Dreiundzwanzigstes Märchen: Von der Bibliothek der Feen

VikSo

Mitglied
Dreiundzwanzigstes Märchen: Von der Bibliothek der Feen

Eine Viertelstunde nachdem Maria eine Nachricht geschrieben hatte, hämmerte es an der Tür. Da Maria den Kelpie nicht aus den Augen ließ war es an Kai, zu öffnen.
Im nächsten Moment sah er sich einem Paar riesiger Muskelpakete in schwarzen Hosen und schwarzen Lederjacken gegenüber. Einer von ihnen trug einen Zopf und darüber ein rotes Bandana. Das Hosenbein des anderen zierte ein roter Farn. Zwischen diesen beiden Gestalten, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Türstehern hatten, wirkte Viola winzig und zerbrechlich.
„Hier steckst du also.“, begrüßte sie Kai streng. Ihre Stirn trug zwei tiefe missbilligende Falten. „Wo ist er?“
Kai wies mit dem Daumen hinter sich und machte dann Platz, um die drei eintreten zu lassen. Viola kam zuerst. Erst nachdem sie einen Blick auf die Situation im Inneren, die grimmig wachende Hexe und den gebundenen Kelpie geworfen hatte, befahl sie den Türstehern mit knappen, aber entschlossen Gesten, näher zu kommen. Die beiden gehorchten wie abgerichtete Hunde.
So viel zu „klein und zerbrechlich“.
Durch die Neuankömmlinge aufgeschreckt, reckte der Kelpie den Kopf. Während die Türsteher ihn links und rechts unter den knochigen Armen packten, begutachtete er Viola, als versuche er, angestrengt etwas heraus zu finden. Endlich krächzte er, wackelig auf zwei Beinen stehend: „Du bist das also. Königin der Elfen. Du bist das kleine Mädchen, in das deine Leute so große Hoffnungen stecken.“
„Es freut mich“, entgegnete Viola, die Beleidigung geflissentlich überhörend. „Es freut mich, wenn ich meinem Volk Hoffnung schenke.“
„Nur kannst du diese auch erfüllen?“ Das Ungeheuer blinzelte listig. „Hast du das Zeug, bis zum Äußersten zu gehen? Weißt du, dass du dich auf einen Krieg einlässt? Kriege fordern Blut.“
„Ich bin bereit, meines zu geben.“, antwortete Viola. Vollkommen sachlich.
Der Kelpie lachte heiser. „Wenn es nur um dein Leben ginge, wäre es einfach.“ Dann, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen: „Werde ich in deinem Kerker sterben?“
Viola schaute ihm geradewegs in die trüben Augen. „Nicht, so lange ich in meinem Reich zu befehlen habe.“
Der Kelpie starrte zurück, als prüfe er den Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Endlich stieß er beruhigt die Luft aus und erklärte: „Gehen wir also.“
Maria gab den Türstehern jeweils einen Zettel in die Hand. Die festigten ihren Griff um die Arme der alten Frau und führten sie davon – durch die Tür zur Besenkammer. Als sie diese durchschritten, blitzte es kurz auf wie bei einem Wetterleuchten. Dann waren sie verschwunden.
Erst in diesem Moment entspannte sich auch Maria. Schnaufend drückte sie sich den Handballen gegen die Stirn. „Danke.“, hauchte sie in Violas Richtung.
Diese nickte. „Ich würde dir gerne noch beim Aufräumen helfen. Allerdings müssen wir uns beeilen. Eine Nachricht von den Kvins der Feen ist bereits vor einer Stunde eingetroffen. Kai war nicht da.“ Das letzte fügte sie mit einem strafenden Seitenblick auf den jungen Mann hinzu.
Entrüstet wollte der zu einer Verteidigung ansetzen, als Maria dazwischenfuhr: „Kai hat mir geholfen. Ohne ihn hätte ich das Biest nicht aus seinem Versteck locken und lange genug ablenken können.“
„Du hast Kai als Lockvogel eingesetzt? Der Kelpie hat also versucht, ihn zu verführen?“ Eine von Violas Augenbrauen schnellte nach oben. Ihre Mimik wackelte für einen Moment, als wisse sie nicht, ob sie diese Idee tadelnswert oder belustigend finden sollte. Kai war Maria sehr dankbar, dass sie nicht auf die Gestalt einging, in welcher der Kelpie ihn in die Falle zu locken versucht (und es fast geschafft) hatte.
