Dorothee und der Voyeur

Dorothee und der Voyeur

Michael hatte gerade eine Scheidung hinter sich. Er fühlte sich schuldig, seine Frau war mit ihm überfordert gewesen. Damit hätte er rechnen müssen.
Beruflich ging es ihm auch nicht gut. Er hatte das Atelier seines französischen Vaters übernommen. Dieser war ein angesehener Kunstmaler. An seinen Porträts und Aktbildern hatte er gut verdient, am erfolgreichsten war er mit seinen großformatigen Plakatmalereien.
Hier war ihm Toulouse-Lautrec ein Vorbild gewesen, von dem einige Kunstdrucke die Wände des Ateliers zierten.
Michael hatte das Talent seines Vaters geerbt, aber nicht dessen Geschäftstüchtigkeit. Mit anderen Worten, er konnte sich gerade so über Wasser halten, und das auch nur, weil er zusätzlich Klavierstunden gab.

Nun saß er in der alten Stadtmühle, einem roten Sandsteinbau – im Stadtjargon auch „Moulin Rouge“ genannt. Hier hoffte er auf andere Gedanken zu kommen. Am Nachbartisch saß ein Herr mittleren Alters. Seine schlanke, wasserstoffblonde Partnerin mochte etwas jünger sein. Die beiden waren schlechter Laune. Michael bekam nur Wortfetzen mit, jedenfalls hatte sie ihr Gegenüber der Einfallslosigkeit bezichtigt.
Michael zückte seinen Skizzenblock und entwarf ein Schnellporträt der beiden.
Wenige Tage später, am gleichen Ort, erlebte er die Frau in bester Verfassung in Begleitung eines jüngeren Mannes. Den neugierigen Zuhörer auf der Empore hatte sie nicht bemerkt. „Das hast Du toll hingekriegt, Olaf, sagte sie und Olaf fühlte sich geschmeichelt. Er wurde immer redseliger, und sie hing förmlich an seinen Lippen. Angeber, dachte Michael, doch ihr schien das zu gefallen.
Ein Straßenmusikant hatte sich in der Nähe des Lokals nieder gelassen und Musettewalzer auf seiner Harmonika intoniert. Eine Stilrichtung, die Michael besonders liebte. Auch der Blondine gefiel die Musik. Sie wippte – wie er - mit dem rechten Fuß auf und ab Gleichklang der Sinne.
Die Musik war es auch, auf die seine Frau „hereingefallen“ war. Er hatte sie mit seinem Klavierspiel beeindruckt, doch seine Verunstaltung – er hatte einen Buckel – ließ ihre Gefühle allmählich erkalten. Irgendwann konnte sie seinen Anblick nicht mehr ertragen.

Er hatte sich in sein Atelier verkrochen und war doch für weibliche Reize sehr empfänglich geblieben – wie eben jetzt.
Als die beiden Turteltauben das Lokal verließen, blickte er ihnen wie gebannt hinterher.


Michael hatte sich zu einem Computerlehrgang für Fortgeschrittene angemeldet.
Als er den Vortragsraum betrat, war er überrascht, die wasserstoffblonde Dame aus dem Lokal hier anzutreffen. Der Kursleiter wies Michael darauf hin, dass sich „die meisten hier“ schon kennen würden und man inzwischen auf Du und Du sei. Die Runde bestand aus nur zehn Personen. Eine Art Familienbetrieb, dachte Michael. Je zwei Teilnehmer mussten sich einen PC teilen. Der Kursleiter hatte das Los entscheiden lassen. Michael und Dorothee, eine Arbeitsgemeinschaft!
Fast schämte er sich, dass er sie heimlich beobachtet hatte und fast schon zu kennen glaubte. Sie hatte eine sehr angenehme Stimme. Von dieser Frau würde er sich gern verführen lassen, doch er hatte ja gar keine Chancen …

Am Ende der Kursstunde stimmten sie ab, wo der Verein den Rest des Abends verbringen wollte. Man entschied sich für den „Italiener“. Elvira, wohl eine gute Freundin, fragte Dorothee: “Na, was macht Dein schwarzer Scheich?“ Michael stutzte. „Olaf der letzte“ war blond.
Dorothee berichtete von ihrem Scheidungsprozess und vom Ärger mit ihrem halbwüchsigen Sohn. Michael kam aus dem Staunen nicht heraus. Dorothee wirkte keinesfalls Mitleid heischend. „Reden wir von etwas anderem“, schlug sie vor. „Ja, erzähl mal von deiner Frankreichtour“, meinte Elvira. Dorothee kam ins Schwärmen. Gern hätte sie den ganzen Verein auf die nächste Reise mitgenommen.
Als sich die Gesellschaft auflöste, ging Michael noch ein paar Schritte mit Elvira und fragte sie nach Dorothees Job. „Zurzeit verdient sie ihre Brötchen in einem Reisebüro. Im Grunde geht es ihr ziemlich dreckig. Schulden, Männer, Alkohol und so“. Warum berührte ihn das alles so sehr?

