Die hochnäsige Sonnenblume

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Wendy

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Die hochnäsige Sonnenblume

Opa Julius verbrachte seine Freizeit am liebsten im Garten. Er genoss, fernab vom Straßenlärm, die Ruhe in der Laubenkolonie. Oft verweilte er an dem weißen Sommerflieder und beobachtete die Schmetterlinge, wie sie langsam ihre bunten Flügel öffneten und schlossen.
Liebevoll kümmerte sich der alte Mann um seine Rosen, die er vor vielen Jahren pflanzte. Alle Rosen hatten ihren eigenen Namen. „Königin Victoria, prächtig hast du dich vom Winter erholt“, flüsterte er ihr zu und streichelte zärtlich über ihre roten Blüten. Er beugte sich vor und atmete tief den Duft der gelben Prinzessin Madeleine ein. „Meine treuen Freunde, dieses Jahr habt ihr euch mit eurer Schönheit wieder selber übertroffen“, lobte er seine Schützlinge. Er ging ein Stückchen weiter und sprach mit den Lilien am Wegrand: „Recht so, stellt eure lila-gelben Schwerter hoch und passt auf, dass sich alle Blumen vertragen!“

Rank und schlank stand die rosafarbene Stockrose neben dem dunkelblauen Rittersporn. „Um euch brauche ich mir keine Sorgen machen, ihr seid immer zuverlässig und kehrt jedes Jahr wieder zurück. Röschen, wenn etwas ungewöhnliches im Garten passiert, dann läute deine zarten Glöckchen und ich bin sofort zur Stelle.“
Zufrieden nickte Julius, er war glücklich, dass alles so schön blühte. Sobald er etwas Unkraut entdeckte, bückte er sich und zupfte es aus der aufgelockerten Erde heraus.
Etwas besorgt ging er zur Sonnenblume, die ihm bereits über den Kopf gewachsen war. Ihr Gesicht hatte sie der Sonne zugewandt. Julius nahm seinen durchlöcherten Strohhut ab und kratze sich am Kopf. „Ach, du meine Güte, wenn du weiter so wächst, dann stößt du bald am Himmel an. Ich denke, heute nach meinem Mittagsnickerchen werde ich dir einen Besenstil zur Stütze hinstellen, sonst kippst du noch um.“ Der alte Mann gähnte und zog sich in seine Laube zurück.
Bisher fühlten sich alle Blumen in Julius Garten wohl. Das änderte sich, als die Sonnenblume eines Tages immer größer wurde und fast zwei Meter maß. Mit ihren gelben Blütenblättern ähnelte sie der Sonne und das wusste sie auch. Es dauerte nicht lange und sie wurde immer hochnäsiger. Geringschätzig sah sie auf die anderen Blumen herab. Ja, sie legte sich sogar mit der Königin der Rosen an. „Tu bloß nicht so erhaben, du hast Dornen, keiner will dich pflücken und in die Vase stellen. Ich bin die Schönste und der Sonne gleich“, prahlte sie.