„Nun, wie dem auch sei, wir sollten uns jetzt sputen. Georgie ist bereits dort; er hat sich schon heute Morgen mit den Vertretern der Feen und der Kobolde getroffen. Unsere Einladung habe ich bei mir. Maria, kommst du mit oder willst du erst…“
„Ich bin in einer Sekunde fertig.“, erklärte die Hexe. Dann erhob sie sich und ging zu einer Stelle im Raum, wo ein Läufer von der Wasserlache überschwemmt worden war. Mit einem Ächzen zog sie den vollgesogenen Teppich beiseite. Sie starrte für ein paar Sekunden konzentriert auf dem Boden. Neugierig trat Kai näher. Im gleichen Moment beugte sich Maria nach vorn und griff nach einer Art Eisenkette. Entschlossen zog sie daran und eins – zwei – drei…hielt sie einen überdimensionalen Stöpsel in der Hand. Sofort erhob sich ein gurgelndes Geräusch, das den ganzen Raum ausfüllt. Kai fühlte das kalte Wasser um seine Knöchel strömen. Binnen weniger Minuten lief alles durch ein etwa zwei Meter große Loch. Als alles trocken war, verschloss Maria es zufrieden und strich ein paar Mal mit der Hand darüber. Kai blinzelte. Von Stöpsel und Eisenkette war nichts mehr zu sehen. Der Boden war unversehrt wie vorher. Niemand hätte mehr sagen können, dass der Laden eben noch komplett unter Wasser gestanden hatte. Auch Marias Kleidung war auf wundersame Weise getrocknet. Nur zwei einsame Teebeutel lagen einen Meter vor dem Verkaufstresen.
„Bitte.“, erklärte Maria lächelnd. „Jetzt zieht ihr beide euch trockene Socken an und dann geht es los.“
Fünf Minuten später standen sie alle Händchen haltend vor der Besenkammer. Viola hatte Kai diesmal den Brief gegeben. „Du bist die Hauptperson.“, hatte sie gesagt. Also hielt er nun links und rechts die Hand je einer der beiden Frauen fest umklammert, aus Angst, sie irgendwo zwischen zwei magischen Dimensionen zu verlieren.
„Eins.“, zählte er. „Zwei. Drei.“ Auf drei machte er einen großen Schritt vorwärts. Seine Begleiterinnen zog er unsanft mit sich, wobei Maria stolperte. So fielen sie eher als dass sie durch die Tür traten und kamen laut polternd auf der anderen Seite an.
Diesmal war der Tunnel, den sie durchschritten, wesentlich kürzer. Der Boden unter ihnen knarzte, was auf Holz hinwies. Es roch nach Kreide, Reinigungsmittel und alten Käsebroten. Als sie den Tunnel verließen, traten sie in ein Zimmer voll von dämmrigem Nachmittagslicht. Es fiel durch bodentiefe Fenster herein und beleuchtete zwölf niedrige Tische mit je zwei Haken für Rucksäcke, vierundzwanzig dazu passende Stühle, ein Pult, eine Tafel und einen Kartenständer. Hinter einem der Tische saßen die Kvins Finn und Fino über jeweils einem karierten Heft, die Füller in der Hand. Einer von beiden hatte auf unkönigliche Art und Weise die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt, während er eine offenbar hoch komplexe Aufgabe löste. Beim Eintreten der drei schaute er hoch.
„Herr Buntschuh, er ist jetzt da.“
Herr Buntschuh, ein schlanker Herr mit Sakko und beginnender Glatze, hatte hinter dem Lehrertisch gesessen, einen Stapel Papier vor sich und einen Rotstift zur Hand. Jetzt stand er auf, um zuerst die Damen und dann Kai mit einem quetschenden Händedruck zu begrüßen. Kai ertappte sich dabei, wie er spontan seine Kenntnisse des Kleinen Einmaleins überprüfte.
„Sie sind spät.“, tadelte Herr Buntschuh in dem gleichen Ton, in dem er dies wohl auch zu einem Schüler gesagt hätte.
„Wir mussten vorher ein drängendes Problem erledigen. Ich entschuldige mich.“, verkündete Viola souverän.
„Das ist in Ordnung.“, meinte einer der Zwillinge freundlich. „Wir haben in der Zwischenzeit die Hausaufgaben erledigt.“ Da sie dies nun offenbar für beendet hielten, klappten die beiden die Hefte zu, ließen sie eilig in ihrem Rucksack verschwinden und sprangen auf.