Der Verein traf sich beim Griechen, beim Inder usw. Man kam auch immer öfter privat zusammen. Eines Tages überraschte Dorothee damit, dass sie sich selbständig machen und ein eigenes Reisebüro eröffnen wolle. Die Euphorie, mit der sie das Projekt anging, stimmte bedenklich. „Ich werde es euch beweisen“, verkündete sie frohgemut. Zweifellos hatte sie Courage, aber hier war zu befürchten, dass sie Opfer ihrer eigenen Naivität werden würde. Keiner mochte das aber aussprechen.
Beim nächsten Treffen, diesmal bei Dorothee, wirkte sie ziemlich niedergeschlagen, und sie hatte schon eine leichte Fahne, als ihre Besucher eintrafen. „Und ich sage euch, ich schaffe es doch mit meinem Reisebüro!“

Wieder mal Freitag. Kursusabend. Michael war etwas zu früh dran. Er war überrascht, auch Dorothee schon vorzufinden. „Hallo, das trifft sich gut“, sagte sie, hast du morgen Abend schon was vor?“ Michael sah sie erwartungsvoll an. „Ich sitze auf zwei Karten für ‚My Fair Lady’, weil Olaf auf und davon ist“. „Und da hast du mich als Stellvertreter ausersehen?“ „Das siehst Du völlig richtig“. Weitere Kursteilnehmer erschienen und beendeten das Privatgespräch.

Dorothee, mit sich allein, wunderte sich selbst über ihren Einfall, ausgerechnet den buckligen Michael eingeladen zu haben. Es waren wohl die Enttäuschungen mit all den „normalen“ Kerlen gewesen. Andererseits war sie sicher, dass sich Michael keine Illusionen mehr machte. Sie würde ihm jedenfalls einen unvergesslichen Abend bereiten.

Die Musical-Veranstaltung war ein voller Erfolg. Frohgelaunt zurückgekehrt, wollte Michael Dorothee vor ihrer Haustür absetzen, doch sie zögerte und griff nach seiner Hand. „Kommst du noch auf einen Sprung mit rein?“
„Willst du mir noch deine Briefmarkensammlung zeigen?“
„Trottel“, sagte sie belustigt.
Dann ging alles ganz schnell. Dorothee verschwand kurz in ein Nebenzimmer. Nun stand sie unverhüllt vor ihm. Michael entledigte sich ebenfalls seiner Klamotten. Dann fielen sie übereinander her wie die Wilden. Die Schöne und das Biest. Dorothee löschte das Licht. Seinen Buckel musste sie nicht unbedingt sehen.
Wie lange hatte er keine Frau mehr gehabt!!

Und wieder einmal hatte Dorothee eingeladen – die wenigen, die ihr treu geblieben waren. Inzwischen war sie arbeitslos.
Michael stand mit einem Fresienstrauß vor ihrer Haustür. Als er klingelte, kam der Sohn herausgeschossen und verkündete: „Die Fete war gestern. Jetzt liegt meine Mutter in der Badewanne“. Angetrunken lief er davon. Michael zog leise die Haustür von außen zu. Er war geschockt und musste sich erst einmal sammeln. Er lief zu seinem Wagen zurück und überlegte. In einer halben Stunde könnte er ja nochmals bei ihr vorbeischauen … Doch die unbestimmte Furcht vor einer Enttäuschung hielt ihn zurück.
Er floh vor sich selbst – und fuhr davon. Zwei Verlierer konnten einander nicht glücklich machen. Trauer überfiel ihn.


Zwei Monate später. Michael saß wieder mit seinem Skizzenblock auf der Empore des „Moulin Rouge“. Toulouse-Lautrec ging ihm durch den Sinn. Dorothee würde er wohl hier nicht mehr begegnen. Sie befand sich in einer Trinkerheilanstalt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Eberhard,

ich finde die Geschichte nicht schlecht, sie ist flüssig und nachvollziehbar erzählt.
Was mich ein wenig stört, ist der „Buckel“. Dies scheint mir ein wenig zu bemüht, um die Verbindung zu „Die Schöne und das Biest“ herzustellen, wobei Michael doch überhaupt nicht als Biest geschildert wird.
Eventuell gibt es noch eine andere, nicht ganz so drastische Form von Behinderung, die Du Deinem Protagonisten auf den Leib schreiben kannst.

