ER

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para_dalis

Mitglied
ER

.

"Es ist Zeit zu gehen"

sie verstand nicht.
was sie auch tat, womit sie auch versuchte ihn aufzumuntern, es sagte immer wieder diesen satz.
wohin wollte er gehen?
sie hatten nicht gestritten. sie stritten nie.
sie führten eine harmonische beziehung.
anfangs zogen sie in eine kleine wohnung unmittelbar neben Senefelder. die wohnung war winzig, doch das störte sie nicht. liebevolle kleinigkeiten machten die wohnung zu einem ort des wohlfühlens. die farbigen stühle beispielsweise. sie wollte ein warmes rot, er ein kühles blau.
also erhielten die stühle beide farben.

vieles taten sie gemeinsam.
manchmal gingen sie nachts noch hinaus.
schatten umgaben sie, nicht nur der des alten Alois.
"in der nacht sieht man menschen anders laufen"
sagte er dann und passte sich ihren schritten an.
"ganz schön schwer"
antwortete sie, wenn sie es ebenfalls versuchte, denn tat er mit seinen langen gliedern einen schritt, musste sie zwei nebenher trippeln. manchmal ließ sie ihn vorweg gehen und blieb einfach zurück. er bemerkte es immer.
und wartete auf sie.
ein anderes mal machte er ihr angst, in dem er vom schattenmann erzählte.
"hüte dich vor den rosenbeeten, hinter denen lauert er auf dich..."
sie glaubte natürlich nicht an diese dinge.
und dennoch. unwillkürlich begann sie zu flüstern.
dann wurden die gestalten des nahe gelegenen märchenbrunnens lebendig.
sie flüsterte mit rotkäppchen, tanzte in aschenputtels schuhen und küsste kichernd den froschkönig.
später, in ihrer winzigen wohnung weit über der stadt, war er ihr prinz und sie seine prinzessin.
sie liebten sich. und hörten ihr flüstern.


irgendwann tauschten sie die winzige wohnung gegen eine geräumigere ein. die nun vorherrschenden farben waren weiß und schwarz.
er trug elegante uhren und gelackte schuhe. das hämmern seiner alten schreibmaschine verschwand. stattdessen hörte sie ein leises, konstantes brummen und die satten geräusche seiner finger auf der weichen tastatur. und er kaufte einen teuren, königsblauen federhalter, der demonstrativ die wertvolle kommode zierte.
vieles hatte sich geändert. er entfernte sich von ihr. er wurde ihr fremd.
und sie verstand es nicht.


der kreis schloss sich, als sie das schreiben erblickte, das er wohl versehentlich auf der marmornen fensterbank zurück gelassen hatte.


"Es ist Zeit zu gehen."


.
.
.


Absender:
Städtisches Krankenhaus.
.
 

Ruedemann

Mitglied
Es ist Zeit, zu gehen - Antwort

Hallo, para_dalis ER ,
auf den ersten Blick dachte ich , ein Gedicht zu lesen. Die Form suggerierte es.
Ich meine schon, die Geschichte kann aus dem Leben kommen. Noch authentischer hätte ich sie empfunden, wenn zu "ihr" mehr gesagt worden wäre. "Er" hat sich verändert, ist "was Besseres " geworden, sie anscheinend nicht.
"sie verstand nicht. was sie auch tat, womit sie auch versuchte ihn aufzumuntern, es sagte immer wieder diesen satz."
Ich verstand auch nicht . Sie versuchte"IHN" aufzumuntern, aber "ES" sagte immer wieder diesen Satz. Wer oder was ist "es"?
Satte Geräusche auf der weichen Tastatur machen meine Finger auch nicht.
War "er" krank ? War es Zeit, ins Krankenhaus zu gehen? Ging er aus dem Leben? Hier finde ich keinen richtigen Zusammenhang. Aber Kurzgeschichten sollen ja ein offenes Ende haben. Meintest du es so?
Liebe Grüße Ruedemann
 

para_dalis

Mitglied
Hallo Ruedemann,

danke für deine Reaktion und die Hinweise.

"ES" ist ein Tippfehler, sorry.
Ich meinte natürlich ER und werde es korrigieren.

das mit den "satten Geräuschen" ist so eine Sache. Ich schreibe manchmal auf einer üblichen Tastatur und dann wieder auf meinem laptop. Es gibt schon Unterschiede im Klang!! Wie könnte ich es besser ausdrücken?

