst, wenn man näher heranging. Nachdem Stella diesen Schritt gewagt hatte, hatte sie entdeckt, dass die Tür, hinter der ihre Welt lag, nur angelehnt war. Und eine angelehnte Tür zu öffnen, das war wirklich kein Ding der Unmöglichkeit.
 



 
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