Eine spontane Idee hatte ich noch beim Lesen vom „französischen Vater“: Warum nennst Du den Michael nicht Michel? Das würde der Person als Maler etwas mehr Künstlerisches und ein wenig mehr Leichtigkeit verleihen.

Liebe Grüße
Ciconia
 
Dorothee und der Voyeur

Michel hatte gerade eine Scheidung hinter sich. Er fühlte sich schuldig, seine Frau war mit ihm überfordert gewesen. Damit hätte er rechnen müssen.
Beruflich ging es ihm auch nicht gut. Er hatte das Atelier seines französischen Vaters übernommen. Dieser war ein angesehener Kunstmaler. An seinen Porträts und Aktbildern hatte er gut verdient, am erfolgreichsten war er mit seinen großformatigen Plakatmalereien.
Hier war ihm Toulouse-Lautrec ein Vorbild gewesen, von dem einige Kunstdrucke die Wände des Ateliers zierten.
Michel hatte das Talent seines Vaters geerbt, aber nicht dessen Geschäftstüchtigkeit. Mit anderen Worten, er konnte sich gerade so über Wasser halten, und das auch nur, weil er zusätzlich Klavierstunden gab.

Nun saß er in der alten Stadtmühle, einem roten Sandsteinbau – im Stadtjargon auch „Moulin Rouge“ genannt. Hier hoffte er auf andere Gedanken zu kommen. Am Nachbartisch saß ein Herr mittleren Alters. Seine schlanke, wasserstoffblonde Partnerin mochte etwas jünger sein. Die beiden waren schlechter Laune. Michel bekam nur Wortfetzen mit, jedenfalls hatte sie ihr Gegenüber der Einfallslosigkeit bezichtigt.
Michel zückte seinen Skizzenblock und entwarf ein Schnellporträt der beiden.
Wenige Tage später, am gleichen Ort, erlebte er die Frau in bester Verfassung in Begleitung eines jüngeren Mannes. Den neugierigen Zuhörer auf der Empore hatte sie nicht bemerkt. „Das hast Du toll hingekriegt, Olaf, sagte sie und Olaf fühlte sich geschmeichelt. Er wurde immer redseliger, und sie hing förmlich an seinen Lippen. Angeber, dachte Michel, doch ihr schien das zu gefallen.
Ein Straßenmusikant hatte sich in der Nähe des Lokals nieder gelassen und Musettewalzer auf seiner Harmonika intoniert. Eine Stilrichtung, die Michel besonders liebte. Auch der Blondine gefiel die Musik. Sie wippte – wie er - mit dem rechten Fuß auf und ab. Gleichklang der Sinne.
Die Musik war es auch, auf die seine Frau „hereingefallen“ war. Er hatte sie mit seinem Klavierspiel beeindruckt, doch seine Verunstaltung – er hatte einen Buckel – ließ ihre Gefühle allmählich erkalten. Irgendwann konnte sie seinen Anblick nicht mehr ertragen.

Er hatte sich in sein Atelier verkrochen und war doch für weibliche Reize sehr empfänglich geblieben – wie eben jetzt.
Als die beiden Turteltauben das Lokal verließen, blickte er ihnen wie gebannt hinterher.


Michel hatte sich zu einem Computerlehrgang für Fortgeschrittene angemeldet.
Als er den Vortragsraum betrat, war er überrascht, die wasserstoffblonde Dame aus dem Lokal hier anzutreffen. Der Kursleiter wies Michel darauf hin, dass sich „die meisten hier“ schon kennen würden und man inzwischen auf Du und Du sei. Die Runde bestand aus nur zehn Personen. Eine Art Familienbetrieb, dachte Michel. Je zwei Teilnehmer mussten sich einen PC teilen. Der Kursleiter hatte das Los entscheiden lassen. Michel und Dorothee, eine Arbeitsgemeinschaft!
Fast schämte er sich, dass er sie heimlich beobachtet hatte und fast schon zu kennen glaubte. Sie hatte eine sehr angenehme Stimme. Von dieser Frau würde er sich gern verführen lassen, doch er hatte ja gar keine Chancen …

Am Ende der Kursstunde stimmten sie ab, wo der Verein den Rest des Abends verbringen wollte. Man entschied sich für den „Italiener“. Elvira, wohl eine gute Freundin, fragte Dorothee: “Na, was macht Dein schwarzer Scheich?“ Michel stutzte. „Olaf der letzte“ war blond.
Dorothee berichtete von ihrem Scheidungsprozess und vom Ärger mit ihrem halbwüchsigen Sohn. Michel kam aus dem Staunen nicht heraus. Dorothee wirkte keinesfalls Mitleid heischend. „Reden wir von etwas anderem“, schlug sie vor. „Ja, erzähl mal von deiner Frankreichtour“, meinte Elvira. Dorothee kam ins Schwärmen. Gern hätte sie den ganzen Verein auf die nächste Reise mitgenommen.
Als sich die Gesellschaft auflöste, ging Michel noch ein paar Schritte mit Elvira und fragte sie nach Dorothees Job. „Zurzeit verdient sie ihre Brötchen in einem Reisebüro. Im Grunde geht es ihr ziemlich dreckig. Schulden, Männer, Alkohol und so“. Warum berührte ihn das alles so sehr?