Hm.
Das ER nichts zu ihr sagt, liegt wohl daran, dass ich nur die Gedanken von IHR das Empfinden der Veränderung darlegen wollte.
Und der offene Schluss... ich liebe diese Interpretationsmöglichkeiten, die Gedanken, die sich der Leser machen kann.
"Warum erhielt er diesen Brief?"
"Warum ließ er ihn auf der Fensterbank?"
"Warum konnte er nicht mit ihr darüber sprechen?"
usw.

Jedenfalls bin ich offen für weitere Anregungen! Danke!

Lieben Gruß
Heike
;-)
 

para_dalis

Mitglied
ER (korrigiert)

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"Es ist Zeit zu gehen"

sie verstand nicht.
was sie auch tat, womit sie auch versuchte ihn aufzumuntern, er sagte immer wieder diesen satz.
wohin wollte er gehen? sie hatten nicht gestritten. sie stritten nie. sie führten eine harmonische beziehung.
anfangs zogen sie in eine kleine wohnung unmittelbar neben senefelder. die wohnung war winzig, doch das störte sie nicht. liebevolle kleinigkeiten machten die wohnung zu einem ort des wohlfühlens. die farbigen stühle beispielsweise. sie wollte ein warmes rot, er ein kühles blau. also erhielten die stühle beide farben.
vieles taten sie gemeinsam. manchmal gingen sie nachts noch hinaus. schatten umgaben sie, nicht nur der des alten alois.
"in der nacht sieht man menschen anders laufen" sagte er dann und passte sich ihren schritten an.
"ganz schön schwer" antwortete sie, wenn sie es ebenfalls versuchte, denn tat er mit seinen langen gliedern einen schritt, musste sie zwei nebenher trippeln. manchmal ließ sie ihn vorweg gehen und blieb einfach zurück. er bemerkte es immer. und wartete auf sie. ein anderes mal machte er ihr angst, in dem er vom schattenmann erzählte.
"hüte dich vor den rosenbeeten, hinter denen lauert er auf dich..."
sie glaubte natürlich nicht an diese dinge. und dennoch. unwillkürlich begann sie zu flüstern. dann wurden die gestalten des nahe gelegenen märchenbrunnens lebendig. sie flüsterte mit rotkäppchen, tanzte in aschenputtels schuhen und küsste kichernd den froschkönig. später, in ihrer winzigen wohnung weit über der stadt, war er ihr prinz und sie seine prinzessin. sie liebten sich. und hörten ihr flüstern.
irgendwann tauschten sie die winzige wohnung gegen eine geräumigere ein. die nun vorherrschenden farben waren weiß und schwarz. er trug elegante uhren und gelackte schuhe. das hämmern seiner alten schreibmaschine verschwand. stattdessen hörte sie ein leises, konstantes brummen und die satten geräusche seiner finger auf der weichen zastatur. und er kaufte einen teuren, königsblauen federhalter, der demonstrativ die wertvolle kommode zierte.
vieles hatte sich geändert. er entfernte sich von ihr. er wurde ihr fremd. und sie verstand es nicht. der kreis schloss sich, als sie das schreiben erblickte, das er wohl versehentlich auf der marmornen fensterbank zurück gelassen hatte.
"Es ist Zeit zu gehen."
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Absender:
Städtisches Krankenhaus.
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Rainer

Mitglied
Hallo para_dalis,

einer der besten texte die ich bisher von dir las.
Ein paar gedanken die mir beim lesen und späteren nachdenken über das gelesene kamen:
Die männliche psyche ist sehr schön herausgearbeitet: er, der keine angst kannte, der sich über die angst anderer lustig machte (allerdings ohne es zu übertreiben), konnte es nicht fassen, dass mit seiner "maschine" körper etwas nicht mehr stimmt. Diese sehr männliche sichtweise auf den eigenen körper findet man oft, wenn etwas "kaputt geht" wird es erst verschwiegen bzw. ignoriert, und zu guter letzt wird nahezu manisch versucht, es wieder in ordnung zu bringen.
Das alles hast du in eine wirklich kurze geschichte so geschickt verpackt, dass mir nichts zum herumnölen einfällt - ich habe NICHTS zu meckern lautet dann auch die bewertung.


Viele grüße

rainer
 



 
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