„Du langes Elend, passe nur auf, dass du nicht bald aus den Latschen kippst, wackelst herum wie ein Lämmerschwanz!“, pieksten die Rosen zurück. „In deinem Gesicht picken die Vögel, bevor der Sommer zu Ende ist, siehst du zerlöchert und hässlich aus. Wenn du die Wahrheit vertragen kannst, dann schaue zu uns hinunter, wie sich die Bienen und Schmetterlinge an unseren wundervollen Blütenkelchen erlaben. Unser herrlicher Duft strömt weit über den Gartenzaun hinaus und lockt die Spaziergänger an. Sie recken ihre Hälse und bewundern unsere Farbenpracht aus der Ferne. Julius verehrt und liebt uns, es vergeht kein Tag an dem er uns nicht über die Blütenköpfe streichelt.“
Ein leichter Wind kam auf und die lange Sonnenblume schwankte leicht hin und her. Zu den darunter wachsenden Ringelblumen sagte sie gehässig: „Ihr verkrüppelten Zwerge, ihr seid es nicht Wert gegossen zu werden. Schade um jeden Tropfen Wasser.“
Die kleinen Ringelblumen wurden ganz traurig, sie verschlossen ihre orangefarbenen Blüten und schwiegen beleidigt.
Über diese Gehässigkeiten schüttelten der Rittersporn und die Stockrose ihre Köpfchen. „Gebt endlich ruhe da drüben“, riefen sie den Streitsüchtigen zu. „Ihr traut euch doch nur zu meckern wenn Julius und die Blumen-Fee Ignolia nicht in der Nähe sind. „ Wir leben hier wie im Paradies, guckt euch nur den verwilderten Nachbargarten an, der Brombeerbusch macht sich so dick, dass die Kaiserkrone kaum noch Platz hat. Hört ihr ein böses Wort von drüben?“
„Ihr habt mir gar nichts zu sagen!“ Grimmig schaute die Sonnenblume auf das Nachbarbeet.
Das wurde der Stockrose zu bunt und sie läutete aufgeregt ihre rosa Glöckchen. Sie wollte Julius zu Hilfe holen, doch er schlief tief und fest.
Den Streit bekamen auch die Bienen und die Schmetterlinge mit, sie wussten, dass die Blumen-Fee alle gleich lieb hatte. Wenn sie doch nur hören könnte, wie hässlich sich die Sonnenblume benahm, dann hätte es sicherlich ein Donnerwetter gegeben. Auf gar keinen Fall hätte Ignolia das geduldet, da waren sich alle einig.

Gefährlich ballten sich die Wolken am dunklen Himmel zusammen und ein schweres Gewitter zog auf. Es blitzte und donnerte, dicke Regentropfen prasselten auf die Sonnenblume und ihr nasser Kopf senkte sich immer weiter nach unten. „Hiiilfe, wo bleibt meine Stütze, Julius? Ich kann meinen Kopf nicht länger hoch halten. Hiiilfe!“, schrie sie entsetzt. Eine Sturmbö erfasste ihren langen grünen Stängel und knickte ihn wie einen Streichholz ab.
So schnell wie das Unwetter kam, war es auch wieder verschwunden. Es dauerte nicht lange und die Sonne brach durch die Wolken. Schnell erholten sich die Blumen von dem Schrecken. Sie schüttelten die restlichen Regentropfen von ihren Blüten und entdeckten die abgebrochene Sonnenblume in der Pfütze. Ihr schönes Gesicht war mit Matsch bedeckt.
„Das geschieht ihr Recht“, pieksten die Rosen weiter, „sie hat ihre gerechte Strafe für ihren Hochmut bekommen!“
Erst am Nachmittag wachte Julius auf und war überrascht, dass es geregnet hatte. Er drehte seine normale Runde durch die Blumenbeete und entdeckte die abgebrochene Sonnenblume. Etwas nachdenklich hob Julius sie auf und entfernte vorsichtig die nasse Erde aus ihrem Gesicht. „Ja, ja, meine Liebe, wer hoch hinaus will, kommt schnell zu Fall“, und legte sie zum trocknen auf den wurmstichigen Holztisch, der vor der Hütte stand. Mit seinem Zeigefinger pulte er in ihrem Gesicht und sprach leise: „Sunny, die Vögel werden sich deine reifen Sonnenblumenkerne holen und was noch übrig bleibt, pflanze ich im nächsten Frühjahr wieder ein, das verspreche ich dir. Hoffentlich wachsen mir deine Nachkommen nicht auch über den Kopf, so wie du“, dabei zwinkerte ihr Julius geheimnisvoll zu.
 

Wendy

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Danke für deine lieben Worte, Märchentante. Baut mich so richtig auf, und gibt mir Elan neue Geschichten zu schreiben.

Liebe Grüße

Wendy
 



 
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