Der Verein traf sich beim Griechen, beim Inder usw. Man kam auch immer öfter privat zusammen. Eines Tages überraschte Dorothee damit, dass sie sich selbständig machen und ein eigenes Reisebüro eröffnen wolle. Die Euphorie, mit der sie das Projekt anging, stimmte bedenklich. „Ich werde es euch beweisen“, verkündete sie frohgemut. Zweifellos hatte sie Courage, aber hier war zu befürchten, dass sie Opfer ihrer eigenen Naivität werden würde. Keiner mochte das aber aussprechen.
Beim nächsten Treffen, diesmal bei Dorothee, wirkte sie ziemlich niedergeschlagen, und sie hatte schon eine leichte Fahne, als ihre Besucher eintrafen. „Und ich sage euch, ich schaffe es doch mit meinem Reisebüro!“

Wieder mal Freitag. Kursusabend. Michel war etwas zu früh dran. Er war überrascht, auch Dorothee schon vorzufinden. „Hallo, das trifft sich gut“, sagte sie, hast du morgen Abend schon was vor?“ Michel sah sie erwartungsvoll an. „Ich sitze auf zwei Karten für ‚My Fair Lady’, weil Olaf auf und davon ist“. „Und da hast du mich als Stellvertreter ausersehen?“ „Das siehst Du völlig richtig“. Weitere Kursteilnehmer erschienen und beendeten das Privatgespräch.

Dorothee, mit sich allein, wunderte sich selbst über ihren Einfall, ausgerechnet den buckligen Michel eingeladen zu haben. Es waren wohl die Enttäuschungen mit all den „normalen“ Kerlen gewesen. Andererseits war sie sicher, dass sich Michel keine Illusionen mehr machte. Sie würde ihm jedenfalls einen unvergesslichen Abend bereiten.

Die Musical-Veranstaltung war ein voller Erfolg. Frohgelaunt zurückgekehrt, wollte Michel Dorothee vor ihrer Haustür absetzen, doch sie zögerte und griff nach seiner Hand. „Kommst du noch auf einen Sprung mit rein?“
„Willst du mir noch deine Briefmarkensammlung zeigen?“
„Trottel“, sagte sie belustigt.
Dann ging alles ganz schnell. Dorothee verschwand kurz in ein Nebenzimmer. Nun stand sie unverhüllt vor ihm. Michel entledigte sich ebenfalls seiner Klamotten. Dann fielen sie übereinander her wie die Wilden. Dorothee löschte das Licht. Seinen Buckel musste sie nicht unbedingt sehen.
Wie lange hatte er keine Frau mehr gehabt!!

Und wieder einmal hatte Dorothee eingeladen – die wenigen, die ihr treu geblieben waren. Inzwischen war sie arbeitslos.
Michel stand mit einem Fresienstrauß vor ihrer Haustür. Als er klingelte, kam der Sohn herausgeschossen und verkündete: „Die Fete war gestern. Jetzt liegt meine Mutter in der Badewanne“. Angetrunken lief er davon. Michel zog leise die Haustür von außen zu. Er war geschockt und musste sich erst einmal sammeln. Er lief zu seinem Wagen zurück und überlegte. In einer halben Stunde könnte er ja nochmals bei ihr vorbeischauen … Doch die unbestimmte Furcht vor einer Enttäuschung hielt ihn zurück.
Er floh vor sich selbst – und fuhr davon. Zwei Verlierer konnten einander nicht glücklich machen. Trauer überfiel ihn.


Zwei Monate später. Michel saß wieder mit seinem Skizzenblock auf der Empore des „Moulin Rouge“. Toulouse-Lautrec ging ihm durch den Sinn. Dorothee würde er wohl hier nicht mehr begegnen. Sie befand sich in einer Trinkerheilanstalt.
 
Hallo Ciconia!

Danke für Deine berechtigten Einwände. "Die Schöne und das Biest" habe ich entfernt, auch der Michael ist umbenannt. Aber den Buckel werde ich nicht ersetzen. Toulouse-Lautrec hatte auch eine sehr schwere Behinderung.
LG Eberhard
 



 
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