„Die Stühle.“, rief Herr Buntschuh sie zur Ordnung. Artig kehrten die Jungen zu ihrem Platz zurück und stellten auch die Stühle noch hoch. Dann reichten auch sie den Neuankömmlingen die Hand.
„Wir sollten euch vorstellen.“, meinte der Zwilling links von Kai. „Herr Buntschuh ist unser oberster Berater und durch unsere Eltern als Vormund eingesetzt, bis wir volljährig sind. Er ist auch Direktor unserer Schule. Wir entsenden ihn als Beauftragten der Feen, dir zur Seite zu stehen.“ Buntschuh nickte nochmals. Kai stellte sich vor, wie es sich anfühlte, einen Schüler zu unterrichten, der gleichzeitig sein König war.
„Herrn Georgie kennt ihr ja schon.“, fuhr nun der andere Zwilling fort. Wirklich, als Kai sich umdrehte, erblickte er an einem der anderen Tische den Zwerg, im Mund eine Pfeife, die er mit Rücksicht auf die Örtlichkeit nicht angezündet hatte. Der Stuhl hatte genau die richtige Höhe für ihn.
Vor ihm auf der Tischkante hockte ein Mädchen, älter als die Zwillinge, 16, vielleicht 17. Ihre Haare leuchteten in verschiedenen Grüntönen; sie trug eine Jeans mit ausgefransten Löchern und einen smaragdfarbenen Kapuzenpulli. In ihrem rechten Nasenloch steckte ein Piercing; ihre Augenlider waren dick mit einem giftigen Grün bestrichen. Unbeeindruckt von allem tippte sie auf ihr Smartphone ein, das leise eine Tetris-Melodie spielte.
„Melanie.“, stellte sie sich vor, ohne vom Display aufzublicken. Kai schoss das Blut in die Wangen, als Maria ihm den Ellenbogen in die Seite stieß. Er hatte das Mädchen mit offenem Mund angestarrt.
„Melanie ist eine Koboldin.“, erläuterte Fino (oder Finn) überflüssiger Weise. An die anderen gewandt schloss er die Vorstellungsrunde ab: „Und das hier sind Kai der Erzähler, Viola, die Königin der Elfen und Maria, eine Freundin der beiden.“ Dabei nannte er den Namen der Hexe genau so freundlich wie die der anderen. Kai rechnete das dem Jungen hoch an.
„Nun, da die Herrschaften eingetroffen sind, denke ich, fangen wir an. Kvins Finn und Fino, ihr solltet euch beeilen. Euer Klavierunterricht beginnt bald.“, verkündete Herr Buntschuh. Kai stellte sich seinen Unterricht sehr effizient vor.
Gehorsam verabschiedeten sich die Zwillinge und trotteten zur Tür des verlassenen Schulhauses hinaus. Kais Blick folgte ihnen nachdenklich.
„Finn ist zwei Zentimeter größer als Fino. Und er hat einen Leberfleck auf der rechten Wange.“, flüsterte Viola ihm zu. Kai zuckte zusammen. Sie blinzelte belustigt.
„Sind Sie dann soweit, Herr Grimm?“ Herr Buntschuh klang ungeduldig. Auch Georgie hatte sich erwartungsvoll erhoben. Selbst Melanie sah von ihrem Handy auf. Bei näherem Hinsehen leuchtete ihre Iris wie Frühlingsgras. Ehrlich und abenteuerlustig blickten sie ihm entgegen.
„Ja.“, stotterte Kai. „Ja, natürlich. Wo ist die Bibliothek?“
„Hier entlang bitte. Gleich gegenüber dem Klassenzimmer. Wir haben sie als Schulbibliothek getarnt. Natürlich ist sie das auch. Aber eben nicht ausschließlich. Selbstverständlich trage ich persönlich die Verantwortung für die Schulbibliothek.“
„Selbstverständlich.“, stimmte Kai zu. Melanie grunzte, als müsse sie ein Lachen unterdrücken.
Jetzt ist zumindest klar, warum sie sich erst so spät melden. Bis zum Nachmittag muss das Haus voll von Schülern gewesen sein.
Herr Buntschuh führte sie zu einer Tür auf der anderen Seite des Korridors. Mit einem von zehn Schlüsseln an seinem Bund öffnete er sie. Dahinter öffnete sich ein Raum von bescheidener – sehr bescheidener – Größe.
