Die betrübte Stimmung und die pure Lebensfreude

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Rainer Lieser

Mitglied
Die betrübte Stimmung und die pure Lebensfreude

In der Kasselgasse in Großkapstadt saß Herr Meppenhoppel mit seiner Frau Mechthild an einem Samstag beim Frühstück, als ihm ein Gedanke kam.

»Mechthild?«
»Ja.«
»Wir haben doch keine Freunde und verbringen die meiste Zeit schweigend vor dem Fernsehgerät.«
»Ja.«
»Ich möchte daran gerne etwas ändern. Ich denke es ist an der Zeit.«
»Ja.«
»Wie wäre es, wenn wir jedem einzelnen unserer Finger einen Namen und einen Charakterzug geben. Dann könnten wir beide uns zusammen mit zwanzig … Äh … Fingern unterhalten. Das wäre doch toll. Meinst du nicht?«

Mechthild vernahm die Worte ihres Gatten, als sie gerade eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee zum Mund führte. Augenblicklich fing Mechthild an schallend zu lachen. Dabei verlor sie die Kontrolle über die Kaffeetasse. Der heiße Kaffee ergoss sich über Mechthilds Oberschenkel. Ihr Lachen wandelte sich zu einem Schrei. Sie sprang vom Stuhl auf. Mechthilds Oberschenkel prallten an die Unterkante des Frühstückstischs. Die ältere Dame verlor das Gleichgewicht und knallte mit voller Wucht auf die Tischplatte. Ihr Schädel wurde von der Kaffeekanne aus Edelstahl gespalten.
Herr Meppenhoppel griff sich an die Brust und sank mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Herzstillstand.

Kaum war das Geschehen, erschien in dem Raum die pure Lebensfreude, um die betrübte Stimmung wieder etwas aufzuheitern.

»Nun komm schon, betrübte Stimmung, solche Dinge geschehen. Da kann man nichts machen. Lass dich nicht so hängen. In Somalia wurde gerade ein Kind geboren. Das macht den Verlust dieser beiden Tranfunzeln doch mehr als wett.« Sprach die pure Lebensfreude mit strahlendem Lachen.
»Du hast gut reden, pure Lebensfreude. Unter all den vermeintlichen Berufsjugendlichen, heuchlerischen Dauergrinsern und tablettengepushten immer-gut-drauf-Powertypen die uns tagtäglich so umgeben, waren diese beiden doch ein echter Quell an Wahrhaftigkeit. Die haben uns nie etwas vorgemacht. Von wem sonst kannst du das heute noch sagen?«
»Du nimmst das alles viel zu ernst. Und was soll das Überhaupt mit dieser Wahrhaftigkeit? Diese beiden waren doch einfach nur stinklangweilig und haben ein vollkommen uninteressantes Leben geführt. Die vermisst absolut niemand. Einzig dir haben sie etwas bedeutet. Und warum? Darüber solltest du mal nachdenken, statt hier herum zu jammern.«
Die betrübte Stimmung tat wie ihr geheißen und dachte einen Augenblick nach. »Ohne die beiden hat meine Existenz keinen Sinn mehr. Es ist wohl an der Zeit, dass auch ich von hier verschwinde.« Gab sie schließlich der puren Lebensfreude zur Antwort.
»So habe ich das nicht gemeint.«

Zu spät. Die betrübte Stimmung seufzte ein letztes Mal leise auf. Dann war sie auf ewig weg.

Zurück blieb die pure Lebensfreude.
»Wenn ich es mir recht überlege, war das eben das Beste, was mir geschehen konnte. Endlich gibt es nichts mehr, dass mir im Weg steht. Jetzt kann ich die ganze liebe lange Zeit Party machen ohne gegenüber irgend jemandem ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Das ist toll!«
Überglücklich verliess die pure Lebensfreude das alte vergammelte Häuschen der Meppenhoppels.

Auf dem gesamten Planeten begannen die Menschen Freudentänze aufzuführen und zu singen. Das Lachen hielt allerorten Einzug. Auf Militärstützpunkten wie in Atomkraftwerken und innerhalb der Regime von Diktatoren. Die Leichtigkeit und der Übermut der puren Lebensfreude steckte alle an.
Bald tat es einen gewaltigen Knall und alles Leben erstarb.
 



 
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