„Ah.“, machte Kai enttäuscht.
In einer halben Stunde dürften wir fertig sein. Kaffeepause eingerechnet.
„Also, ich würde vorschlagen, wir teilen uns auf.“, meinte er zögerlich. „Herr Georgie und Herr Buntschuh, Sie übernehmen alle historischen Bücher. Chroniken und so weiter. Die gibt es hier doch?“
Herrn Buntschuhs erhabenes Nicken bestätigte Kais zweifelnde Nachfrage.
„Gut. Dann suchen Viola und ich nach fiktionalen Werken. Märchenbücher und dergleichen. Melanie und Maria durchstöbern den Rest. Der Text, den wir suchen, muss unbekannt sein, denn wenn er irgendwann einmal gelesen worden wäre, hätte sich euer Problem ja schon erledigt, nicht wahr?“ Er schaute erwartungsvoll in die Runde, erhielt aber keine Antwort. „Gut“, meinte er schließlich nervös. „Dann los geht’s.“
Auf dieses Kommando hin zerstreute sich die Gruppe. Zufrieden beobachtete Kai, wie sie sich nach seinen Anweisungen aufteilten. Die beiden Männer verschwanden hinter dem letzten von vier Regalen. Maria und Melanie begannen beim ersten und arbeiteten in schweigendem Einvernehmen nebeneinander her.
„Also, dann wollen wir mal.“ Immer noch zweifelnd wandte sich Kai dem dritten Bücherregal zu. Müßig studierte er die Buchrücken. Offenbar war er in der Abteilung für Mädchenbücher gelandet. Nahezu jeder zweite Titel enthielt das Wort „Pferd“. Gegenüber befanden sich die Jungs-Exemplare mit Fußbällen und verwegen winkenden Piraten.
Viola runzelte die Stirn. „Ich glaube kaum, dass wir hier fündig werden.“, flüsterte sie.
Kai stimmte ihr zu. „Lass und beim nächsten weitermachen.“ Damit wollte er eine Reihe weitergehen. Maria hielt ihn zurück.
„Wo willst du hin?“, fragte sie erstaunt.
„Ich dachte…“, entgegnete Kai nicht minder verwundert.
„Hier entlang.“ Damit wandte sich Viola in die Gegenrichtung – zur Wand hin. Kai wollte widersprechen. Die Erfahrung hatte ihn jedoch mittlerweile gelehrt, dass seine elfische Freundin wusste, was sie tat. Er folgte ihr also, bis sie direkt an der Wand standen.
„Dachte ich’s mir.“, meinte sie zufrieden. „Siehst du hier?“ Sie deutete auf einen Spalt zwischen dem Regal und der Mauer, gerade breit genug, um eine Hand hinein zu schieben. Kai stutzte. Bei genauerem Hinsehen glänzte der Schatten in diesem Spalt wie Samt.
„Was ist das?“
„Sieh mir zu und dann folge mir.“
Bevor Kai etwas erwidern konnte, hatte die Elfe ihre schmale Hand in den Spalt gesteckt. Langsam schob sie sie immer tiefer hinein. Ihr halber Arm steckte schon darin, als Kai auffiel, dass er das eigentlich gar nicht dürfte. Verwirrt betrachtete er die Lücke neben dem Regal. Unmöglich, sie war nicht breiter als drei, vier Zentimeter. Dennoch schob Viola nun mühelos nicht nur ihren Arm, sondern auch ihre linke Schulter hinterher. Der Spalt passte sich ihr an, ohne dass er sichtbar breiter wurde. Doch ehe Kai dazu eine Frage stellen konnte, war die junge Königin ganz und gar verschwunden.
„Jetzt bist du dran. Komm schon!“, schallte ihre Stimme aus dem Schatten zu ihm.
Also schön.
Vorsichtig hielt Kai einen Finger in den Spalt hinein. Die Luft da fühlte sich nicht anders an als sonst im Raum. Etwas mutiger ließ Kai seine Hand folgen.
„Eins. Zwei. Und…“, zählte Kai, wieder einmal. Bei „drei“ drückte er mit einem Ruck seinen ganzen linken Arm hinterher. Er stieß auf keinerlei Widerstand. Verblüfft starrte er auf die Stelle, wo ein Teil von ihm scheinbar in der Wand steckte. Dann zuckte er zusammen, als etwas Warmes seine Hand berührte.
„Ich bin es nur.“ Viola drückte beruhigend seine Finger. „Komm rüber. Ich halte dich fest.“
Erleichtert und auch wenig von dem Gedanken getrieben, nicht als Feigling dastehen zu wollen, kroch Kai vollends durch das Loch, um auf der anderen Seite in Violas Arme zu stolpern. Nach einem peinlich berührten Räuspern blickte er sich um.
Seine Kinnlade klappte herunter.
Also, DAS ist eine Bibliothek.
Das war die Bibliothek der Feen. Zu seiner Linken, zu seiner Rechten, vor und hinter ihm, einfach überall erstreckten sich Reihen und Reihen von Büchern. Das andere Ende der Regale war so weit entfernt, dass Kai es mit bloßem Auge nicht erkennen konnte. In die Höhe erhoben sie sich so weit, dass nicht nur Georgie eine Leiter brauchen würde, um die obersten Bücher zu erreichen. Die Luft war durchdrungen von einem Duft aus staubigem Papier und Kaffee.
„Unglaublich.“, flüsterte Kai abwesend. „Wie haben sie die alle hier rein bekommen?“
Er sah zurück auf die Stelle, von der er gerade gekommen war. Von hier aus wirkte es, als sei er lediglich um die Ecke gegangen. Im Kreis drehend sah er, dass er sich im Zentrum eines riesigen Saales befand, von der aus, die Regale sternförmig auseinandergingen.
„Und das war die ganze Zeit über da? Niemand findet es? Keiner verirrt sich aus Versehen hierher?“
Viola nickte.
„Das ist genial.“ Kais Stimme bebte vor Bewunderung. Der Physiker in ihm formulierte schon die Einleitung für eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel „Dimensionsbrücken“. Im nächsten Moment holte ihn ein anderer Gedanke auf den Boden der Tatsachen zurück. „Viola, wie sollen wir hier je fertig werden?“
„Arbeiten wir uns systematisch vor.“ Damit ging Viola wahllos auf eines der Regal zu und begann, mit der Fingerspitze die Buchrücken entlang zu fahren.
Kai seufzte. Dann stellte er sich ihr gegenüber auf und folgte ihrem Beispiel.
Nach fast einer Stunde – Kai war bei der zwölfbändigen „Enzyklopädie der antiken feeischen Schriftzeichen“ angekommen – brummte sein Kopf und sein Rücken war ein einziger Schmerz, denn alle interessanten Werke schienen ganz unten zu stehen.
Stöhnend drückte der das Kreuz durch. „Irgendetwas gefunden?“, fragte er Viola. Die verneinte.
Schweigend und ernüchtert setzte er seine Suche für eine Weile fort, bis Viola ein „Oh!“ von sich gab. Kai blickte hoffnungsvoll auf. Viola hielt einen Ordner hoch, der das Aussehen einer amtlichen Akte hatte.
„Was ist das?“, fragte er.
„Eine Reihe erledigter Gerichtsakten, wie es aussieht.“, murmelte Viola. „Dem Datum nach aus den letzten zwei Jahrzehnten.“
Enttäuscht ließ Kai die Schultern hängen.
„Und inwiefern nützt uns das?“
„Bei unserer Aufgabe? Gar nicht. Ich fand es nur interessant, weil…“
„Weil?“
„Weil es den Zeitraum betrifft, in dem… Hier!“
Sie reichte Kai den aufgeschlagenen Hefter. Es handelte sich wohl um das Protokoll einer Gerichtsverhandlung, deren Angeklagter ein B.K. gewesen war. Das Datum zeigte den 4. Juli, zehn Jahre in der Vergangenheit.
„Und?“, fragte Kai, dem das Besondere immer noch nicht aufging. „Was ist so besonders an Herrn oder Frau B.K.?“
„Seine Verhandlung war eine der aufsehenerregendsten in den letzten Jahren. Eine Jury mit Mitgliedern aus allen vier magischen Völkern urteilte damals über ihn.“
„Aus welchem Grund? Hat er jemanden umgebracht?“
„B.K.“, erklärte Viola mit gesenkter Stimme, „ist der einzige, der weiß, was mit Finns und Finos Eltern geschehen ist. Allerdings bezweifle ich, dass er sie umgebracht hat. Nein. Dahinter dürfte etwas weit Schlimmeres stecken.“
Und damit ließ sie sich auf dem Boden nieder und begann zu lesen.
 



 
Oben Unten